E. Helleiner: The Neomercantilists

Cover
Titel
The Neomercantilists. A Global Intellectual History


Autor(en)
Helleiner, Eric
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 54,35
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Engel, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Natürlich schließt das Buch mit Trump. Dessen Devise „America First“ zog in westlichen Öffentlichkeiten der späten 2010er-Jahre aufgeschreckte Diagnosen eines vermeintlich bevorstehenden Endes handelsliberaler Globalisierung nach sich – obwohl jenseits von Rhetorik und Symbolpolitik kein wirklicher Paradigmenwechsel der US-Außenhandelspolitik vollzogen wurde. Der bange Blick allein auf die US-amerikanische Position im Hinblick auf die Entwicklung globaler Ordnungen ist ohnehin obsolet geworden. Dies hängt nicht zuletzt mit dem weltwirtschaftlichen Aufstieg Chinas zusammen, das (übersimplifiziert gesagt) umgekehrt den Weg vom Protektionismus zum Freihandel gegangen ist: Dem Beitritt zur WTO mit ihrer Agenda globaler Handelsliberalisierung ging eine schutzzollpolitische Phase zur Entwicklung eigener Industrien und Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit voraus.

Protektionistische Entwicklungspolitik wird allgemein mit den Überlegungen des deutschen Ökonomen Friedrich List verbunden, den Eric Helleiner in seiner Monografie zwar würdigt, vor allem aber als einen von vielen „Neomerkantilisten“ verstanden wissen möchte, die im 19. und 20. Jahrhundert entsprechende Positionierungen entwickelt haben. Helleiner schreibt seine „Global Intellectual History“ aus der disziplinären Perspektive der im angelsächsischen Raum seit den 1970er-Jahren entstandenen Internationalen Politischen Ökonomie (IPE). In den Theoriegebäuden der IPE sieht Helleiner drei Denktraditionen („ideologies“) wirksam: Wirtschaftsliberalismus, Marxismus und eine dritte, weniger prominent reflektierte Strömung, die er mit Begriffen wie „protectionism“, „realism“ (aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen: Fokus auf staatliches Eigeninteresse), „economic nationalism“ und „[developmental] statism“ nicht genau genug getroffen sieht: „I define neomercantilist ideology in the pre-1939 period as a belief in the need for strategic trade protectionism and other forms of government economic activism to promote state wealth and power in the post-Smithian age.“ (S. 4)

Helleiner versucht sich in seiner Monografie an einer globalen Ideengeschichte des „Neomerkantilismus“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die über die um Friedrich List (Teil I, Kapitel 1–4) und Henry Carey (Teil II, Kapitel 5–6) zentrierten Diskussionszusammenhänge hinausgeht – er strebt nach einer möglichst breiten Diversifizierung von Standpunkten. Leider, so bedauert Helleiner selbst (S. 26–27), geraten auch so keine einflussreichen Beiträge von Frauen in den Blick. Über die westlichen Diskussionen hinaus spürt er chinesischen, japanischen und koreanischen Überlegungen und Traditionen nach (Teil III, Kapitel 7–9), um schließlich in einer zunehmend eklektischen Bewegung einzelne „neomerkantile“ Theoretiker und Praktiker aus Russland, Kanada, Ägypten, Polen, Lateinamerika und dem späten Aschantireich in den Blick zu nehmen (Teil IV, Kapitel 10–12). Diese globale Perspektive erscheint allein deswegen wichtig, weil – wie Helleiner im Schlussteil diskutiert – in die politische Formierung der weltwirtschaftlichen Ordnung nach 1945, etwa in Bretton Woods, Protagonist:innen und Stimmen buchstäblich aus aller Welt involviert waren, die gerade im Fall asiatischer und lateinamerikanischer Vertreter:innen oft „neomerkantil“ geprägt waren.

Helleiner selbst charakterisiert sein Buch als „primarily a history of ideas rather than a history of their political influence“ (S. 29), doch ist es bei genauerer Betrachtung weder das eine noch das andere; der Titel des Buches lautet treffend „The Neomercantilists“, nicht: „Neomercantilism“. Es handelt sich also um eine Geschichte von Autoren bzw. genauer Autoritäten, „whose ideas were politically influential“ (S. 23). Es geht nicht darum, neomerkantile Kernideen herauszuarbeiten (solche werden weder in der Einleitung noch im Schluss überhaupt systematisch erwähnt), sondern einzelne einschlägige Autoren kurz in intellektuelle Kontexte zu stellen und zu reflektieren, welche Vorgänger sie gekannt haben und durch wen sie beeinflusst worden sein könnten (ceterum censeo: der intellektuelle Einfluss von List sei überschätzt). Die Diskussion ist durchaus von Fall zu Fall interessant, gerade angesichts der angelegten globalen Spannweite. Doch verflüchtigt sich im Verlauf des Buchs mehr und mehr der anfängliche Eindruck, dass hier eine zusammenhängende, konsistente Geschichte rekonstruiert wird. Die Erzählung löst sich auf, der rote Faden zerfasert zunehmend.

Das Vorhaben einer „Global Intellectual History“ ist bravourös, bei der Umsetzung stehen Helleiner aber unter anderem die eigenen konzeptuellen Prämissen im Weg. In diesen Prämissen spielt die Autorität von Adam Smith in mehrfacher Hinsicht eine zu große Rolle. Helleiners Definition von Neomerkantilismus als politökonomischer Ideologie „in the post-Smithian age“ ist nicht einfach eine Chiffre dafür, dass Neomerkantilismus erst ab etwa 1800 relevant wird. Vielmehr sei für den Neomerkantilismus gerade die explizite Auseinandersetzung mit Smith wesentlich. Die Relevanz von Smith spiegelt sich auch bereits im Begriff des Neomerkantilismus selbst, der die Smithsche Begriffsprägung „Merkantilismus“ direkt aufnimmt und per „Neo“-Präfix impliziert, dass es einen tiefen, eben von Smith verursachten Unterbruch im merkantilistischen Denken gegeben habe. Damit ist das Ideengebäude selbst schon westlich, genauer anglozentrisch – und damit kann politische Ökonomie in Asien oder Westafrika, die nicht in direkter oder indirekter Auseinandersetzung mit Smith entstanden ist, in eine globale Ideengeschichte nur noch so weit unterschlüpfen, wie sich die einzelnen Ideen auf den angelsächsischen Bezugsrahmen reimen.

Auch legt der Begriff (Neo-)Merkantilismus eine implizite Perspektive des Buchs im Spiel der erwähnten „drei Ideologien“ der IPE (Liberalismus, Marxismus und Neomerkantilismus) fest. Ebenso wie der fundamental systemkritische Marxismus erscheint auch der Neomerkantilismus in erster Linie als Antwort auf den Liberalismus – der Marxismus als Systemkritik an der Marktwirtschaft, der Neomerkantilismus als politökonomisches Komplement oder Antithese zum Liberalismus innerhalb des marktwirtschaftlichen Denkens. Helleiners Definition des Neomerkantilismus als „belief in the need for strategic trade protectionism and other forms of government economic activism“ (S. 4) ist eine genaue Invertierung des liberalen Programms. Wirtschaftsliberalismus erscheint so implizit als politökonomische Norm und selbstverständliche Ausgangsposition, und Neomerkantilismus als die überraschend vielfältigen Versuche, dagegen anzudenken.

Das könnte man aber ebenso andersherum betrachten. Wenn Neomerkantilismus im Kern bedeutet, dass ein Staatswesen seine (außen-)wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten zum eigenen Vorteil einsetzt, und Liberalismus im Kern, dass ein Staatswesen genau davon absieht: Welche der beiden politischen Logiken erfordert den größeren politökonomischen Begründungsaufwand? Ist nicht gerade der selbstverständliche Rückgriff auf Zölle, Privilegierungen, Subventionierungen die Ausgangsposition, und Liberalismus der Versuch, dagegen anzudenken? Ist das Erklärungswürdige nicht vielleicht eher, dass sich Wirtschaftsliberalismus zweimal (Mitte des 19. Jahrhunderts und seit den 1970er-Jahren) in der globalen politischen Praxis als dominantes politökonomisches Paradigma durchzusetzen vermochte? Neomerkantilismus als eine unterschätzte, erst sichtbar zu machende Denkrichtung dagegen zu stellen, erscheint eigentlich fast nur aus einem dezidiert angelsächsischen Blickwinkel möglich.

Und natürlich geht es Helleiner letztlich genau darum: um eine Bereicherung der Theoriebildung in der angelsächsischen IPE durch ideengeschichtliche Impulse auf Basis englischsprachiger Literatur und englischer Übersetzungen einschlägiger Werke aus aller Welt. Dies gelingt ihm in beeindruckender Breite und Sicherheit. Der konzeptuelle Rahmen für all dies ergibt sich „von hinten“, aus der Diagnose relevanter Denktraditionen der heutigen IPE. Es ist eine disziplinengeschichtlich gebundene Sichtweise, bzw. eine Argumentation für die Einbindung übersehener, doch relevanter Traditionsstränge in das intellektuelle Fundament einer stark angelsächsisch geprägten Disziplin.

Als wirkliche globale Ideengeschichte kann das Buch aber nur bedingt funktionieren, da der „neomerkantile“ Denkzusammenhang als recht konstruierter Gegenstand erscheint. Anders als Liberalismus und Marxismus wird er bei Helleiner nicht durch eine gemeinsame Leitfigur (adé, List), nicht durch Institutionalisierungen, auch nicht durch ein Gruppenbewusstsein oder eine zeitgenössische Zuschreibung desselben „Labels“ konstituiert (träfe auch nur einer der vier Punkte zu, müsste man nicht mühsam einen Sammelbegriff wie den Neomerkantilismus einführen). Vielmehr basiert er für ihn auf der Ähnlichkeit von Ideen bzw. Positionierungen zu einer einzelnen, recht generellen Frage: ob „strategic trade protectionism and other forms of government economic activism to promote state wealth and power“ (S. 7) statthaft sind. So landet man dann doch wieder in einem Pantheon großer Männer unter großen Bannern, wenn auch einem angemessen modernisierten: ohne Pathos und Werturteile, inklusiver, globaler, mit oft noch unvertrauten Figuren. Ein Ort, an dem man, mit entsprechendem Erwartungsmanagement, auch als Historiker:in durchaus mit Gewinn wandeln kann.