Vor etwa zwei Jahrzehnten rückte die Eisenbahn im Zuge der verstärkten Auseinandersetzung mit Raum in den Fokus historischer Analysen. Das Interesse scheint bis heute ungebrochen und bezieht sich auch auf die tiefgreifenden Veränderungen, welche das Transportmittel des 19. Jahrhunderts in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit sich brachte.1 Anhand der Eisenbahninfrastruktur lässt sich nachvollziehen, wie Raum vermessen und beherrschbar wurde, wie dank des neuen Verkehrsmittels die Mobilität der Menschen zunahm und wie sich die Wahrnehmung der durchreisten Landschaft änderte. Auch zur Tschechoslowakei liegen bereits einige Studien vor, die sich mit den technischen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten des Eisenbahnbaus auseinandersetzen.2
Beide hier besprochenen Publikationen bauen darauf auf, indem sie jeweils einen historischen Neuanfang zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen nehmen. Während Felix Jeschke seine Untersuchung mit der tschechoslowakischen Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1918 beginnt, wählt Tomáš Nigrin das Jahr 1945 als Startpunkt seiner Studie. Die zeitliche Überschneidung beider Bücher ist damit marginal, denn während Felix Jeschke sein gesamtes Buch der Zwischenkriegszeit widmet, geht Tomáš Nigrin lediglich im einführenden Kapitel kurz auf die Zeit von 1918 bis 1938 ein, um dann den staatsozialistischen Eisenbahnbetrieb zu beschreiben. Wie sich die Ereignisse der Jahre 1938 bis 1945 auf das Bahnwesen auswirkten, erörtern beide Autoren in knappen, jeweils das eigentliche Thema aus- beziehungsweise einleitenden, Sätzen. Beide Monografien stützen sich auf eine Vielzahl von Quellen auf Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch und Deutsch. Neben Zeitungen und Zeitschriften werten beide Autoren Archivmaterialien des Eisenbahnministeriums und verschiedener Regionalarchive aus. Nigrin nutzt darüber hinaus Unterlagen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei sowie Gesetzestexte, die das Eisenbahnwesen betreffen. Beide Werke enthalten grafische Abbildungen, wobei die Qualität der beiden Karten in Nigrins Buch leider nicht besonders gut ist.
Felix Jeschkes in der Reihe „Explorations in Mobility“ veröffentlichte Monografie widmet sich der Rolle der Eisenbahn bei der Schaffung eines nationalstaatlichen Territoriums. Mit der Gründung des tschechoslowakischen Staates sah sich die politische Führung vor die Herausforderung gestellt, die verschiedenen Landesteile, die zuvor zur ungarischen beziehungsweise zur österreichischen Reichshälfte der Monarchie gehört hatten, zu einem einheitlichen Staatsgebiet zu vereinigen. Um dies zu erreichen, sollten die verschiedenen Regionen durch neue Eisenbahnverbindungen miteinander verbunden werden. Zugleich wurde in Reden, Zeitungsartikeln und politischen Programmen die modernisierende Wirkung der Eisenbahn beschworen. So habe Tomáš G. Masaryk bereits im Jahr 1898 darauf hingewiesen, dass die Eisenbahnen ebenso zur Erziehung der Nation beigetragen hätten, wie die Schulen (S. 8). Den Eisenbahndiskurs stellt Jeschke in diesem Sinne (und analog zu Haslingers Ausführungen über politische, literarische und akademische Diskurse) als „Arbeit am nationalen Raum“ vor.3 Als „banaler Nationalismus“4 im Sinne Michael Billigs habe die Eisenbahn als wirksames Mittel zur Festigung des jungen tschechoslowakischen Staates gedient und ihm reiche Möglichkeiten der Selbstrepräsentation – sei es auf Eisenbahnkarten, im Signalwesen oder in der Bahnhofsarchitektur – gegeben.
Im ersten Kapitel erörtert Jeschke Vorhaben, die sowohl die Wiederherstellung von im Ersten Weltkrieg zerstörten Strecken als auch den Bau von Verbindungslinien in die verschiedenen Regionen betrafen. Den Plan, eine Strecke einzurichten, welche die Karpato-Ukraine (bei Jeschke: „Carpathian Ruthenia“) mit der Slowakei und den böhmischen Ländern verband, begrüßte das Parlament von allen Seiten. Die Erwartung jedoch, durch den Aufbau eines einheitlichen Eisenbahnnetzes auch einen geeinigten Nationalstaat zu schaffen, ging laut Jeschke nicht auf. Zwar gelang die Integration einzelner Teilgebiete teilweise, jedoch vertieften sich Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen und im slowakischen Landesteil entstanden separatistische Tendenzen. Wie Jeschke überzeugend herausarbeitet, waren dafür nicht zuletzt die teils paternalistischen, teils kolonialistischen Untertöne in Politikerreden und Presseartikeln ausschlaggebend. So wurde im öffentlichen Diskurs über den Ausbau des Eisenbahnnetzes zwar die Entstehung eines einheitlichen tschechoslowakischen Staates beschworen, zugleich aber eine geographische Hierarchisierung vorgenommen, bei der die böhmischen Länder als „Mutterland“ an oberster Stelle standen.
Im zweiten Kapitel untersucht Jeschke, welche Bilder des jungen tschechoslowakischen Staates in den Berichten von Bahnreisenden gezeichnet wurden. Konnte das Reisen auf Strecken eines nationalen Bahnnetzes Gefühle der Zugehörigkeit zum Nationalstaat erzeugen? Insbesondere wie die Karpatenukraine in Reiseberichten dargestellt wurde, lässt Jeschke schlussfolgern, dass dem nicht so war. In einer Vielzahl der Beschreibungen findet der Verfasser romantisierende und orientalisierende Darstellungen des östlichen Landesteils. Dieser sei zwar für seine Ursprünglichkeit und Naturbelassenheit gepriesen, zugleich aber auch als das „Andere“, das nicht so recht zum Rest des Landes gehöre, betrachtet worden. Gleichzeitig versuchte die Tourismuswerbung, das Land für ausländische Reisende attraktiv zu machen und stellte die zahlreichen internationalen Eisenbahnverbindungen heraus.
Die konfliktreiche Gemengelage, die im multiethnischen tschechoslowakischen Staat der Zwischenkriegszeit herrschte, zeigte sich auch bei Vorfällen im Eisenbahnverkehr. Das dritte Kapitel handelt von den Differenzen, die sich an Themen rund um die Eisenbahn entzündeten. So weigerte sich etwa ein tschechischsprachiger Reisender auf einer Fahrt im deutsch-tschechischen Grenzgebiet, seine Fahrkarte vorzuzeigen, weil der Bahnbeamte nur Deutsch sprach (die sogenannte „Jireš-Affäre“). Auch nahmen Vertreter verschiedener Bevölkerungsgruppen immer wieder Anstoß an der „falschen“ Schreibweise von Orten und die Regierung musste beim Völkerbund Rechenschaft darüber ablegen, warum der Anteil tschechischer Eisenbahnbeamter viel höher war als der anderer Bevölkerungsgruppen.
Im vierten und fünften Kapitel analysiert Jeschke, wie das Konzept eines einheitlichen tschechoslowakischen Staates visuell verankert werden sollte. Am Beispiel zweier in unterschiedlichen architektonischen Stilen errichteten Bahngebäuden verdeutlicht er die ambivalenten Repräsentationsbestrebungen. So sollte das 1928 bis 1936 im monumentalen Stil errichtete Bahnhofsgebäude in Hrádec Králove die Internationalität und Modernität des jungen tschechoslowakischen Staates unterstreichen, während das 1930 in Uherské Hradiště errichtete Gebäude Anleihen am folkloristischen Stil mährisch-slowakischer Bauernhäuser dieser Region nahm. Das letzte Kapitel widmet sich schließlich dem Hochgeschwindigkeitszug Slovenská Strela, der ab dem Jahr 1936 zwischen Prag und Bratislava verkehrte und als Symbol eines geeinigten, modernen und internationalen Landes fungieren sollte.
Felix Jeschkes Buch endet mit einem Ausblick auf die Entwicklungen unter kommunistischer Führung. Seine Bewertung der problematischen wirtschaftlichen Lage, in der sich der Eisenbahnsektor in dieser Zeit befand, deckt sich mit den Beschreibungen Tomáš Nigrins, bei dem diese Periode im Mittelpunkt steht. In seiner Einleitung formuliert letzterer mehrere Hypothesen, die allerdings nur schwer fassen lassen, was die zentrale Fragestellung der Untersuchung ist. Zwar ist die Arbeit gut gegliedert und der Text flüssig geschrieben, die Fülle an Themen und Fakten kann jedoch auch eine geübte Leserin überfordern. Dieser Eindruck wird durch die vielen im Buch enthaltenen Abbildungen und Statistiken, die Nigrins Ergebnisse ansonsten anschaulich untermauern, noch verstärkt.
Am Beginn seiner wirtschaftshistorischen Studie konstatiert Nigrin, dass die Ausgangsbedingungen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht schlecht gewesen seien. Bereits im Jahr 1944 war mit Reparaturarbeiten am Schienensystem begonnen worden. Als Transportmittel nachkriegsrelevanter Rohstoffe wie Kohle und Eisenerz kam der Eisenbahn eine wichtige Funktion zu, so dass viel Geld in die Wiederherstellung zerstörter Streckenabschnitte und die Einführung neuer Technologien investiert wurde. Da die meisten privaten Eisenbahnunternehmen bereits im Jahr 1925 verstaatlicht worden waren, konnte der Betrieb durch die staatliche Eisenbahngesellschaft (ČSD) ohne größere Umstrukturierungen weitergeführt werden. Das alles waren Gründe dafür, dass bereits im Jahr 1948 sowohl die Zahl der transportierten Güter als auch der Passagiere jene des Vorkriegsjahres 1937 überstieg.
Trotz der guten Ausgangslage verschlechterte sich der Eisenbahnverkehr im Laufe der Zeit. Am Ende der 1980er-Jahre habe sich den Passagieren der tschechoslowakischen Eisenbahnen ein trauriges Bild geboten: „Crowded, slow, dirty, frequently delayed, outmoded trains; dilapidated stations; and lack of care and respect for passengers on the part of the railway employees.” (S. 201) Im Kapitel „Conditions in the Railway Sector“ wertet Nigrin unter anderem Gutachten aus, die diese Zustandsbeschreibung belegen. Wie konnte es dazu kommen, dass die Bahn zu einem immer unzuverlässigeren, ineffizienteren und wenig komfortablen Verkehrsmittel wurde?
Um Antworten auf diese Frage zu finden, wählt Nigrin die Methode der Politikfeldanalyse und vergleicht unter anderem die in den acht Fünfjahresplänen für den Eisenbahnsektor formulierten Zielvorgaben mit der realen Entwicklung. Zwar konnten schon die Vorgaben des ersten Fünfjahresplanes nicht vollständig erreicht werden, jedoch erzielte der Eisenbahnsektor hinsichtlich des Transports von Gütern und Personen Ende der 1940er und Anfang der 1950er-Jahre insgesamt gute Resultate. Nigrin führt das auf das allgemeine Wirtschaftswachstum dieser Zeit zurück. Insbesondere die sich gut entwickelnde Schwerindustrie habe der Eisenbahn große Transportvolumen beschert. Die in den folgenden Fünfjahresplänen für den Eisenbahnsektor formulierten Ziele konnten jedoch, wie jene anderer Wirtschaftssektoren auch, nur selten oder mit Verzögerung erreicht werden. Am Beispiel der Elektrifizierung des Lokomotivparks, die erst 1980 (und nicht wie geplant 1970) vollendet wurde, macht Nigrin deutlich, wie sehr die Realität den Plänen hinterherhinkte. Schuld an der verspäteten Elektrifizierung sei unter anderem der Mangel an entsprechenden Bauteilen gewesen. Um an die fehlenden Teile heranzukommen, seien nicht selten die Verantwortlichen der Zulieferfirmen bestochen oder informelle Beziehungen zwischen diesen und Vertretern der Kommunistischen Partei hergestellt worden.
Weitere Gründe für den stetigen Verfall des Bahnwesens sieht Nigrin in den zu niedrigen staatlichen Subventionen bei einem gleichzeitigen Verbot, die Fahrpreise im Personenverkehr zu erhöhen. Ab den 1970er-Jahren kam es zu einem Wandel in der Verkehrspolitik. Da der Verkehr auf der Straße weniger Investitionen verlangte als der auf der Schiene, verlagerte sich das Interesse der Staatsführung; in den 1980er-Jahren hatten die Autoritäten den Eisenbahnverkehr schließlich fast vollständig abgeschrieben. Mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft nahm die Konkurrenz durch den Straßenverkehr nochmals zu. Erst nach dem Jahr 2000 kam es, nicht zuletzt auf Druck der EU, zu Reformen bei den tschechischen Eisenbahnen.
Obwohl beide Arbeiten einen unterschiedlichen disziplinären Zugang wählen und unterschiedliche Zeiträume betrachten, lassen sich doch gemeinsame Perspektiven und Thesen erkennen. So erläutern beide Autoren, wie die jeweilige politische Führung die Eisenbahn mit symbolischer Bedeutung auflud und sie – weit über ihre Funktion als Transportmittel hinaus – für ihre Zwecke nutzbar machte. Der zwischen Prag und Bratislava verkehrende Hochgeschwindigkeitszug Slovenská Strela sollte, wie Jeschke zeigt, als Sinnbild für die Fortschrittlichkeit und Modernität des jungen tschechoslowakischen Staates stehen. Das im Jahr 1936 von Vilém Rotter zu Werbezwecken geschaffene Plakat des Slovenská Strela, welches Jeschkes Buch als Cover dient, findet sich als Abbildung auch bei Nigrin. Anhand der Bedeutung der Eisenbahnen bei der Durchführung der Spartakiaden erörtert Nigrin wie ein reibungsloser Ablauf im Bahnverkehr auch die Regierungstätigkeit in ein gutes Licht rücken sollten. Beide Autoren widmen sich außerdem den Bediensteten im Eisenbahnwesen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog es sehr viele tschechische Eisenbahner in die Slowakei und die Karpatenukraine, wo sie ungarisch- und deutschsprachige Beamte ersetzten. Die Bereitschaft als Bediensteter im Eisenbahnwesen Tschechisch oder Slowakisch zu lernen, war eine Voraussetzung für die Arbeit bei der tschechoslowakischen Staatsbahn. In der staatssozialistischen Periode gab es permanent Engpässe beim Personal.
Nigrins Buch eröffnet eine Reihe weiterführender Fragen, die allerdings über die historische Betrachtung hinausgehen. So wäre angesichts der heutigen Klimakrise interessant zu erfahren, ob das lange Festhalten am Transport auf der Schiene und die, im Vergleich zum Westen, späte Priorisierung des Straßenverkehrs aus heutiger Sicht nicht auch Vorteile für die Umwelt hatte. Oder wurde der durch den Bahnverkehr reduziertere Ausstoß von Kohlendioxid an anderer Stelle wieder aufgewogen? Erweist es sich für die heutigen Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei nicht auch von Nutzen, dass nicht alle unrentablen Eisenbahnstrecken im Staatssozialismus wegrationalisiert wurden und sie heute auf ein weitverzweigtes Schienennetz bauen können?
Leser:innen, die sich für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei oder den zentraleuropäischen Raum im Allgemeinen interessieren, werden die Lektüre der Arbeiten von Jeschke und Nigrin als großen Gewinn erleben. Beide Bücher zeigen, wie sich geopolitische Umwälzungen auch in der Veränderung von Verkehrsströmen niederschlagen. Während sich Jeschkes Buch mit den Hürden des nation building in einem aus dem Habsburgerreich hervorgegangenen Staat beschäftigt, liegt Nigrins Schwerpunkt auf den Fallstricken einer von oben diktierten Zentralverwaltungswirtschaft. Beide Bücher veranschaulichen, dass sich die Geschichte eines Landes aus der Perspektive seines Eisenbahnwesens auf vielerlei Weise erzählen und mit einem breiten Spektrum von Themen verbinden lässt. Insbesondere Jeschkes Arbeit beweist einmal mehr, welches Potenzial Untersuchungen haben, die sich zur Erklärung historischer Entwicklungen räumlichen Aspekten und Fragen der Mobilität zuwenden. Ob die Politikfeldanalyse, die Tomáš Nigrin vornimmt, einen besonderen Mehrwert hat, sei dahingestellt. Fest steht, dass alle mit der Wirtschaftsgeschichte des „Ostblocks“ befassten Wissenschaftler:innen seine Arbeit mit Gewinn lesen werden.
Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Jordi Martí-Henneberg, From State-Building to European Integration. The Role of the Railway Network in the Territorial Integration of Europe, 1850–2022, in: Social Science History 45 (2021) 2; Matthew D. Esposito (Hrsg.), A World History of Railway Culture, 1830–1930, London 2020 (4 Bände).
2 Vgl. u.a. Ivan Jakubec, Eisenbahn und Elbeschiffahrt in Mitteleuropa 1918–1938. Die Neuordnung der verkehrspolitischen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei, dem Deutschen Reich und Österreich in der Zwischenkriegszeit, Stuttgart 2001; Jan Kyncl, Historie dopravy na území České republiky, Praha 2006.
3 Peter Haslinger, Die „Arbeit am nationalen Raum“. Kommunikation und Territorium im Prozess der Nationalisierung, in: ders. / Daniel Mollenhauer (Hrsg.), „Arbeit am nationalen Raum“. Deutsche und polnische Rand- und Grenzregionen im Nationalisierungsprozess, Leipzig 2005, S. 9–21.
4 Michael Billig, Banal Nationalism, Los Angeles 1995.