A. Morrison: Russian Rule in Samarkand

Cover
Titel
Russian Rule in Samarkand 1868-1910. A Comparison with British India


Autor(en)
Morrison, Alexander
Reihe
Oxford Historical Monographs
Erschienen
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 95,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Hofmeister, Wien

Zu wenig Geld, zu wenig Wissen, zu wenig Macht – so lautet Alexander Morrisons Fazit über fast fünfzig Jahre Zarenherrschaft in Zentralasien (S. 292). Anhand des Gebietes um die Stadt Samarkand analysiert Morrison die Strukturen und das Personal des russischen Imperiums in der zentralasiatischen Peripherie. Die minutiöse Auswertung von Akten und Selbstzeugnissen der imperialen Verwalter und von Petitionen der einheimischen Bevölkerung an die Behörden ermöglicht einen bisher unbekannten Einblick in das Funktionieren und in die Gedankenwelt der russischen Kolonialverwaltung in Turkestan. Morrison stützt seine Untersuchung überwiegend auf Akten der Kanzlei des Generalgouverneurs in Taschkent, der Gebietsverwaltung von Samarkand sowie der Bezirksverwaltungen der einzelnen Städte, er verwendet aber auch Bestände des Militärhistorischen Archivs und des Staatsarchivs in Moskau, und schließlich greift er auch auf publizierte Quellen in einheimischen Sprachen zurück, die für die Arbeit jedoch nur von zweitrangiger Bedeutung sind.

Der Untersuchungszeitraum der Studie beginnt im Jahr 1868, als Samarkand unter russische Verwaltung kam und dem Generalgouvernement Turkestan unterstellt wurde, und endet 1910 am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Morrison geht dabei aber nicht chronologisch vor, sondern gliedert seine Untersuchung in sechs Themenbereiche, die jeweils separat vorgestellt werden. Nacheinander werden der Umgang der imperialen Behörden mit den religiösen und den säkularen Eliten, der Aufbau der Militärverwaltung, die Rolle einheimischer Mediatoren, die Verwaltung der Bewässerungssysteme sowie das Gerichtswesen der Moslems erläutert. Jedes dieser Kapitel endet mit einem kurzen Vergleich mit Britisch-Indien, der ähnliche gelagerte Phänomene sowie Unterschiede zwischen der russischen und der britischen kolonialen Praxis vorstellt. Morrison hofft, durch diesen Vergleich klären zu können, welche Erscheinungen spezifisch russisch waren, und welche allgemein dem Kolonialismus inhärent sind. Doch dieser Anspruch kann nicht eingelöst werden, weil auch die britische Herrschaft in Indien nicht mit dem Kolonialismus an sich gleichgesetzt werden kann, wie es Morrison implizit tut. Dennoch helfen die Vergleichskapitel, mögliche Alternativen zur zarischen Regierungspraxis zu erkennen.

Der Autor folgt einer allgemeinen Tendenz in der Zentralasien-Forschung der letzten Jahre, wenn er seine Studie in der Kolonialismus-Geschichte verortet. Im Unterschied zu diesem Forschungstrend greift Morrison jedoch die Ansätze der postcolonial studies überhaupt nicht auf, und Edward Saids Orientalismus-These schiebt er mit einer Fußnote beiseite. Dabei hätte es sich angeboten, die Said’schen Thesen an Turkestan zu überprüfen, da Morrison den Blick der russischen Behörden auf die Einheimischen nachzeichnet. Doch Morrison geht auf Fragen der Repräsentation nicht ein, und auch Veränderungen innerhalb der einheimischen Gesellschaften interessieren ihn nur in dem Maße und nur aus der Perspektive, wie sie von den russischen Behörden wahrgenommen wurden.

In mehreren Fällen gelingt es Morrison, Ansichten zu widerlegen, die bisher die Forschung dominiert haben. So untersucht er beispielsweise die Landreform, von der Richard Pierce in seinem Standardwerk zu Zentralasien schreibt, sie habe revolutionäre Ausmaße gehabt.1 Morrison zeigt jedoch, dass die praktischen Auswirkungen der Reform relativ gering waren: Bereits vor der russischen Eroberung dürften die Bauern die Möglichkeit gehabt haben, das Land, das sie bearbeiteten, zu verkaufen und zu vererben, und die Reform bestand nun vor allem darin, dass die alte Landaristokratie ausgeschaltet wurde, die zuvor bei der Steuereintreibung einen gewissen Prozentsatz für sich behalten hatte. In erster Linie diente diese Reform also der Entmachtung der vorkolonialen weltlichen Eliten. Im Gegensatz dazu fassten die imperialen Behörden die religiösen Eliten mit Samthandschuhen an: Aus Angst vor „Fanatismus“ und dem Widerstandspotential des Islam vermied es die Verwaltung, allzu offensiv gegen religiöse Eliten und Institutionen vorzugehen, und entschied sich für die Politik des „Ignorierens“ – der Islam sollte also nicht bekämpft werden, aber auch keine staatliche Unterstützung erfahren. Man erwartete, dass angesichts der offensichtlichen Überlegenheit der europäischen Zivilisation der Islam bald von selbst an Anziehungskraft verlieren würde. Diese Politik ist in der Forschung bereits mehrfach erläutert worden2, Morrison belegt jedoch mit zahlreichen Beispielen, zu welchen ideologischen Verrenkungen die imperiale Verwaltung bereit war, wenn sie mit islamischen wohltätigen Stiftungen, mit Pilgerreisen nach Mekka oder mit dem religiösen Schulwesen konfrontiert wurde. Obwohl in diesen Institutionen die Wurzel allen Übels in Turkestan gesehen wurde, wagte es die Verwaltung nicht, ihren Interessen gemäß einzugreifen.

Der Hauptgrund für die Zögerlichkeit der zarischen Verwaltung war laut Morrison der Mangel an Information. Dies belegt er etwa anhand der Kontrolle über die Bewässerungssysteme: Künstliche Bewässerung ist in den Steppen- und Wüstengebieten Zentralasiens der Schlüssel zur Machtausübung, doch der imperialen Verwaltung gelang es bis zum Schluss nicht, das notwendige Wissen zu erlangen, um die komplizierten Bewässerungssysteme selbst zu steuern. Mangel an Information – speziell an Sprachkenntnissen, aber auch an Kenntnissen der lokalen Rechtssysteme – war es laut Morrison auch, der die russische Verwaltung von einer Schicht von einheimischen Würdenträgern, Übersetzern und Händlern abhängig machte. Diese einheimischen Mediatoren konnten die staatliche Autorität manipulieren und ihren eigenen Zwecken dienstbar machen, wie der Autor anhand zahlreicher Beispiele belegt. Doch der Mangel an Durchsetzungskraft, den Morrison der imperialen Herrschaft in Turkestan bescheinigt, garantierte den Einheimischen ein relativ großes Ausmaß an Autonomie. Die russische Herrschaft war daher – so Morrison in seiner Zusammenfassung – nicht besonders effektiv, dafür aber auch deutlich humaner als das, was nach 1917 folgen sollte.

Morrison lockert den stellenweise etwas spröden Stoff durch seine erfrischende Sprache auf: Sätze wie „The hero of the siege had been a drunken, good-for-nothing Lt-Colonel called Nazarov, who was previously best known for losing most of his pay at cards” (S. 22) erhöhen die Lesbarkeit des Textes – allerdings wäre es zumindest Nazarov gegenüber fair gewesen, diese Charakterisierung irgendwie zu belegen. Überhaupt neigt Morrison zu schnellen Urteilen, oft ohne ausreichende Untermauerung. Besonders deutlich wird das auf Seite 57 im Zusammenhang mit der Islam-Politik Konstantin von Kaufmans, des ersten Generalgouverneurs von Turkestan. Kaufman war es, der die oben erwähnte Politik des „Ignorierens“ in Turkestan etablierte, von der auch seine Nachfolger nicht grundlegend abkehrten. Morrison behauptet nun mehrmals, dass Kaufman gegen Ende seines Lebens Zweifel an dieser Strategie gekommen seien. Das ist eine einigermaßen spektakuläre These, die dem bisher in der Forschung vorherrschenden Kaufman-Bild eine völlig neue Facette hinzufügen würde. Allerdings belegt Morrison dies nur mit einem falsch zugeordneten Zitat, das offenbar von einem von Kaufmans Nachfolgern stammt. Hier zeigt sich, dass etwas mehr Vorsicht nötig gewesen wäre.

Dies ist nur ein Beispiel für Morrisons fallweise übereiltes Vorgehen. Größere Genauigkeit hätte er aber auch an anderer Stelle walten lassen müssen. So behauptet er auf Seite 43, dass der tadschikische Bevölkerungsteil anhand seiner Sprache klar von den anderen Bevölkerungsgruppen zu unterscheiden gewesen sei. Morrison ignoriert damit nicht nur, dass etwa Schiiten oder tribal organisierte Persischsprecher unabhängig von ihrer Sprache nicht als Tadschiken bezeichnet wurden3, sondern auch die weit verbreitete Zweisprachigkeit und die fließenden Identitäten, die allgemein für Zentralasien charakteristisch waren.4 An anderer Stelle geht Morrison sogar so weit, alleine aus der Nationalitätenangabe „Tadschike“ zu folgern, dass es sich dabei um einen wohlhabenden Stadtbewohner gehandelt haben müsse (S. 177f.).

Ähnlich sorglos geht Morrison auch mit Fragen der Transliteration um: Er verzichtet auf eine wissenschaftliche Transliteration und begründet das damit, dass sie für diejenigen, die die Originalsprache nicht kennen, unverständlich sei, während diejenigen, die die Originalsprache kennen, ohnehin wüssten, was gemeint ist. Der Preis dieser Freiheit ist allerdings, dass ein und dieselben Personen immer wieder in unterschiedlicher Schreibweise auftauchen und nur mehr schwer zuzuordnen sind. Ganz besonders gilt das natürlich für das Literaturverzeichnis.

Insofern hätte man sich da ein etwas kritischeres Lektorat gewünscht. Dennoch: Morrison hat Pionier-Arbeit geleistet. Weder in der russischsprachigen noch in der westlichen Forschung liegt eine andere Studie vor, die einen derart umfassenden und detaillierten Einblick in die zarische Herrschaftspraxis in Zentralasien gibt. Doch auch über das Zarenreich hinaus ist das vorliegende Buch von Bedeutung, da es eindrucksvoll die Beschränkungen aufzeigt, der koloniale Herrschaft unterliegen kann.

Anmerkungen:
1 Richard Pierce, Russian Central Asia. 1867-1917. A Study in Colonial Rule, Berkeley 1960, S. 148.
2 Vgl. u.a. Daniel R. Brower, Turkestan and the Fate of the Russian Empire, London 2003.
3 Bert G. Fragner, Probleme der Nationswerdung der Usbeken und Tadshiken, in: Andreas Kappeler/ Gerhard Simon/ G. Brunner (Hrsg.), Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Identität, Politik, Widerstand, Köln 1989, S. 19-34, hier S. 21.
4 Ingeborg Baldauf, Some Thoughts of the Making of the Uzbek Nation, in: Cahiers du Monde russe et sovétique 32,1 (1991), S. 79-95; Olivier Roy, The New Central Asia. The Creation of Nations, London 2000.

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