Feichtinger, Johannes; Brigitte, Mazohl (Hrsg.): Die Österreichische Akademie der Wissenschaften 1847–2022. Eine neue Akademiegeschichte. Wien 2022 : Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, ISBN 978-3-7001-9051-6 1.845 S., 3 Bde., zahlr. Abb. € 99,00

: Umkämpfte Identitäten. Die Göttinger Akademie der Wissenschaften und ihre Mitglieder 1914–1965. Göttingen 2022 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-3979-8 622 S., 12 Abb. € 49,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Berg, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München

Akademiegeschichten sind umfangreich – das hat seit Adolf von Harnack Tradition, welcher der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu ihrem 200. Gründungsjubiläum im Jahr 1900 mit einer vierbändigen Geschichte gratulierte. Nun liegen zwei wiederum gewichtige Studien zur Geschichte von Wissenschaftsakademien vor, welche jedoch in ihrer Anlage nicht verschiedener sein könnten: Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) widmet sich anlässlich ihres 175-jährigen Bestehens in drei Bänden der Gesamtgeschichte ihrer Institution, deren „staatstragende“ Bedeutung ein Grußwort des österreichischen Bundespräsidenten unmissverständlich belegt. Hingegen legt Désirée Schauz eine auf den Zeitraum zwischen Erstem Weltkrieg und Bundesrepublik beschränkte Studie zur bereits 1751 gegründeten Göttinger Akademie der Wissenschaften (bis 1942: Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen) vor, welche ihre thematische Konzentration auf die Akademiemitglieder und ihre „Identitäten“ bereits im Titel führt.1

Wie ist zwei derart umfangreichen, einerseits thematisch verwandten und andererseits sehr unterschiedlich konzipierten Darstellungen gerecht zu werden? Tatsächlich offerieren Wissenschaftsakademien – zugleich Gelehrtengemeinschaften und außeruniversitäre Forschungsinstitutionen – eine Reihe unterschiedlich ausgerichteter „Zugänge“ zu ihrer Geschichte: institutionsgeschichtlich oder wissenschaftshistorisch, vor allem an den Lebens- und Sinnwelten ihrer Mitglieder orientiert, mit einem besonderen Blick auf das Verhältnis zur Öffentlichkeit oder auch – angesichts zahlreicher „überseeischer“ Forschungsvorhaben – aus globalgeschichtlicher (oder postkolonialer) Perspektive. Schließlich, dies hob die Akademien von den Universitäten ab, prägte diese ein Spannungsverhältnis zwischen grundsätzlich national ausgerichteten Institutionen und der gleichzeitigen Teilhabe an einer teils gelebten, teils imaginierten „internationalen Gelehrtenrepublik“.2

Nüchtern benennt das Titelblatt den Gegenstand der Wiener Akademiegeschichte; das kleine Wort „neu“ verweist darauf, dass man eine bestehende akademiehistorische Deutung zu überschreiben gedenkt – anlässlich des 100. Gründungsjubiläums im Jahr 1947 war die letzte Gesamtdarstellung zur Geschichte der ÖAW „vor dem Hintergrund einer unrühmlichen NS-Vergangenheit“ (Bd. 1, S. 18) erschienen. Die nun vorgelegte Darstellung ist einem überwiegend chronologischen Schema verpflichtet: In sechs Hauptkapiteln folgt sie der Entwicklung der Akademie von ihrer Gründung bis in das 21. Jahrhundert. Daran schließen sich drei „Fallbeispiele“ an (Umweltforschung, Frauengeschichte und Standorte), welche zeitübergreifend ihre Themen explorieren; schließlich folgt eine mehr als zweihundertseitige „Dokumentation“, welche unter anderem ausgewählte Quellen, die Forschungseinrichtungen der ÖAW, ihre Präsidien und Mitglieder sowie eine Chronologie enthält. Jeder Band ist jeweils mit einem Verzeichnis von Literatur, Personen, Sachen und Abbildungen ausgestattet – als besonders glücklich erweist sich diese Lösung nicht, da vielfach die Einträge in allen drei Bandregistern geprüft werden müssen; ein jeweils gedrucktes Gesamtverzeichnis wäre die bessere Lösung gewesen.

An Informationen mangelt es jedenfalls nicht, zumal eine zweiseitige Bibliographie der rechtlichen Grundlagen der Akademietätigkeit beigefügt ist. Deren Bezeichnungen allein lassen den Wandel von einer kaiserlichen Akademie zur modernen Forschungseinrichtung plastisch hervortreten: Was zunächst in einem Akademiegesetz beziehungsweise in Statuten und Satzungen geregelt wurde, ist seit etwa einem Jahrzehnt in Entwicklungsplänen und Leistungsvereinbarungen enthalten – nostalgisch, das kann festgehalten werden, ist diese Akademiegeschichte gewiss nicht (dazu tragen auch graphisch abgehobene „Fakten-Boxen“ bei, in welchen man weitere Informationen finden kann). Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Rezension auf alle einzelnen Schritte der Entwicklung der ÖAW einzugehen, deshalb sei sich vor allem auf die Besonderheiten konzentriert. Im Jahr nach ihrer Gründung sah sich die Wiener Akademie im Frühjahr 1848 mit dem Ausbruch einer ganz Europa erfassenden Revolution konfrontiert, welche die junge Institution herausforderte. In einem informativen Kapitel widmet sich die Studie diesen in der jüngeren Akademiegeschichte bislang kaum berücksichtigten Ereignissen, in denen die politisierte Öffentlichkeit – etwa in der Zensur-Frage – rasch auch die Akademie in den Blick nahm. Für diese bot der (letztlich gescheiterte) Umsturz nicht zuletzt Anlass für Reformbestrebungen, deren umfassendste mit dem Versuch der „Angliederung von Forschungsinstitutionen […] durch die Übernahme der kaiserlichen Sammlungen“ (Bd. 1, S. 131) zwar scheiterte, jedoch die Zielrichtung der vorerst auf die Aufgaben einer Gelehrtengemeinschaft beschränkten Institution offenbarte.

Auf Gründung und Herausforderung durch die Revolution folgte der „Aufbruch“, dargestellt auf mehr als 300 Seiten im längsten Hauptkapitel der Studie. Wiederum ist zu begrüßen, dass damit ein in der Wissenschafts- und Akademieforschung eher stiefmütterlich behandelter Zeitraum in den Blick genommen wird (Studien zur Entwicklung in Deutschland setzen vielfach mit der Gründung des Kaiserreichs ein), dessen Ende zutreffend der Erste Weltkrieg markiert. Dazwischen erwarb sich die Wiener Akademie ihr wissenschaftliches Ansehen, da sich nach und nach zur Versammlung von Gelehrten auch die „Forschungspraxis“ gesellte.

In Umfang und Anspruch, aber auch in ihrem Aufbau gleicht die Wiener Akademiegeschichte einem Nachschlagewerk, dessen nachvollziehbare Struktur auch den Zugriff auf einzelne Ereignisse und Phasen der Institutionsgeschichte erlaubt. Zugleich haben die Autoren dankenswerterweise nicht darauf verzichtet, jenseits der Chronologie aufzufindende Aspekte der Akademiegeschichte aufzunehmen. So widmet sich ein über siebzigseitiger Abschnitt den für das akademische Leben unverzichtbaren „Expeditionen und Forschungsreisen“, auf denen die Akademiker im Wortsinn – von der Arktis bis zum Himalaya – grenzüberschreitend tätig wurden, mit Folgen für ihre Forschungen, für sie selbst und für die akademische Gemeinschaft, vor welcher von diesen Erfahrungen berichtet wurde. Eine ebenfalls die Chronologie durchbrechende „Zwischenbilanz“ anhand von Akademiejubiläen – so originell diese Form eines selbstreflexiven Zwischenfazits erscheinen mag – verbleibt hingegen unverbunden mit der Darstellung. Während das 1897 begangene 50-jährige Jubiläum noch auf interessante Weise „gegen den Strich“ der Darstellung gelesen werden kann, greifen die Jubiläen von 1922, 1947, 1972 und 1997 schlicht zu weit vor, hier fehlt der Kontrast zwischen Erforschung und Erinnerung, den eine solche Anordnung verspricht.

Mit dem Ersten Weltkrieg betritt die Darstellung bereits vielfach beackerte Felder der Akademieforschung, vermag aber durch eine dezidierte Schwerpunktsetzung bei den „Möglichkeiten“, die der Krieg bot, aufschlussreiche Einblicke jenseits des hinlänglich bearbeiteten „Krieges der Geister“ beizusteuern. Aufschlussreich liest sich der Abschnitt über die Erweiterung des Forschungsraums der Akademie („Aufbruch zum Balkan“) – bis 1918 erlebte die Akademie eine „Phase hoher Produktivität“ (Bd. 1, S. 519). Nach der Auflösung der „Donaumonarchie“ sah sich die Akademie mit zahlreichen Veränderungen konfrontiert. Vielleicht gelang es auch deshalb, mit dem Erlass eines entsprechenden Bundesgesetzes 1921 ein hohes Maß an administrativer und wissenschaftlicher Autonomie durchzusetzen. Im Fazit des Kapitels wird dessen Bedeutung nochmals hervorgehoben: „Kaum ein Zeitraum dürfte auf die heutige Gestalt der [ÖAW] einen nachhaltigeren Einfluss ausgeübt haben als die 1920er Jahre. In dieser Phase wurde die Identität der Gelehrtengesellschaft […] und ihre rechtliche Stellung zwischen Autonomie und staatlicher Protektion ausgehandelt.“ (Bd. 1, S. 606) Selbstredend blieb auch die ÖAW von den Krisen der Zeit nicht verschont, finanzielle Engpässe und die Folgen der „Ständestaat“-Diktatur prägen die Darstellung.

Im Unterschied zu den Akademien im „Altreich“ sah sich die Wiener Akademie im März 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs mit einer bereits seit fünf Jahren agierenden NS-Wissenschaftspolitik konfrontiert, deren Erwartungshaltung nicht wenige der Mitglieder teilten und antizipierten – schon am 1. April 1938 stimmten die Mitglieder für den in NS-Deutschland hoch angesehenen Historiker Heinrich von Srbik als Akademiepräsidenten. Nicht minder rasch folgte die Entlassung der Institutsleiter und Mitarbeiter:innen „jüdischer Herkunft“ – Dutzende an der Akademie tätige Opfer nationalsozialistischer Verfolgung führt die Studie auf. Die Benennung ihres Schicksals zählt zu ihren wichtigsten Ergebnissen, denn zu oft sind die im Gegensatz zu den Mitgliedern zumeist nicht-prominenten Mitarbeiter in der Erinnerung ausgespart worden.3 Detailliert wird die weitere – vielfach auf Eigeninitiative beruhende – „Nazifizierung“ der Wiener Akademie nachgezeichnet, insbesondere der Ausschluss jüdischer Mitglieder (deren Anzahl bereits vor 1938 durch eine „antisemitisch motivierte Zuwahlpraxis“ minimiert worden war, vgl. Bd. 2, S. 39). Alles in allem sei die Akademie „linientreu“ geblieben: „Die Wiener Akademie wollte eine nationalsozialistische Akademie werden, blieb durch die von den Machthabern […] eingeschränkten Handlungsspielräume aber eine Akademie im Nationalsozialismus.“ (Bd. 2, S. 141)

Die unmittelbaren wie auch die längerfristigen Aspekte der NS-Aufarbeitung werden in vier Abschnitten dargestellt. Zunächst kommt die „Neuordnung der Akademie“ nach 1945 zur Sprache. Nach der Flucht Srbiks musste ein interimistisches Präsidium bestellt werden sowie eine „Bestandsaufnahme“ festhalten, in welchem äußeren Zustand sich die Akademie befand. Der inneren Verfassung widmet sich der zweite Abschnitt zur Entnazifizierung: Mit der Form ihrer Durchführung „verdiente“ sich die Akademie die Bewertung als „Refugium für NS-belastete Professoren“ (Bd. 2, S. 195). Auf den dritten Abschnitt zur „Akademieforschung nach 1945 im Schatten des Nationalsozialismus“ folgt ein bis in die Gegenwart reichender Überblick zur „Gedächtnisgeschichte des Nationalsozialismus an der ÖAW“, bereits im Titel den Verlauf dieser andeutend: „Verdrängung und Erinnerung“: Nach mehreren vergebenen Chancen fand die Akademie erst 1997 zu kritischen Einschätzungen ihrer Vergangenheit.

Im sechsten Hauptkapitel wird die „Selbsterneuerung“ der Wiener Akademie in der Zeit der Systemkonkurrenz gemustert. Gerade die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte bieten viele interessante Vergleichsperspektiven für die Situation in Deutschland – waren die Akademien von Berlin und Leipzig doch hinter dem „Eisernen Vorhang“ gelandet, während Göttingen, München und Heidelberg in Westdeutschland an einem „Rumpf-Kartell“ arbeiteten (und sich mit der Mainzer Neugründung konfrontiert sahen). Erschöpft greift der Rezensent zum dritten Band der Geschichte der ÖAW, von dessen drei „Fallbeispielen“ zumindest die „Frauengeschichte“ kurz zu würdigen ist. Anstatt pflichtschuldig retrospektiv die Sprache „zu gendern“, wo historisch Frauen tatsächlich vollständig außen vorgeblieben sind, reflektiert die Darstellung diesen Umstand und zeichnet die zögerliche Aufnahme von Frauen als Mitglieder (sowie „Hinter den Kulissen“ als Mitarbeiterinnen) nach. Man kann diskutieren, ob dieses Thema nicht in den hauptsächlichen Darstellungsstrang – und nicht ausgelagert in einen Exkurs – gehört hätte; seine Umsetzung jedenfalls überzeugt.

Auch in der Göttinger Akademie waren die „Herren“ lange Zeit unter sich geblieben. Die von Désirée Schauz verfasste Studie folgt einer erkenntnisleitenden Frage nach den „Identitäten“ der Akademiemitglieder (sowie deren Wandel zwischen Erstem Weltkrieg und etablierter Bundesrepublik). In ihrer informativen Einleitung verweist Schauz zu Recht auf ein zentrales Motiv der jüngeren Akademieforschung: die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit respektive der Rolle, welche die Akademien im nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb spielten. Das weiterreichende „Erkenntnisinteresse“ ihrer Untersuchung sei von der Frage geleitet, wie sich die Akademiker „im Zuge des wissenschaftlichen und politischen Wandels immer wieder neu positionierten“ – dabei solle nicht nur dem institutionellen Selbstverständnis, sondern auch der „individuellen Verortung“ nachgegangen werden. Zur Beantwortung würden „Anregungen aus der interdisziplinären Identitätsforschung“ genutzt, mit welcher sich die wandelnden Positionierungen von Akademie und Mitgliedern erfassen ließen. Dabei gebe es Identität nur im Plural, diese Identitäten seien das „Ergebnis wechselseitiger Fremd- und Selbstzuschreibungen, die komplexe Narrative hervorbringen“ (S. 23–25).

Wie setzt Schauz ihr durchaus ambitioniertes Konzept um? Sie mustert zunächst die Grundlagen, auf denen die Akademie als Institution wie ihre Mitglieder den Weg in das 20. Jahrhundert beschritten haben, angefangen mit einer inneren Reorganisation um 1900, welche im äußeren begleitet wurde von der Gründung des Kartells – der Vereinigung deutschsprachiger Wissenschaftsakademien – und einer „Wiederbelebung“ des akademischen Internationalismus. Beides bescherte Möglichkeiten der Kooperation, aber auch der Konkurrenz. Eine „gekränkte Wissenschaftsnation“ (S. 60–81) beschreibt Schauz nach dem Ersten Weltkrieg, in welchem politische Stellungnahmen im erwähnten „Krieg der Geister“ und wissenschaftliche Mobilisierung gemeinsam mit der umfassenden Nationalisierung eine Erwartungshaltung erzeugt hatten, welche auch bei einer die politischen Veränderungen nach der Kriegsniederlage weniger strikt ablehnenden Akademikerschaft kaum hätte Erfüllung finden können.

In einem stärker institutionsgeschichtlich orientierten Zwischenkapitel widmet sich Schauz der Struktur der Göttinger Gelehrtengesellschaft, geht auf einige unverzichtbare „Klassiker“ der Akademiegeschichtsschreibung wie Satzungen, Zugehörigkeit zur Mitgliedschaft (auch Ausgrenzungen und Austritte) ein und beleuchtet die Rolle korrespondierender (ausländischer) Mitglieder während des Kriegs, die internationalen Beziehungen respektive Versuche ihrer Wiederbelebung sowie – knapp – die wissenschaftlichen Unternehmungen. Es braucht diesen Rahmen, um die konzeptionell anspruchsvollen Fragen von Selbst- und Fremdbeschreibungen sinnvoll beantworten zu können, folgerichtig beginnt Schauz das Hauptkapitel zur NS-Zeit nicht mit der Akademie im Brennglas, sondern mit einem erweiterten Fokus auf Göttingen als „Universitätsstadt im Nationalsozialismus“ (S. 127–150).

Wenn auch bezüglich der Göttinger Akademie hervorgehoben, so hat die Beziehung zur örtlichen Universität (wie auch zur Stadtgesellschaft) für alle Wissenschaftsakademien eine besondere Bedeutung: Im Zeitraum beider Untersuchungen ist man nicht hauptberuflich Mitglied einer Akademie (im Gegensatz zu den Mitarbeitern in den Kommissionen der Akademie). Diesem Wahl- und Ehrenamt – sieht man von geringeren Entschädigungen für die Übernahme akademischer Ämter ab – geht stets eine andere wissenschaftliche Tätigkeit voraus, aus welcher sich die Wahl zum Akademiemitglied ergibt. Im weit überwiegenden Fall bedeutete das ein Ordinariat an der Universität, in manchen Fällen die Leitung einer wissenschaftlichen Einrichtung (beispielsweise Museum, Botanischer Garten oder Sternwarte). Auch der Nationalsozialismus als Staatsform begegnete den meisten Mitgliedern der Akademie – in Göttingen und anderswo – zuerst in ihren universitären Ämtern. Diese Erfahrungen prägten auch – wenig erstaunlich – das Handeln in den Akademien einige Jahre später.

Genau und stets den persönlichen Anteil der Beteiligten berücksichtigend, beschreibt Schauz diese Etablierung nationalsozialistischer Wissenschaft, welche die Akademie noch verschonte, aber zur Grundlage auch ihrer Umgestaltung werden sollte, mustert Reichweite und Grenzen der „Nazifizierung“ der Göttinger Universität bis 1945. Auf dieser Grundlage folgt ein etwa hundertseitiges Kapitel zur „Göttinger Gelehrtengesellschaft im Abseits der NS-Forschungspolitik“, in welchem Schauz die wesentlichen Aspekte nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik darstellt: späte „Gleichschaltung“, Mitgliederpolitik und Vertreibung jüdischer Mitglieder sowie die Folgen für „Forschen und Publizieren“. Es gelingt Schauz hier sowie im folgenden Abschnitt („Akademiemitglieder zwischen wissenschaftlichen Interessen und nationalsozialistischen Zielvorgaben“) in ihrer Darstellung sowohl die Institution wie auch ihre Mitglieder zu ihrem jeweiligen Recht kommen zu lassen, beide in Beziehung zueinander zu setzen respektive die gegenseitige Bedingtheit – zumal unter dem äußeren Druck der NS-Herrschaft – nachvollziehbar zu beschreiben. In verschiedenen Variationen werden die für das akademische Leben essentiellen „äußeren“ Beziehungen thematisiert, ob in der berühmt-berüchtigten „Absage an die internationale Gelehrtenpolitik“ des Althistorikers Ulrich Kahrstedt oder bezüglich von Auslandsreisen, aber auch Vertreibung und Emigration. Abschließend wird anhand zweier Mitglieder – des Mineralogen Friedrich Karl Drescher-Kaden und des Altphilologen Hans Drexler – die Ausbildung von genuin nationalsozialistischen Akademiker-Persönlichkeiten abgewogen – eine Zukunft nicht nur der Göttinger Akademie, welche die Kriegsniederlage des NS-Staats unterbinden sollte.

Lange Zeit überwogen bei der Erforschung der Entnazifizierung nahezu prosopographische Darstellungen, nachvollziehbar angesichts serieller Verfahren und identischer Urteile. Vor allem bezüglich einer klar umrissenen Personengruppe – wie etwa der Mitglieder der Göttinger Akademie – kann man die Entnazifizierung beziehungsweise „Vergangenheitsaufarbeitung“ aber auch als umfassenden Prozess der Aushandlung und Neukonstituierung von Regeln und Hierarchien begreifen, der alle Beteiligten zwang, eine neue und tragfähige Erzählung der eigenen Karriere zu entwickeln. Aus diesem Blickwinkel erstaunt es angesichts des von Schauz gewählten Ansatzes nicht, dass in ihrer Göttinger Akademiegeschichte das Kapitel über „Vergangenheits- und forschungspolitische Herausforderungen der Akademietradition (1945 bis 1965)“ eine Schlüsselstellung einnimmt. Erneut widmet sich die Autorin den äußeren Grundlagen – in diesem Falle der Entwicklung Göttingens (das auch der wichtigste Anlaufpunkt für aus der SBZ respektive den „Ostgebieten“ flüchtende Wissenschaftler wurde) – zu einem der zentralen Orte westdeutscher Wissenschaft, um darauf aufbauend die nach „Umkämpften Identitäten“ fragende Konzeption auf die „vergangenheitspolitische Kommunikation“ in der Göttinger Akademie anzuwenden. In beeindruckender Dichte und Genauigkeit kann man auf gut 150 Seiten diesem Prozess beiwohnen, seine Tendenzen und Abwege, seine Sieger und Verlierer beobachten. Ob mancher Aspekt gestraffter hätte erzählt werden können, ist angesichts des beeindruckenden Gesamtpanoramas zweitrangig.

Welches Fazit kann nach vier Bänden – beziehungsweise knapp 2.500 Seiten – Akademiegeschichte im deutschsprachigen Raum, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart reichend, gezogen werden? Die dezidiert unterschiedlichen Konzeptionen der Wiener beziehungsweise Göttinger Akademiegeschichte sind erläutert worden, beide Untersuchungen bleiben den selbst formulierten Vorgaben treu, beide Konzeptionen erweisen sich – wenn auch auf unterschiedliche Weise – als fruchtbar für die Akademiegeschichte im engeren, aber auch für die Institutionsgeschichte im weiteren Sinne. Wechselt man unmittelbar zwischen beiden Akademiegeschichten, tritt ihre unterschiedliche Anlage noch plastischer zutage. Mit zahlreichen Fotografien und vor allem den erwähnten „Fakten-Boxen“ wird die Darstellung der Entwicklung der ÖAW angenehm „aufgelockert“, zugleich mindert die stringente Struktur die Möglichkeit zur intensiven Betrachtung einzelner Mitglieder, welche der Studie zu Göttingen eine besondere analytische Tiefe verleiht. In der Umkehr fehlt beiden Darstellungen gewissermaßen jeweils das, was die andere im besonderen Maß bereithält – aber das ist der unvermeidliche Preis für ihre jeweiligen konzeptionellen Entscheidungen. Das beeindruckende Unternehmen einer dreibändigen Darstellung der ÖAW zeigt, was eine entsprechend organisierte und geleitete Forschergruppe zu leisten vermag. Zugleich kann man sich nicht vorstellen, dass die konzentrierte Tiefenbohrung, welche Schauz in die Identitäten der Göttinger Akademiemitglieder unternommen hat, anders als von einer einzelnen Forscherin (Forscher natürlich auch) in „Einsamkeit und Freiheit“ vorgenommen werden könnte.

Anmerkungen:
1 Der Rezensent arbeitet selbst an einer „Akademiegeschichte“; für eine kurze Vorstellung vgl. Matthias Berg, Gelehrtengemeinschaft im „Zeitalter der Extreme“. Eine Studie zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (2023) 1, S. 54–57, https://badw.de/fileadmin/pub/akademieAktuell/2023/79/Gelehrtengemeinschaft_im_Zeitalter_der_Extreme_Matthias_Berg.pdf (02.01.2025).
2 Vgl. den Bericht zu einem vom Rezensenten konzipierten Workshop, der verschiedene akademiehistorische Perspektiven in den Mittelpunkt rückte: Vanessa Osganian, Tagungsbericht: Akademiegeschichte schreiben. Historiographische Perspektiven im Vergleich, in: H-Soz-Kult, 23.02.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-133751 (17.12.2024).
3 Vgl. das „Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften“, https://www.oeaw.ac.at/gedenkbuch/gedenkbuch (17.12.2024).

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