E. Radisch: Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe als Konsensimperium (1949–1971)

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Titel
Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe als Konsensimperium (1949–1971).


Autor(en)
Radisch, Erik
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakob Marcks, Karls-Universität Prag

Erik Radischs Dissertation Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe als Konsensimperium ist eine sehr faktenreiche Analyse des Innenlebens des RGW. Der Autor versucht die Binnenstrukturen und Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten darzulegen und bezieht sich auf den Zeitraum 1949–1971. Das Ziel der Arbeit ist es, „mithilfe der Aushandlungsprozesse innerhalb des RGW Fragen nach den imperialen Verhältnissen stellen zu können“ (S. 15). Der Autor beendet sein Werk mit dem Satz, „dass das sowjetische Wirtschaftsimperium trotz einiger Besonderheiten erstaunlich imperial war, nur eben die imperiale Struktur nicht über das gesamte Bestehen des Imperiums gleichblieb“ (S. 384). Diese Veränderungen der imperialen Struktur im Zeitverlauf spiegeln sich im Hauptargument des Autors wider: Erstens sei der RGW zur Zeit Stalins kein „Papiertiger“ gewesen, wie oft behauptet, sondern strukturgebend. Zweitens habe die Zeit der Entstalinisierung zu einer Neuordnung des RGW geführt, allerdings ohne dass es zu einer verstärkten Integration gekommen wäre. Vielmehr hätte die Entstalinisierung den Übergang von einem formellen zu einem informellen Imperium bedeutet, von direkter Kontrolle zu „konsultativer Anleitung“, was auch im Lichte dessen gesehen werden muss, dass nun Gewalt als Durchsetzungsmittel im RGW fehlte. Der Begriff „Konsensimperium“ im Titel des Buches bezieht sich auf diese Zeit nach Stalin, in der sich eine Art kollektive Führung im RGW herausgebildet hat.

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt, deren Gliederung das Hauptargument des Autors abbildet. Im ersten Kapitel zeichnet der Autor die innere Funktionsweise des RGW unter Stalin nach. Im Nachkriegseuropa versuchten zunächst die USA mit ihrer bestehenden wirtschaftlichen Dominanz, ihren Einfluss geltend zu machen. Während der Marshallplan auf finanziellen Anreizen für europäische Regierungen fußte, konnte die Sowjetunion keine vergleichbaren finanziellen Ressourcen zur Bindung europäischer Staaten aufbringen. Stalin etablierte sozialistische Regierungen in Mittelosteuropa und gründete den RGW. Im RGW gab es in dieser Zeit vor allem zwei Mechanismen um die Bindung an Moskau zu stärken: die Kontrolle von Geheimdiensten sowie die Entsendung von sowjetischen Beratern in die Mitgliedsländer. Radisch setzt sich eingehend mit dem sowjetischen Beratersystem auseinander und legt dar, wie Moskau auf diese Weise direkten Einfluss auf wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entscheidungen nehmen konnte, ohne dabei nach außen hin die Souveränität der jeweiligen Länder zu verletzen. Im zweiten Kapitel untersucht der Autor, welchen Einfluss die Entstalinisierung auf die Strukturen des RGW hatte. Mit dem Niedergang des sowjetischen Beratersystems und mit dem Wegfall von Gewalt als Machtinstrument begannen die Mitgliedsländer erstmals, auch eigene Positionen einzunehmen, solange sich diese innerhalb bestimmter sozialistischer Rahmenbedingungen bewegten. Verhandlungen im RGW fanden nun ob der nach wie vor ungleichen Machtverhältnisse zwar immer noch nicht auf Augenhöhe statt, aber dennoch entwickelten die Mitgliedsländer zunehmend selbstbewusste Positionen in Verhandlungen. Im dritten Kapitel widmet sich der Autor der Rolle Nikita Chruschtschows (1956–1964). Dabei werden insbesondere Chruschtschows Versuche beleuchtet, den RGW zu reformieren. Für die Rekonsolidierung des sowjetischen Führungsanspruchs spielte Konsensbildung in dieser Periode eine wichtige Rolle, vorangetrieben durch Verwissenschaftlichung und die Idee, anstelle der jeweiligen nationalen Fünfjahrespläne einen gemeinsamen, RGW-weiten Plan einzuführen. Chruschtschows Reformversuche sind letztlich gescheitert, keine zehn Jahre nach Stalin fürchteten viele Mitgliedsländer, dass Moskau durch einen gemeinsamen Plan erneut absoluten Durchgriff erlangen würde. Insgesamt betrachtet war dieses Scheitern ein einschneidender Punkt. Moskau war nicht in der Lage, ein Gesamtkonzept für die wirtschaftliche Entwicklung des sozialistischen Raums durchzusetzen, und die Diskussionen im RGW rund um den gemeinsamen Plan zeigten vielmehr die Widersprüche des planwirtschaftlichen Systems insgesamt auf. Im vierten Kapitel analysiert der Autor die Rolle Leonid Breschnews von 1964 bis 1971. Nach Chruschtschows gescheiterten Reformversuchen veränderte Breschnew die bestehenden Strukturen nicht maßgeblich, sondern versuchte vielmehr, diese zu belassen und zum eigenen Vorteil Moskaus zu nutzen. Es ging nun nicht länger um den Abbau von Handelsgrenzen innerhalb des RGW, vielmehr nahm Moskau jetzt eine Rolle als Vermittler zwischen RGW-Mitgliedsländern ein. Unter zunehmendem wirtschaftlichem Druck stand die Rentabilität des RGW-Handels nunmehr im Vordergrund und Moskau suchte verstärkt den eigenen direkten Vorteil aus der Zusammenarbeit im RGW. Während die Sowjetunion der wichtigste Handelspartner aller RGW-Länder blieb, nahm der Handel mit Westeuropa für die Regierungen der „Satelliten“ an Bedeutung zu; der strukturgebende Einfluss Moskaus war nicht mehr gegeben.

Die Stärke des Buchs liegt in einer sehr detailreichen genauen Beschreibung des Innenlebens des RGW; eine Vielzahl an direkten Zitaten aus Primärquellen lockern die Erzählung auf. Eine trotz der Informationsdichte angenehme Schreibweise mit klaren Sätzen sorgt für eine insgesamt gute Lesbarkeit. Neben dem Bundesarchiv basiert das Buch auf verschiedenen russischen Archiven, etwa dem Russischen Staatlichen Archiv, dem Russischen Staatlichen Archiv für Wirtschaft, und weiteren, was dieses Werk nach dem nunmehr eingeschränkten Zugang zu russischen Archiven umso wertvoller macht.

Während der Autor die inneren Strukturen des RGW sehr akkurat nachzeichnet, werden die Wechselwirkungen mit äußeren Akteuren – mit Ausnahme von China – nur am Rande oder gar nicht betrachtet. Auch wenn der Fokus des Buches auf den Binnenstrukturen des RGW und auf den Aushandlungsprozessen zwischen den Mitgliedsstaaten liegt, gibt es doch einen Zusammenhang zwischen genau diesen inneren Prozessen und äußeren Akteuren (z.B. Westeuropa, Globaler Süden), gerade wenn es um die Handlungsmacht der Mitgliedsstaaten geht. Es wäre interessant zu erfahren, inwiefern die wirtschaftliche Zusammenarbeit einzelner Mitgliedsstaaten mit Akteuren außerhalb des Blocks die Aushandlungsprozesse innerhalb des RGW beeinflusst hat. Andere Autoren haben dargelegt, dass einige RGW-Mitgliedsländer wirtschaftlichen Austausch mit Westeuropa sowie dem Globalen Süden als Instrument angewandt haben, um der wirtschaftlichen Dominanz der Sowjetunion zu entfliehen1, bzw. umgekehrt, dass die „Ständige Kommission des RGW für die Koordinierung der Technischen Unterstützung“ – für Kooperation mit dem Globalen Süden zuständig – zuvorderst darauf ausgelegt war, die Mitgliedsstaaten an die Sowjetunion zu binden, und nicht um multilaterale Zusammenarbeit zu befördern.2 Die Wechselwirkungen zwischen dem RGW, dem Westen und dem Globalen Süden wurden zuletzt vermehrt diskutiert, wenn auch oft nur am Rande. Hier hätte das Buch davon profitiert, wenn der Autor seinen nach innen gerichteten Blick etwas geweitet hätte. Dies mag aber auch der zeitlichen Beschränkung geschuldet sein (1949–1971), da sich die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden zu einem erheblichen Teil auch auf die Zeit nach 1971 bezieht. Dennoch ist das Buch insgesamt sehr lesenswert. Es geht weder um die mittlerweile überholte, aber weit verbreitete bipolare Betrachtungsweise des Kalten Krieges noch um den multipolaren, globalen Blickwinkel, der sich in den letzten Jahren zunehmend durchsetzt3, obgleich letztere Perspektive dieses Buch durchaus bereichern würde, wie oben erläutert. Stattdessen beleuchtet der Autor mit den inneren und gegenseitigen Strukturen und Prozessen im RGW ein bislang nur wenig erforschtes Thema.

Anmerkungen:
1 Sandrine Kott, Organiser le Monde – une autre histoire de la guerre froide, Paris 2021; Max Trecker, Red Money for the Global South, New York 2020.
2 Sara Lorenzini, Global Development – A Cold War History, Oxford 2019, S. 81ff.
3 Etwa James Mark / Artemy Kalinovsky / Steffi Marung (Hrsg.), Alternative Globalizations, Bloomington 2020; oder: James Mark / Paul Betts (Hrsg.), Socialism Goes Global, Oxford 2022.

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