K. Kucher: Kindheit als Privileg

Cover
Titel
Kindheit als Privileg. Bildungsideale und Erziehungspraktiken in Russland (1750–1920)


Autor(en)
Kucher, Katharina
Reihe
Campus Historische Studien
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kusber, Historisches Seminar; Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Katharina Kucher hat ein unbedingt lesenswertes Buch geschrieben. Unter dem Titel „Kindheit als Privileg“ hat sie eine Geschichte vor allem, aber nicht nur adliger Erziehungs- und Bildungsideale vorgelegt, die in mehrfacher Hinsicht empfehlenswert ist: Sie hat einen hinlänglich langen Zeitraum gewählt, um Persistenzen und Veränderung herausarbeiten zu können, und um sich die Geschichte der Kindheit in Russlands langem 19. Jahrhundert zu erschließen. Dafür bedient sie sich eines umfassenden und heterogenen Quellenkorpus, zu dem etwa bildliche Darstellungen von Kindern (und ihren Eltern) in der Malerei, ebenso umfangreiche Zeitschriftenliteratur, pädagogische Texte, gedruckte und ungedruckte Ego-Dokumente gehören, die sie in Archiven und Handschriftenabteilungen der Nationalbibliotheken aufgetan hat.

Sowohl in der Einleitung als auch im Gang der Untersuchung legt sie immer offen, welche Informationen man welchen Quellentypen abgewinnen kann und welche eben auch nicht. Zugleich resümiert sie ebenso kritisch wie fair, in welchen Bereichen bereits Forschung vorhanden ist, wobei zugleich deutlich wird, dass gerade auch für die Zeit der Großen Reformen und ihren Folgen, lange Zeit produktiv beforscht, noch manches zu tun ist.1

Nach der zielführenden Einleitung (S. 7–37) geht die Verfasserin in vier Großkapiteln chronologisch vor, innerhalb der Großkapitel aber auch systematisch. Das erste zu Kindheit im Zeitalter der Aufklärung in Russland trägt ebenfalls hinführenden Charakter: Das Nachdenken über Kindheit, Erziehung, Schulbildung und pädagogische Vorstellungen bis zur Regierungszeit Katharinas II. war geprägt von einer utilitaristischen Rezeption entsprechenden Gedankenguts seit der Epoche Peters des Großen, während es in der Zeit Katharinas zwar immer noch darum ging, durch Erziehung und Bildung einen idealen Untertanen zu formen, hierfür jedoch in der von ihr und anderen rezipierten Literatur stärker auf die Entwicklung des Kindes selbst geblickt wurde. Diese im Wesentlichen staatlich beförderten Ideen setzten, wie Kucher herausarbeitet, Trends frei, die die Quellenbasis für die Forschung verbreiterten und zugleich auch eine Vorstellung von Kindheit erahnen lassen. Im Portrait sind die (hier hochadligen) Kinder keine kleinen Erwachsenen mehr, sie sind aber wohl kleine Repräsentanten einer adligen Lebenswelt, in denen Kindheit nun einen eigenen Lebensabschnitt darstellt.

Das folgende Großkapitel über Kindheit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stellt adlige Erziehungsideale vor, in denen Erziehung als Dienst am Vaterland verstanden wird: Da der Dienst (und der Aufstieg in der Rangtabelle) für die meisten Adligen zwingend war, handelte es sich für viele Adlige um eine Notwendigkeit, durch Erziehung und Bildung ihren Söhnen (um sie ging es zuvorderst) Statuserhalt oder gar den Aufstieg zu ermöglichen. Die Erziehung zum Dienst bedeutete aber auch die Erziehung zur Liebe am Vaterland, seinen Räumen und seinen Landschaften, die über die Aufenthalte auf adligen Landsitzen in die Kindheitserfahrungen integriert werden. Das Jahr 1812 symbolisierte hier in Teilen die Abkehr von der Dominanz des Französischen (S. 109). Das Unterkapitel „Vieles, wenn nicht alles verdanke ich meiner Erziehung“ ist eine gelungene dichte Beschreibung einer Kindheit mithilfe einer einzigargartigen Quelle (S. 130–180). Es geht um die Kindheit des später berühmten Slavophilen Jurij Samarin. Samarins Erzieher und Lehrer war Adolphe Pascaut (auf Russisch: Stepan I. Pako), der wie so viele in den adligen Häusern Russlands aus Frankreich angeworben wurde. Jurij Samarins Vater, der in der Erziehung seines Sohnes zu einem patriotischen Diener des Landes seine Aufgabe sah, hatte sich einen Pädagogen gesucht, der nach den Trends der Zeit verfuhr: In einem dreispaltigen Journal wurde der durchgetaktete Tagesplan für Jurij festgelegt, es wurden auch seine Fortschritte in Wissen und – heute würde man sagen – Sozialkompetenz dokumentiert. Es ging „Pako“ nicht nur um Rechenschaft gegenüber dem Vater Fedor Samarin, der die Erziehung seines Sohnes engmaschig überwachte, sondern auch um das Nachzeichnen der Persönlichkeitsentwicklung Jurijs über Jahre hinweg. Widerstände, Konflikte, Emotionalität, Distanz und Nähe zu den Eltern, zum Hauslehrer und zum dann eigens eingestellten Russischlehrer werden erfahrbar. Die Lehrer schliefen mit Jurij in einem Raum, was den Jungen unter ständiger Beobachtung hielt, so dass jede Emotion, wie Jähzorn, Wut, oder Anhänglichkeit, nachgerade im Stundentakt dokumentiert wurde. In Kombination mit den Einzel- oder Familienportraits, aber auch Briefen mit den Eltern entsteht so in der Tat eine dichterzählte Kindheitsgeschichte, die sicher nicht in allem paradigmatisch für den Adel Russlands ist – schon der Reichtum der Samarins spricht dagegen – aber mit Blick auf Werte, Normen und Ziele von Erziehung hoch aufschlussreich bleibt.

Kucher zeichnet das Bild einer adligen Kindheit in materiellem Reichtum, ähnlich wie die zweite, nicht minder gelungene dichte Beschreibung in diesem Buch – die des Grafen Sergej Dmitrievič Šeremetev, aus einer der reichsten Familien Russlands. Sein Vater widmete sich in Instruktionen und mit einem ganzen Stab von Personal der Erziehung des Sohnes, der in der Zeit des Vorabends der Großen Reformen aufwuchs, die mit der Aufhebung der Leibeigenschaft die Grundlage adligen Selbstverständnisses und damit auch adliger Kindheit herausforderte (S. 245–289).

War das Interesse an Erziehung und Kindheit in der Publikationslandschaft des frühen 19. Jahrhunderts stark angewachsen, wurden nun auch Lebenswelten von nichtadligen Kindern viel umfassender in den Blick genommen. So wie die Großen Reformen neue Bildungsinstitutionen etwa in Form der Zemstvo-Schulen schufen, so ebneten Intellektuelle und Künstler dem Thema Kindheit den Weg in die Öffentlichkeit: Katharina Kuchers Einbeziehung historisch-bildwissenschaftlicher Zugriffe am Beginn der jeweiligen Großkapitel scheint mir in ihrem Durchgang durch „Kindheitsbilder“ ab den 1850er-Jahren (S. 212–249) besonders ertragreich: Die Darstellung von Kindern, Lern- und Lehrsituationen auch auf dem Dorf zeigt gleichermaßen Aufbruch und Tradition. Die „Wanderer“ (Peredvižniki) als Maler des Realismus hielten solche Szenen fest – und zwar nicht die Salons von Sankt Petersburg oder Szenen auf den Landsitzen des Adels, sondern bevorzugt aus dem Leben der nicht privilegierten sozialen Gruppen, vor allem der Bauern, und dies mit kritischen Tönen. Bilder von Dorflehrern und ihren Schülern wurden so auch zu einer politischen Aussage. Die Darstellung der Kinder zeigt diese oft neugierig, interessiert und hochkonzentriert im Lernstoff. Die Bilder trugen mithin auch Appellcharakter – Schulen einzurichten und an die Eltern, die Kinder auch tatsächlich in die Schule zu schicken.

Die Zeit der Großen Reformen war auch der Take-off für die Abbildung gesellschaftlichen Wandels in der Pädagogik, die bei allen sich verändernden Rahmenbedingungen Gegenstand auch der wissenschaftlichen Forschung wurde. Industrialisierung und Pauperisierung, der Bedeutungsverlust des Adels, Migration zwischen Stadt und Land, Arbeitsdifferenzierung und Professionalisierung zeigten sich spiegelbildlich auch in der wachsenden Zahl von Fachzeitschriften, die nicht nur reformpädagogisch waren, sondern etwa auch die Pädiatrie oder das Jugendstrafwesen miteinbezogen. Werte und Wandel adliger Kindheiten waren in der Spätphase des Zarenreichs und nach der Oktoberrevolution natürlich vor diesem Hintergrund – dies wird in Kuchers letztem großen Kapitel deutlich – besonders herausgefordert. Die Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit dem Thema Kindheit korrespondierte, dies kann Kucher zeigen, mit der Beschleunigung sozialer Veränderungen bis in die Revolutionszeit hinein.

In ihrem Schluss geht die Verfasserin fast verhalten mit ihren eigenen reichen Erträgen um (S. 403–411): Sie ruft noch einmal die sie leitenden Referenzgrößen der Kindheitsforschung auf und betont zu Recht, dass man ihre Studie in Rezeption und Transfer als Beitrag zu dem thematischen Dauerbrenner „Russland und der Westen“ lesen kann. Phasen intensiver Rezeption europäischer pädagogischer Literatur lassen sich, so die Verfasserin, verkürzt als Phänomene der viel diskutierten „nachholenden Modernisierung“ lesen, sie zeigen aber in der Verflechtung die Suche nach „russischen“ Erziehungsmodellen. Ansonsten sieht sie ihr Buch als Impuls für weitere Forschung. Das scheint mir zu bescheiden, angesichts der verschiedenen Leseachsen, die das Buch ermöglicht. Es bietet vor allem in den dichten Beschreibungen zweier Kindheiten, aber auch in den bildwissenschaftlichen Kapiteln ertragreiche Forschung an sich, der eine breite Rezeption nur zu wünschen ist.

Anmerkung:
1 Ben Eklof, Russian Peasant Schools. Officialdom, Village Culture, and Popular Pedagogy, 1861–1914, Berkeley 1986; Jeffrey Brooks, When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917, Princeton 1985.