Die DDR – ein „Unrechtsstaat“? Eine Antwort auf diese berühmt-berüchtigte Frage liefert der vorliegende Sammelband zum Recht der DDR als Gegenstand der Rechtsgeschichte nicht. Zu sehr provoziert das Schlagwort „Parteinahmen“ (S. 9), also Lagerbildungen für und wider den Begriff. Gut zu beobachten war dieser Reflex in der Kontroverse um das zuletzt erschienene Werk von Inga Markovits „Diener zweier Herren“.1 Markovits lehnt den Begriff nicht nur vehement ab, sondern dreht ihn gar ins Gegenteil: Die DDR sei auf dem Weg zum Rechtsstaat gewesen und die Juristen vorneweg. Entschiedener Widerspruch ließ nicht auf sich warten.2 Indes bringen solche geschichtspolitischen Auseinandersetzungen die wissenschaftliche Aufarbeitung kaum voran, wie die Herausgeber richtigerweise anmerken. Dass im vorliegenden Sammelband nun ausgerechnet der Beitrag von Markovits nicht abgedruckt ist, obwohl sie den Festvortrag auf der Tagung der „Forschungsstelle DDR-Recht“ im Oktober 2019 hielt, geht jedoch allein auf die erwähnte Veröffentlichung zurück. Man mag das Fehlen des Beitrages bedauern oder nicht. Doch stehen drei Jahrzehnte nach dem Ende der Rechtsordnung der DDR ohnehin andere Zugänge und neue Deutungsmuster im Vordergrund der Rechtsforschung.
Die Folgen, die das Rechtssystem der DDR nach 1990 (Restitutionen und Rehabilitationen) aufwarf, sind weitgehend erledigt. Damit löst sich die Rechtsgeschichte der DDR von den Einzelschicksalen und schafft Raum für neue Ansätze. Hier setzt der Sammelband an und will Impulse einer neuerlichen „Übersetzungsarbeit“ (S. 10) geben und so rechtshistorische Forschungen wieder stärker ankurbeln. Sicherlich mag dabei das Argument der Herausgeber, mit der Distanz zur DDR nehme gleichzeitig die Fähigkeit ab, Quellen des Rechts der DDR hermeneutisch zu verstehen, für die geschichtswissenschaftliche Zunft weniger bedenklich sein. Schließlich ist das doch das tägliche Brot der Quellenkritik.
Dennoch drängt eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Die empirischen Rechtsquellen (u.a. Gerichtsakten) der DDR sind bis heute noch weitgehend unerschlossen und in einem teils sehr schlechten Materialzustand. Es drohe also ein „unwiederbringliche[r] Verlust“ (S. 10). Aus diesem Grunde dokumentiert, digitalisiert und stellt die Forschungsstelle Schriftgut aus Bibliotheken und Archiven (Normenbestand, Monografien, Dissertationen, Aufsätze, Entscheidungen, Lehrpläne) online zur Verfügung.3 Eine beeindruckende Grundlagenarbeit, die hoffentlich auch über die juristische Zeitgeschichte hinaus Beachtung findet.
Neben der Einleitung der Herausgeber lassen sich die sechs weiteren Beiträge in zwei Kategorien einsortieren. Das sind zum einen bereits vorliegende Studien, die für den Sammelband aktualisiert wurden: Michael Ploenus über die gesellschaftswissenschaftliche bzw. marxistisch-leninistische Schulung an den Universitäten der DDR und Hans-Peter Haferkamp zur Richterausbildung in der DDR. Auf eine tiefergehende Einlassung kann an dieser Stelle verzichtet werden, da jene Forschungen schon ausführlich besprochen wurden.4 Die restlichen drei Beiträge stellen demgegenüber Forschungsüberblicke und -skizzen dar, die neue Schlaglichter werfen.
Den Anfang macht der Beitrag von Thorsten Keiser über „Forschungsdesiderate bei der Aufarbeitung des DDR-Rechts“. Forschungslücken seien eine Frage des Forschungsstands, der Perspektiven und Methoden. Erst wer darum wisse, so Keiser, könne neue Wege beschreiten. Mit diesen zugegebenermaßen profanen, da unstreitbaren Aussagen, beginnt er also seine Ausführungen. Ernsthafte Irritationen löst dagegen seine Ausgangsperspektive aus: Startpunkt seiner „Forschungsgeschichte“ ist das Jahr 1990, also der Zeitpunkt der „Historisierung des Rechts der DDR“ (S. 90). Das Problem an der Verortung offenbart sich sogleich, wo er über das einschlägige Werk zur Rechtsgeschichte Deutschlands des Rechtshistorikers Karl Kroeschell schreibt, dieser habe im Jahr 1992 noch nicht auf einen „Forschungsstand zur Geschichte der DDR“ (S. 90) zurückgreifen können. Stattdessen musste sich Kroeschell allein auf DDR-Literatur, also veröffentlichte „Quellen“ (S. 90/91), und die zeitgenössischen Analysen aus dem Westen, d.h. die westdeutsche Ostrechtsforschung beziehen. War das denn etwa keine valide Forschung? Im Bereich der Rechtsgeschichte konnte die Deutschlandforschung wesentliche und noch bis heute wertvolle Forschungserkenntnisse vorlegen (auf die sich Keiser in seinem weiteren Überblick auch selbst bezieht). Als Beispiel sei hier ein Aufsatz aus der Zeitschrift „Recht in Ost und West“ von Markovits aus dem Jahr 1987 genannt, der die seinerzeitigen Diskussionen zur Wiedereinführung einer gerichtlichen Verwaltungskontrolle in der DDR Ende der 1980er-Jahre zum Thema hatte.5 Die Fachkenntnis und Urteilskraft dieses Aufsatzes wurde nach 1990 von denjenigen ostdeutschen Juristen hochgelobt, die aktiv an den damaligen Reformdiskursen beteiligt waren.6
In seinem Forschungsüberblick geht Keiser zwar auf das Verwaltungsrecht der DDR als Untersuchungsfeld ein, verweist dabei aber nur auf die 1940/50er Jahre. Die spätere DDR-Rechtsentwicklung wird dagegen ausgeklammert. Hier kann auch Keisers Hinweis nicht überzeugen, er erhebe mit seinem Forschungsüberblick keinen „Anspruch auf Vollständigkeit“ (S. 89). Denn wo er schon ein Rechtsgebiet beispielhaft anführt, sollten zumindest dort alle wesentlichen Werke und Entwicklungen erwähnt sein.7 Auch dass das reichlich beackerte Forschungsfeld „Recht und MfS“ fast völlig ausbleibt, ist angesichts der Bedeutung des Themas zumindest erklärungsbedürftig.8 Ferner findet zu wenig Beachtung – was leider auf den gesamten Sammelband zutrifft – die Transformationsphase nach 1989/90. Zeithistorische Studien zur Scheidungsrechtskultur, die das deutsch-deutsche Familienrecht über den Umbruch hinweg untersuchen, bleiben so unerwähnt.9
Für die juristische Zeitgeschichte uneingeschränkt zu empfehlen sind die beiden folgenden Beiträge. Adrian Schmidt-Recla geht auf zentrale Begrifflichkeiten des Rechts der DDR ein: „Sozialistisches Recht, sozialistische Rechtsverhältnisse, sozialistische Personen und sozialistische Gesetzlichkeit“. Auf Grundlage von Arbeiten aus der DDR-Rechtswissenschaft kann Schmidt-Recla überzeugend eine grundsätzliche Begriffsbestimmung der genannten Termini liefern. Erhellend sind seine Ausführungen zur „sozialistischen Gesetzlichkeit“ und die Schlussfolgerung, statt von „Recht“ und „Rechtswissenschaft“ besser von „Gesetz“ und „Gesetzlichkeitswissenschaft“ (S. 135) zu sprechen. Hierüber würde einerseits die öffentlich aufgeladene Diskussion um Recht vs. Unrecht vermieden. Andererseits zielt der Begriff der „historischen Gesetzlichkeiten“ unmittelbar auf die „Parteilichkeit“ (S. 137), was im Rechtsbetrieb der DDR die Leitkategorie war. Bleibt abzuwarten, inwiefern der sicherlich interessante Ansatz von Schmidt-Recla Anklang findet.
Auch Achim Seiferts „Annäherungen an die Geschichte des Arbeitsrechts“ liefern für künftige Forschungen praktische Handreichungen darüber, wie man dem „entfernte[n] Rechtsdenken“ (S. 161) und den damit verbundenen Schwierigkeiten begegnen kann. Im ersten Schritt umreißt Seifert den Gegenstand und die Funktion des Arbeitsrechts der DDR und zeigt hierdurch die deutlichen Unterschiede zum bundesrepublikanischen Rechtsverständnis. Danach legt er die Einflüsse aus dem Arbeitsrecht der Weimarer Republik und der Sowjetunion offen und verweist auf Kontinuitäten und DDR-spezifische Entwicklungen. Wichtig ist auch Seiferts Hinweis auf den Arbeitskreis Arbeitsrecht, der für die „Arbeitsrechtswissenschaft in der DDR“ (S. 157) wichtig war. In solchen intradisziplinären Gremien wurde die Rechtswissenschaft der DDR maßgeblich weiterentwickelt, was bislang in der Forschung zu wenig Beachtung fand.10 Seifert geht abschließend auf die Rechtsprechung und in diesem Kontext auch auf die Konfliktkommissionen als „sogenannte Gesellschaftsgerichte“ (S. 148) ein. Ob das mit dem DDR-Arbeitsrechtler Fritjof Kunz geführte Interview für die Nachwelt zugänglich gemacht wird, bleibt zu hoffen. Die zentralen Akteure der DDR-Rechtswissenschaft dürften in der Mehrzahl schon nicht mehr zur Verfügung stehen.
Den Abschluss des Sammelbandes bildet der Beitrag von Zara Luisa Gries und Katharina Vette zur Jenaer Universitätsgeschichte. Der Überblick zur Rechtswissenschaftlichen Fakultät bzw. Sektion für Staats- und Rechtswissenschaft liefert zentrale Fakten der Institutionengeschichte: einen historischen Abriss der Einrichtung, eine statistische Aufstellung des Lehrkörpers sowie eine Auflistung aller Promotionen A und B von 1949 bis 1990 (heute: Dissertationen und Habilitationen). Die Autorinnen schreiben zwar, dass der Beitrag nur ein erster Zugang sein kann. Dass unter „Struktur“ jedoch nicht alle Lehrstühle und Wissenschaftsbereiche systematisch aufgeführt werden, verwundert schon. Die Phase nach 1989/90 bleibt gänzlich unerwähnt. Sehr interessant sind dagegen die Ausführungen über den Anteil an weiblichen Promotionen des Typs A und B.
Insgesamt verdeutlicht der Sammelband der Forschungsstelle „DDR-Recht“ der Universität Jena eindrücklich, warum eine Beschäftigung mit dem Recht der DDR weiterhin ergiebig und notwendig ist: Jenseits einer umkämpften, geschichtspolitischen Bewertung der Rechtsordnung der DDR sind noch viele Rechtsgebiete, Institutionen und Akteure, Praktiken der Rechtspflege sowie die historischen als auch transnationalen Einflüsse auf das Recht der DDR unzureichend erforscht. Die Beiträge von Schmidt-Recla und Seifert bilden für die weitere Rechtsforschung der DDR zweifellos wertvolle Ausgangspunkte. Den guten Gesamteindruck des Bandes trüben letztlich Defizite in einigen der anderen Beiträge.
Anmerkungen:
1 Inga Markovits, Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht, Berlin 2020.
2 Hermann Wentker, Rezension von: Inga Markovits: Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht, Berlin 2020, in: sehepunkte 20 (2020) 9, 15.09.2020, URL: http://www.sehepunkte.de/2020/09/34604.html (02.12.2022).
3 Die Datenbank befindet sich folglich noch im Aufbau, siehe: Friedrich-Schiller-Universität Jena / Rechtswissenschaftliche Fakultät: Datenbank zur Dokumentation und Erforschung des DDR-Rechts, https://www.rewi.uni-jena.de/forschung/forschungsstelle-ddr-recht/datenbank (02.12.2022).
4 Hans-Peter Haferkamp / Torsten Wudtke, Richterausbildung in der DDR, in forum historiae iuris, 25. Oktober 1997, https://forhistiur.net1997-10-haferkamp-wudtke (02.12.2022); sowie: Ilko-Sascha Kowalczuk: Rezension von: Michael Ploenus: "... so wichtig wie das tägliche Brot". Das Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus 1945–1990, Köln 2007, in: sehepunkte 7 (2007) 12, 15.12.2007, http://www.sehepunkte.de/2007/12/13655.html (02.12.2022).
5 Siehe Inga Markovits, Rechtsstaat oder Beschwerdestaat. Verwaltungsrechtsschutz in der DDR, in: Recht in Ost und West. Zeitschrift für Rechtsvergleichung und innerdeutsche Rechtsprobleme 31 (1987) 5, S. 265–281.
6 Vgl. Wolfgang Bernet, Entwicklung und Zustand der Verwaltungsrechtswissenschaft der DDR, in:, Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S. 395–414, hier S. 397. Es handelt sich bei Bernets Aufsatz um einen Nachdruck aus dem Jahr 1990.
7 Zur Ergänzung sei deshalb auf den Handbuchartikel zum Thema Verwaltungsrechtsschutz verwiesen: Julian Lubini, Verwaltungsrechtschutz in Ostdeutschland nach 1945, in: Karl-Peter Sommermann / Bert Schaffarzik (Hrsg.), Handbuch der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Europa, Heidelberg 2019, S. 915–988.
8 Vgl. ein Standardwerk zum Thema: Roger Engelmann / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, München 1999.
9 Siehe Anja Schröter, Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980–2000, München 2018.
10 So etwa im ansonsten einschlägigen Beitrag zur DDR-Rechtswissenschaft von: Sonja Ginnow, Rechtswissenschaft, in: Jürgen Kocka / Renate Mayntz (Hrsg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung: Disziplinen im Umbruch, Berlin 1998, S. 175–254.