Cover
Titel
Wann war Arabien?. Historische Zeiterfahrungen im Kontext einer Forschungsreise (1761–1767)


Autor(en)
Hähnle, Mirjam
Reihe
Peripherien (7)
Erschienen
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Wittmaack, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Mit ihrer Studie „Wann war Arabien? Historische Zeiterfahrungen im Kontext einer Forschungsreise (1761–1767)“ widmet sich Mirjam Hähnle der bereits häufiger untersuchten Arabien-Expedition, die durch den Göttinger Philologen Johann David Michaelis konzipiert worden war. Dabei geht die Autorin einer neuen, innovativen Fragestellung nach, indem sie nach der historischen Zeiterfahrung der Reisenden fragt. Die Studie verfolgt das Ziel, „historische Zeiterfahrungen als eine Kategorie zur Untersuchung von Reisetexten zu etablieren.“ (S. 19) Zeiterfahrungen werden von ihr nicht auf den Reiseverlauf im engeren Sinne beschränkt: Reisende verbänden seit dem 18. Jahrhundert mit der Tätigkeit des Reisens nicht nur eine Bewegung durch den Raum, sondern es ginge auch um eine „Bewegung durch verschiedene historische und kulturelle Zeiten. ‚Reisen‘ bedeutet seitdem […], das Eigene zum Andern in eine zeitliche Beziehung zu setzen.“ (S. 16)

Den Zugang zu dieser Zeiterfahrung der Reisenden erschließt Hähnle über zwei „Reliktgruppen“ (S. 17), die in der umfangreichen Überlieferung zur Arabien-Expedition thematisiert werden: pagane Altertümer und Relikte des Biblischen. Während die erste Reliktgruppe vornehmlich aus architektonischen Überresten oder Ruinen bestand, bestand die zweite Gruppe nicht nur aus steinernen Überresten, auch Menschen und Pflanzen konnten für die Reisenden ein Zugang zur Zeitlichkeit Arabiens bieten.

In ihrer Auseinandersetzung mit den zentralen Texten von Edward Said (Orientalism), Jürgen Osterhammel (Die Entzauberung Asiens) und Reinhart Koselleck (Zeitschichten) zur Entfaltung des konzeptionellen Rahmens verbindet die Autorin die für ihre Studie relevanten Forschungsfelder. Said und Osterhammel werden von der Autorin mit Blick auf macht- und herrschaftskritische Fragen herangezogen. Kosellecks „Zeitschichten“ und sein Argument eines Wandels der Historizitätsregime während der Sattelzeit spielen für die Untersuchung Hähnles eine zentrale Rolle. Der Wandel hin zu einem „neuzeitlichen Historizitätsregime“, mit dem Geschichte offen konzeptualisiert und somit eine „Philosophie des Fortschritts“ (Koselleck) etabliert wurde, habe sich auch auf anthropologische Diskurse ausgewirkt und zu einer Ordnung von Menschen auf unterschiedlichen „Kulturstufen“ (S. 37) geführt. Die Reisetexte des 18. Jahrhunderts sind jedoch bisher nicht auf dieses Problem hin untersucht worden. Dies ist aufgrund der zentralen Stellung des Reisens im 18. Jahrhundert erstaunlich. Die „Pionierarbeit“ (S. 38) von Hans Erich Bödeker, hatte zwar eine erste Annährung an diese Fragen versucht, fokussierte jedoch stärker auf die Abkehr von antiquarischen Sammelpraktiken in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hähnles Argument dagegen betont die Bedeutung des Antiquarianismus für die Konstruktion historischer Kausalitäten.

Methodisch wählt die Autorin einen „zweifachen archäologischen Zugriff“, der es ihr erlauben soll, zwischen den Praktiken der einzelnen Reisenden während der Expedition einerseits und den diskursiven Zeitvorstellungen des 18. Jahrhunderts andererseits „hin- und herpendeln“ (S. 40) zu können. Der erste dieser Zugriffe beschäftigt sich mit den materiellen Überresten, die für die Reisenden einen wichtigen Zugang zur Vergangenheit darstellten. Die Wahl dieses Zugangs begründet Hähnle überzeugend aus der Entwicklung des Antiquarianismus seit dem 15. Jahrhundert, der mit einem verstärkten Blick auf die materiellen Überreste, das Sammeln und Durchdringen gegenüber einer Geschichtsschreibung bevorzugte, die sich vornehmlich auf Verweise in Richtung antiker Autoritäten konzentriert habe. Für die Autorin steht dabei die Frage im Vordergrund, „wie Dinge im Hinblick auf vergangene Zeiten zum ‚Sprechen‘ gebracht wurden.“ (S. 46–47). Aus dieser Perspektive betont sie in der Analyse die Praktiken der Reisenden im Umgang mit den Relikten. Dabei weist sie auf die Vielzahl möglicher Zeugen für die Vergangenheit in den Texten der Reisenden hin: neben den Überresten aus Ruinen und architektonischen Gebilden auch Pflanzen oder Menschen. Zentral ist für Hähnle eine praxeologisch orientierte Perspektive auf die Reisetexte und den „Umgang“ der Forschungsreisenden mit Altertümern im Sinne des Antiquarianismus.

Mit einem zweiten archäologischen Zugriff, einer „Archäologie des Wissens“, bezieht sich Hähnle auf die viel rezipierten Zeitmodelle für das 18. Jahrhundert, wie sie von Koselleck und Foucault entwickelt wurden. Kosellecks „politische Prognostik“ zusammen mit Foucaults „klassischen Episthemen“ dienen ihr als Referenzrahmen, an den die von den Reisenden durch Altertümer erschlossenen Zeitlichkeiten rückgebunden werden. Mirjam Hähnle konzipiert mit der vorgelegten Studie ein vielseitiges Forschungsdesign, das ihr „Beweglichkeit“ zwischen den Analyseebenen Diskurs und Praxis ermöglicht, in dem aber die Akteure stets Zentrum der Interpretation bleiben.

Nach einer Vorstellung der beteiligten Personen, Organisatoren und Reisetexte, womit noch einmal deutlich die Vielfalt des in dieser Studie rezipierten Materials durch die Autorin vor Augen geführt wird, wendet sich Hähnle der Analyse historischer Zeiterfahrung zu. Im ersten Großkapitel untersucht sie zunächst den Umgang mit paganen Altertümern, wobei sie auf die Erschließungspraktiken der Expeditionsteilnehmer scharf stellt. Ihre praxeologische Perspektive erweist sich hier als sehr fruchtbar für die Analyse von Zeitvorstellung. Denn die bereisten Ruinen „bedeuteten von sich aus nichts“ (S. 230). Erst ihre aktive Erschließung durch die Reisenden, etwa in Form von Messungen, und die von den Reisenden vorgenommene Verortung der Relikte im historischen Zeitverlauf lassen sie zu Zeugen einer historischen Zeitlichkeit werden, erst hierdurch erhielten sie eine Bedeutung. In einem ersten Zwischenergebnis kann die Autorin ein zyklisches Geschichtsmodell der Reisenden rekonstruieren. Für die Teilnehmer der Expedition folgte Geschichte nicht der Idee eines „linearen Fortschritts“, sondern wurde zyklisch gedacht. Die Reisenden betonten jedoch vor allem den Abstieg von Kulturen im Nahen Osten, weniger ihren Wiederaufstieg. Die Zeiterfahrungen der Expeditionsteilnehmer schienen sich, so Hähnle, aus „älteren und neueren Traditionen zu speisen.“ (S. 235). Der Begriff „Sattelzeit“ (Koselleck), der stärker die „modernen“ Anteile der Zeitvorstellungen betone, müsse, ausgehend von diesen Erkenntnissen, neu gedacht werden, indem stärker auf die Kontinuitäten als die Brüche fokussiert würde.

Im zweiten Großkapitel analysiert Mirjam Hähnle die Kulturalisierung der Bibel. Sie macht auf das Interesse der Reisenden an der biblischen Topographie aufmerksam und weist darauf hin, dass sich die Teilnehmer der Expedition in Arabien Evidenz für die Erzählung der Bibel auch durch die Beobachtung der Nomad:innen und Stadtbewohner:innen erhofften. Sehr überzeugend kann Hähnle darlegen, dass die Nomad:innen als „entzeitlicht“ wahrgenommen wurden, sie blieben für die Reisenden, besonders für Carsten Niebuhr, auch in der Gegenwart des 18. Jahrhunderts noch in einer biblischen Zeit fixiert, während die Bewohner:innen der Städte als Zeitgenossen der Europäer:innen verstanden wurden (S. 392). Das Aussehen der Nomad:innen wurde mit dieser ‚Entzeitlichung‘ festgeschrieben und als unveränderlich verstanden. So konnten die betrachteten Nomad:innen für die Reisenden zu Zeug:innen der biblischen Zeiten werden. An dieser Stelle wäre eine Vertiefung mit Blick auf das Körperverständnis der Reisenden und dessen Verbindung mit der Verzeitlichung aufschlussreich. Dieser Hinweis ist hier jedoch nicht als Kritik an der vorliegenden Arbeit gemeint, sondern als Anstoß für weitere Forschungen, denn die Frage nach dem Verhältnis von Körpern und Zeitlichkeit führt über die Fragestellungen der Studie hinaus.

Im abschließenden Fazit hebt die Autorin noch einmal das Nebeneinander unterschiedlicher Zeitvorstellungen im 18. Jahrhundert hervor, „die sowohl ‚zurück‘ als auch nach ‚vorn‘“ (S. 413) verweisen und postuliert das Potential für weitere Forschungen bezogen auf die Ambivalenzen des 18. Jahrhunderts als einer Zeit des Übergangs. Die unterschiedlichen Zeitvorstellungen stehen in den Reisetexten nicht einfach nebeneinander, sondern sind entlang „der räumlichen Kategorien von ‚Stadt‘ und ‚Wüste‘“ strukturiert und „in dezidierte Frontstellung zueinander“ (S. 410) gesetzt. Hähnles Buch zur Arabien-Expedition konnte ausgehend von diesen Befunden erneut zeigen, dass es im 18. Jahrhundert nicht zu einem Bruch der Ideenwelt kam: Die Zeitvorstellungen der Reisenden und ihre Forschungspraktiken blieben durch antiquarische Wissenstraditionen und frühneuzeitliche Geschichtsvorstellungen geprägt. Die Akteure der Arabien-Expedition erwiesen sich damit als Reisende mit einem „entschieden historischen Blick“ (S. 402).

Mirjam Hähnle hat mit ihrer Dissertation eine theoretisch sehr anspruchsvolle und klar konzipierte Studie vorgelegt. Sie hat wichtige Erkenntnisse über die untersuchten Asienreisen herausgearbeitet, und ihre Ergebnisse reichen weit über diesen konkreten Gegenstand hinaus. Fragen von Zeitvorstellungen und Verzeitlichung bieten weiteres Potential für die Erforschung von Reiseberichten. Die vorliegende Studie bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Fragen nach Kontinuität, Bruch und Gleichzeitigkeit oder Aspekte von Verzeitlichung in anderen Bereichen, wie etwa mit Blick auf die Körperdiskurse des 18. Jahrhunderts auszuleuchten. Besonders das von Hähnle skizzierte Nebeneinander und die Ambivalenz des 18. Jahrhunderts kann als produktive Erinnerung an die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gelesen werden.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension