B. Belina u.a. (Hrsg.): Ungleiche ländliche Räume

Cover
Titel
Ungleiche ländliche Räume. Widersprüche, Konzepte und Perspektiven


Herausgeber
Belina, Bernd; Kallert, Andreas; Mießner, Michael; Naumann, Matthias
Reihe
Kritische Landforschung. Umkämpfte Ressourcen, Transformationen des Ländlichen und politische Alternativen
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inga Haese, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin

Wer auf dem Land lebt, in einer Region, die weit vom nächsten Zentrum entfernt ist, zumal in Ostdeutschland, der oder die fragt sich gelegentlich, warum eigentlich die Schulen so weit, die Ärzte so rar und die sozialen Angebote so spärlich seien – denn gleichwertige Lebensverhältnisse, das gilt für Stadt und Land genauso wie für Ost und West, sind im Grundgesetz der BRD verankert. Der Blick auf Ländlichkeit allein ist es nicht mehr, der die räumliche Verteilung von Merkmalen der Strukturschwäche wie Arbeitslosigkeit, eine schlechte digitale Infrastruktur oder niedrige Haushaltseinkommen erklären kann, das erfahren wir im zweiten Band der Reihe „Kritische Landforschung“, der sich mit ungleichen ländlichen Räumen im deutschsprachigen Raum befasst. Es sind vielschichtige Ursachen, die in ihrer Überlagerung erfasst werden müssen und erst als Zusammenspiel von Perspektiven den Forschungsgegenstand des ländlichen Raums hervortreten lassen. Hatte der erste Band der Buchreihe die Revision der englischsprachigen Diskussion für eine kritische Landforschung geliefert1, so erkunden die Autor:innen des zweiten Bandes die verschiedenen Dimensionen der ungleichen Entwicklung ländlicher Räume und warten mit vielfältigen empirischen Forschungsergebnissen überwiegend aus Deutschland, aber auch aus Österreich und der Schweiz auf.

Der Band ist in vier inhaltliche Schwerpunkte gegliedert. Zunächst geht es um die konzeptionellen Zugänge zu ländlicher Entwicklung, gefolgt von Aufsätzen zur Entwicklung und Neuordnung von Stadt-Land-Verhältnissen. Der sozioökonomische Wandel wird in ruralen Kontexten empirisch beleuchtet und schließlich behandelt der vierte Teil Migration, Identitäten und Populismus in ländlichen Räumen. Zu begrüßen ist die Vielfalt der Themen, die einen Bogen von Fragen zur sozialökologischen Transformation über das Tabuthema ländliche Armut, Themen der ruralen Geschlechterforschung bis hin zur Erforschung von Bleibebedingungen für Migrantisierte in ländlichen Räumen schlägt. Obwohl die Autoren als Ausgangspunkt ihres Bandes die „relativ banale und gut dokumentierte Einsicht“ (S. 19) nennen, dass ländliche Räume von vielfältigen Ungleichheiten gekennzeichnet seien, ist das Spektrum der Texte beachtlich. Ebenso vielfältig wie innovativ sind die empirischen Ansätze, die in den Beiträgen vorgestellt werden – sie reichen von Akteur-Netzwerk-Analysen der ländlichen Assemblierungen (Marc Redepenning) über die Critical Whiteness-Perspektive auf ländliche Diversität (Birgit Glorius) bis zu Geschlechterbildern und Sicherheit (Daniela Klimke). Historisch angelegt ist Jörg Goldbergs Beitrag, dem es um die Rekonstruktion der Bauernfrage und eine geschichtliche Einordnung der Agrarfrage in internationalem Kontext geht. Die Eröffnung der Diskursfeld- und Analysedimension über das Gute Leben auf dem Land (Werner Nell) erschließt wiederum den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Stadt-Land-Verhältnisses. Im Anschluss an die im ersten Teil begrifflich stark an eine marxistische Tradition anknüpfenden Texte gibt es im weiteren Teil des Bandes Ausblicke auf postmarxistische Lesarten, zum Beispiel wie ländliche Räume als „Keimzellen der sozialökologischen Transformation“ (Unthan u.a.) verstanden werden können.

Die Herausgeber sehen die Theorietradition der Kritischen Geographie unter Einfluss von Neil Smith und David Harvey wie ein „unsichtbares Band“ (S. 10) zwischen den Aufsätzen des Sammelbandes: Smiths Überlegungen zu ungleicher Entwicklung stehen wie die von Harvey in neomarxistischer Denktradition zu räumlichen Entwicklungen. Die Herausgeber weisen in ihrem Einleitungsbeitrag auf mögliche Anschlüsse für Fragen ländlicher Entwicklung hin und zielen im Kern auf die Widersprüche von Mobilitätseffekten und der Verfügbarkeit von Infrastruktur ab: „Einerseits vergrößert sie den Absatzmarkt sowie die Absatzgeschwindigkeit von Waren, die in ländlichen Räumen produziert werden. Andererseits ermöglichen Infrastrukturen einen globalen Wettbewerb, bei dem vor allem das Kapital in städtischen Zentren profitiert.“ (S. 13f.) Die Autoren besprechen in der Folge ungleiche ländliche Räume in der BRD und brechen damit ihre in globalem Maßstab operierende Theorie auf empirisches Anschauungsmaterial herunter, auch weil sie ihren Beitrag zu einer Kritischen Geographie als Beitrag für konkrete Veränderungen verstanden wissen wollen.

Im konzeptionellen Teil des Bandes sticht der Text von Sarah Ruth Sippel und Michaela Böhme zu „Gemeinschaftliches Gut, nationales Territorium, Finanzanlageobjekt. Aktuelle Neuaushandlungen von Land“ hervor, der nachvollzieht, wie es von der „Marginalisierung von Land zum Land Rush“ (S. 118) kam. Land Rush bedeutet hier das gesteigerte Interesse von Konzernen und Investoren an Agrarland seit der globalen Finanzkrise 2008, der Begriff Rush spielt auch auf die Bedeutung des Rauschzustandes an. Zunächst zeichnen die Autorinnen diskursanalytisch nach, wie sich die von Akteur-Netzwerk-Theorie und Hybriditäts-Verständnissen beeinflusste Landforschung seit den 1990er-Jahren zunehmend auf Mensch-Umwelt-Beziehungen verlagert hat (S. 119f.). Der Blick auf die Diversität von „more-than-human“-Akteuren habe „[p]olitökonomische Dimensionen, die Land und Landschaft prägen, […] zugunsten der Komplexität dieser Akteursbeziehungen in den Hintergrund [gerückt]“ (S. 120). Andererseits hätten Konzepte einer kritischen Land-Rush-Literatur wie die Kommodifizierung, Einhegungen und Akkumulation durch Enteignung „andere“ Beziehungen zu Land nicht berücksichtigt, wie es im more-than-human-natures-Literaturstrang geschehe. Die Autorinnen betonen die Bedeutung von Land als Anlagegeographie in der Dynamik der Suche nach geeigneten Finanz- und Anlageobjekten in den letzten 15 Jahren. Diese würden Land neu formatieren und spiegelten sich in der Materialität, der örtlichen Gebundenheit, wider – etwa, wenn die Bodenqualität wichtiger erscheine als Faktoren wie Klimaschutz. Diese Neu-Verräumlichung von Land fordere auch den Staat als Akteur von Regulierungspolitiken heraus, denn die deregulierten Kapitalmärkte des Land Rush können national kaum begrenzt werden, stattdessen werde „versucht, staatliche Souveränität und Kontrolle durch die Wiederbelebung nationaler Rhetorik zu suggerieren“ (S. 124). Widerständige Taktiken als Gegenbewegungen seien daher ein Weg, wie auf die Neu-Verräumlichung von Land reagiert wird. Als Beispiel gelungener Einhegung in Form von lokaler Aushandlung ziehen die Autorinnen etwa ein Beispiel aus Madagaskar heran, wo der Konzern Daewoo 2008 rund die Hälfte der Inselfläche als Ackerland kaufen wollte, der Vertrag aber durch Proteste annulliert wurde.

Als Antwort könnte auch der Beitrag von Nils Unthan, Jacob Heuser und Armin Kratzer im zweiten Buchteil dienen, die das „Potenzial raumproduzierender sozialer Praktiken sowie sozialer Bewegungen in ländlichen Räumen für sozialökologische Transformationsprozesse“ (S. 219) herausarbeiten. Die Autoren beziehen sich auf soziale Innovationen und definieren diese als soziale Praktik2, die „zu einem gegebenen Zeitpunkt und an [einem, d.Verf.] bestimmten Ort“ (ebd.) mit hegemonialen Herangehensweisen bricht. Dazu werten sie ihre empirische Forschung zu UNESCO-Biosphärenreservaten in ländlich-peripheren Gebirgsregionen der Schweiz und Österreich aus. Als Ziele einer Transformation nennen die Autoren erstens die Anpassung an sich verändernde Bedingungen und zweitens die Schaffung von Grundlagen für das gute Leben für alle. Das soziale Experiment, das die Beforschten eingehen, bestehe darin, dass sie sich eine alternative Zukunft vorstellen können und gewohnte Abläufe, Werte, Normen oder hegemoniale Raumideologien hinterfragen.3 Die überraschende Erkenntnis der Autoren ist nun, dass sich kreative Experimentierfreudigkeit nicht, wie erwartbar, in lebendigen, urbanen Zentren abzeichnet, sondern in peripheren Regionen, in denen es Nischen für soziale Experimente, lokale Bezüge, ein Wechselverhältnis zwischen dem „Wunsch nach einer glücklichen Gemeinschaft und einem Problemverständnis für lokale Herausforderungen“ gebe (S. 228). Das Ergebnis wirft indes Fragen auf, ob solche vorgefundenen Praktiken hegemoniale Raumideologien, gewohnte Dichotomien von Stadt und Land, tatsächlich verändern oder ob sie diese nicht eher in Ansätzen irritieren.

Den dritten Teil, der sich mit dem sozioökonomischen Wandel in ruralen Kontexten beschäftigt, führt Claudia Neu mit einer ungleichheitssoziologischen Betrachtung ein und erinnert daran, warum die Ungleichheitssoziologie „bis heute“ mit ländlichen Räumen „fremdelt“ (S. 237), nämlich erstens qua Selbstverständnis einer Soziologie, die sich von Beginn an als die Wissenschaft der modernen, industrialisierten Gesellschaft verstand und sich bis heute über die Entstehung von Großstädten mit diesen identifiziert, zweitens aber auch, weil die Raumkategorie „quer“ zu anderen Ungleichheitsdimensionen wie Einkommen oder Bildung liege (ebd.). Auch Neu attestiert ländlichen Räumen eine neue Aufmerksamkeit, die sie an Prozessen der Verräumlichung der letzten dreißig Jahre festmacht: Entwicklungen, die neue Peripherien und ökonomische sowie demografische „Problemzonen“ schufen (S. 239). Neu begründet das politische Interesse an ländlichen Räumen mit dem Erstarken rechter Parteien und diagnostiziert eine „Repolitisierung des Räumlichen“ (S. 240). Dazu gehöre, dass ungleiche Zugänge zu Gütern und Dienstleistungen territoriale Ungleichheit ausdrückten, denn während daseinsvorsorgende Infrastrukturen Ungleichheiten dämpfen, können fehlende Erreich- und Verfügbarkeiten solcher Einrichtungen Lebenschancen einschränken. Ihr Fazit: Nicht mehr die Stadt-Land-Unterschiede tragen zur Erklärung territorialer Ungleichheiten und ungleichwertiger Lebensverhältnisse bei, sondern entscheidend sei die Wirtschaftskraft einer Region – unabhängig davon, wie ländlich sie geprägt sei (S. 244). In Ostdeutschland sei die Wahrnehmung gleichwertiger Lebensverhältnisse jedoch deutlich geringer ausgeprägt als im Westen und verbinde sich mit „infrastrukturellen und politischen Verlustnarrativen“ (S. 247), was den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde. Die Autorin schließt ihren Beitrag nicht mit dem Verlustnarrativ, sondern ergänzt mit den vielen kreativen Gegenbewegungen, die in den letzten Jahren in den infrastukturellen Lücken und Brachen entstanden seien, berichtet von Neulandgewinnern und Sozialen Orten, die auf ungewöhnliche Weise eine Wiederbelebung der ländlichen Räume im Osten anstrebten. Neu unterstellt ihnen ein „gewisses urban mindset“ (S. 248) und bewertet diese lokalen Gruppen als Brücke zwischen Nahraum und Gesellschaft, weil sie intermediäre Strukturen ausbildeten.

Wichtige Widersprüche fördert auch eine Auswertung von Gruppendiskussionen von Daniela Klimke zu Geschlecht und Sicherheit auf dem Land zutage. Klimke rekonstruiert, wie Geschlecht im ländlichen Raum essenzialisiert wird, gerade in der Figur der sexuell gefährdeten Landbewohnerin, die in dichotomer Abgrenzung vom übergriffigen Mann erzeugt wird. Im Gruppengespräch über Schlägereien zeigen sich zugleich betont maskulinistische Männlichkeitsbilder (S. 283f.), und so treffen die „antipatriarchalen gesellschaftlichen Diskurse […] die vermeintlich innere Natur von Männlichkeit wie gleichfalls die mit ihr verknüpfte Männlichkeit“ (S. 286). Die gesellschaftliche Konstruktion von Ländlichkeit, sie ist eng mit dieser Männlichkeit verbunden.

In den Kanon der Kritischen Geographie hat es allerdings kaum eine feministische Geographin oder Stadtforscherin geschafft. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ausschließlich sich Kritische Geographie mit Marx, Harvey, Adorno und Levebvre verbunden sieht, den Ur-Vätern der kritischen Stadtforschung, obwohl als kritische Theorietradition auch Jennifer Robinsons konzeptioneller Vorschlag, Städte als „ordinary cities“ zu betrachten, immerhin Basis einer postkolonialen Stadttheorie4, beachtenswert für das Nachdenken über ländliche Räume sein könnte – oder Anne Vogelpohls Idee einer „lefebvresch-feministischen“ Stadtforschung.5 Im Beitrag von Gesine Tuitjer über die Rurale Geschlechterforschung werden Ursprünge feministischer Theorietraditionen genannt, doch wirkt die eingeforderte Verortung „innerhalb der Gleichheits-Differenz-Debatte sowohl der Raum- als auch der Geschlechterforschung“ wieder wie ein Appendix für feministische Kritik, die keinen Platz innerhalb neomarxistischen Mainstream-Denkens hat, obwohl Tuitjer deutlich macht, dass die Forderung des Ökofeminismus nichts weniger als die Forderung nach „Veränderung des Systems“ (S. 91) gewesen sei. Nämlich eines Systems, das die Grundlagen seiner als unerschöpflich geltenden Wiederherstellung nicht „bekümmert“.6 Trotz dieser Kritik sind sämtliche Forschungsergebnisse dieses anregenden Bandes, gerade wegen ihrer Widersprüche, aus der Hoffnung gespeist, eine sozialökologische Transformation könne von Akteur:innen in ländlichen Räumen neue Impulse erwarten.

Anmerkungen:
1 Lisa Maschke u.a., Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven, Bielefeld 2021.
2 In Anlehnung an Jürgen Howaldt / Michael Schwarz, Soziale Innovation – Konzepte, Forschungsfelder und -perspektiven, in: Jürgen Howaldt u.a. (Hrsg.), Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2020, S. 87–108.
3 Die Autoren beziehen sich auf Benedikt Schmid u.a., Keimzellen für die Transformation. Postwachstum und Raumentwicklung, in: oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.), Möglichkeitsräume. Raumplanung im Zeichen des Postwachstums, München 2020, S. 19–27.
4 Lars Frers u.a., Theoretische Positionen der Stadtsoziologie, Weinheim 2018, S. 170.
5 Anne Vogelpohl, Henri Lefebvres „Recht auf Stadt“ feministisch denken. Eine stadttheoretische Querverbindung von 1968 bis heute, in: sub\urban 6,2 (2018), S. 149–158.
6 Adelheid Biesecker / Sabine Hofmeister, Zur Produktivität des „Reproduktiven“. Fürsorgliche Praxis als Element einer Ökonomie der Vorsorge, in: Feministische Studien 2 (2013), S. 240–252, hier S. 242.