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Titel
Das vergessene Gedenken. Die Trauer- und Gedenkkultur der Bundeswehr


Autor(en)
Nordmann, Julia Katharina
Reihe
Beiträge zur Militärgeschichte (80)
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 515 S.
Preis
€ 51,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Jaeger, Department of German and Slavic Studies, University of Manitoba

Julia Katharina Nordmanns in der Reihe „Beiträge zur Militärgeschichte“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) erschienene Studie stellt die erste umfassende wissenschaftliche Arbeit zur Gedenk- und Trauerkultur innerhalb der Bundeswehr dar. Die gut recherchierte Arbeit, die 2019 an der Universität Potsdam als Dissertation angenommen wurde, geht der Frage nach, warum sich noch bis in die 1990er-Jahre hinein keine öffentliche Gedenk- und Trauerkultur in der und für die Bundeswehr entwickelt hat. Nordmann kombiniert die geschichtstheoretischen Ansätze einer politischen Indienstnahme im Gedenken an die Gefallenen (Reinhart Koselleck) mit einer Hervorhebung individuellen Trauerns (Jay Winter).1 Letzteres wird von Nordmann allerdings vornehmlich als Ausdruck persönlicher Trauer in binnenmilitärischen Gedenkformen von Kameraden verstanden, nicht als individuelles Erinnern zum Beispiel von Hinterbliebenen.

Die Autorin greift drei systematische Hauptstränge auf, die ineinander verwoben den Trauer- und Gedenkprozess in der Bundeswehr bzw. sein Fehlen erklären können: Dies sind erstens die geschichtlichen Traditionen, die gerade seit den deutschen Befreiungskriegen das moderne Verständnis des militärischen Totengedenkens und des soldatischen Opfertodes prägen.2 Zweitens untersucht Nordmann, wie der zeitgeschichtliche Kontext in den ersten etwa 40 Jahren nach der Gründung der Bundeswehr durch Vorstellungen in der Bundeswehr selbst und Direktiven des Bundesverteidigungsministeriums in Absetzung von Reichswehr und Wehrmacht dazu führte, dass sehr lange nur eine binnenmilitärische Trauer- und Gedenkkultur existierte. Abschließend steht das Gedenken im Hinblick auf Auslandstote und Tote in tatsächlichen Kampfeinsätzen im Vordergrund, die neben binnenmilitärischen Formen des Erinnerns seit den 1990er-Jahren einen offiziellen Trauer- und Gedenkprozess in Gang setzten.

Das Buch besteht neben Einleitung und Fazit aus sechs Hauptkapiteln zu den historischen Grundlagen moderner (deutscher) Gefallenenehrung von 1813 bis in die Gegenwart, zum Zusammenhang von Veteranenvereinen und Totengedenken, zu den Soldatenbildern und Todesvorstellungen der Aufbaugeneration der Bundeswehr, zu den Toten der Bundeswehr in statistischer Hinsicht, zum sprachlichen und rituellen Umgang mit diesen Toten sowie zu binnenmilitärischen Formen des Gedenkens für getötete Soldaten. Abgerundet wird dies durch ein kürzeres Kapitel zum Bundeswehr-Ehrenmal in Berlin und zum Wald der Erinnerung bei Potsdam.

Gerade im dritten und vierten Kapitel zu Veteranenvereinen und zur Aufbaugeneration der Bundeswehr führt Nordmann vor, wie schwierig es für die neue Armee war, im Schatten des kameradschaftlichen Gedenkens für die Toten der Wehrmacht eine eigenständige Gedenkkultur zu entwickeln. Hierbei analysiert die Autorin präzise die Spannungen zwischen Traditionalisten des Soldatengedenkens und Reformern, die vornehmlich durch die Prinzipien des Staatsbürgers in Uniform und der Inneren Führung eine neue Tradition schaffen sowie Tod und Lebensgefahr für Soldaten an den Rand der soldatischen Identität drängen sollten. Einerseits widersprach dies dem grundsätzlichen Verständnis von der Aufgabe des Soldaten; andererseits führte eine ideologisch bereinigte Totenehrung für viele Wehrmachtssoldaten auch zur Reinigung der eigenen Kriegsbiographien.

Im fünften Kapitel arbeitet Nordmann faktisch die Geschichte von gut 3.300 Unfalltoten und Gefallenen seit Gründung der Bundeswehr auf. Dies beinhaltet zunächst besonders öffentlichkeitswirksame Unfälle wie das Sterben von 15 Rekruten bei der Durchquerung der Iller am 3. Juni 1957, den Untergang des U-Bootes Hai mit 19 Toten im Jahr 1966 und den Absturz der Transportmaschine Transall über Kreta mit 42 Toten im Jahr 1975. Erst seit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr in den frühen 1990er-Jahren, insbesondere mit der Ermordung des Feldwebels Alexander Arndt in der Kambodscha-Mission 1993, wurden Tod und Verwundung innerhalb der Bundeswehr verstärkt ein Thema, auch wenn dieses erst 2010 vollends in den Ausbildungsprinzipien verankert wurde. Der Afghanistan-Einsatz ab 2001 änderte dann grundlegend das Verständnis vom Soldatentod in der Bundeswehr und die entsprechend notwendigen Zeremonien der Trauer. So fiel mit dem Hauptgefreiten Sergej Motz im April 2009 im nordafghanischen Kunduz der erste Soldat der Bundeswehr in einem Feuergefecht. Ein Jahr später, am 2. April 2010, wurde das sogenannte Karfreitagsgefecht zum ersten derartigen Ereignis seit 1945, bei dem deutsche Soldaten mit letztlich drei Toten und acht Verwundeten in längere Kampfhandlungen verwickelt wurden (ebenfalls in Afghanistan).

Ein besonders überzeugender Teil ist das sechste Kapitel zum sprachlichen und rituellen Umgang mit den Toten der Bundeswehr. Lange hatte die Bundeswehr anders als fast alle weiteren nationalen Armeen keine eigene Bezeichnung für den Soldatentod, sodass sich militärische Tote nicht grundsätzlich von zivilen Toten unterschieden. Entsprechend gab es keine Notwendigkeit einer öffentlichen Totenehrungskultur im militärischen Sinne. Durch eine genaue Analyse des verwendeten Vokabulars – zum Beispiel der Kontrast zwischen dem Soldaten, der „stirbt“ und der „fällt“ – gelingt es Nordmann zu zeigen, wie sich die Sprache des Soldatentodes im 21. Jahrhunderts so verschoben hat, dass der spezifisch militärische Tod wieder erkennbar wird. Zudem demonstriert die Untersuchung mehrfach die Besonderheit der Kameradschaft bestimmter Waffengattungen, was sich zum Beispiel in der Verwendung des Ausdrucks „Fliegertod“ deutlich zeigt.

Im siebten Kapitel analysiert Nordmann im Kontrast zur fehlenden offiziellen Erinnerungskultur die vielfältigen binnenmilitärischen Formeln des Trauerns und Gedenkens mit Namenspatronagen, Gedenktafeln und Gedenkzeichen seit Bestehen der Bundeswehr. Im kurzen achten Kapitel beschreibt sie die beiden offiziellen Formen der Erinnerung an die Toten der Bundeswehr: das Ehrenmal der Bundeswehr im Berliner Bendlerblock (2009) und den Wald der Erinnerung in Potsdam-Schwielowsee (2014). Trotz dieser räumlichen Verdichtung auf die Toten der Bundeswehr jenseits der Toten früherer deutscher Armeen schlussfolgert die Autorin, dass es für die Bundeswehr heutzutage weiterhin schwierig bleibe, eine Gedenkkultur zu etablieren, die gesellschaftlich den Abstand zu früheren Unrechtsregimen markiert.

Auch wenn Nordmann immer wieder kurze Vergleiche zu anderen nationalen militärischen Gedenkkulturen zieht3, ist die Untersuchung stark auf die innerdeutschen Erklärungszusammenhänge konzentriert. Die Trauer- und Gedenkkultur der Nationalen Volksarmee (NVA) wird dabei zwar an mehreren Stellen einbezogen, aber letztlich nur als interessante komparatistische Frage für künftige Arbeiten erwähnt.

Aus militärhistorischer Sicht ist die Studie äußerst umfassend und voller Details. Sie beschränkt sich aber auf die offiziellen Akteure des Gedenkens, die Offiziellen des Bundesverteidigungsministeriums und der Bundeswehr, sowie Offiziere und Soldaten der Bundeswehr bezüglich der binnenmilitärischen Formen des Trauerns. Die breitere Öffentlichkeit erscheint nur indirekt als Projektionsfolie einer in der Gesellschaft verankerten Armee, die für Frieden und demokratische Werte eintrete. Dies bedeutet, dass populärkulturelle Formen aus Literatur, Kunst und Film keinerlei Rolle spielen und Nordmann nicht reflektieren kann, ob das lange fehlende offizielle Totengedenken sich auch in den Wahrnehmungsformen der neuen Kriege der Bundeswehr in der Gesellschaft widerspiegelt(e). So griff zum Beispiel der Fernsehkrimi Tatort in mehreren Folgen, die den Afghanistan-Krieg als Hintergrund hatten, in den Jahren 2011 und 2012 das Motiv des soldatischen Kriegsheimkehrers auf, und wiederholte damit genau die Vorstellungen des Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg.4 Die Afghanistan-Mission war letztlich genauso eine Herausforderung, für populärkulturelle Ausdrucksformen eine andere Sprache des Gedenkens zu finden, die sich von den Darstellungsformen der beiden Weltkriege absetzen kann, wie für das rituelle Totengedenken. Solch eine Reflexion geht sicher über die Möglichkeiten von Nordmanns Studie hinaus, könnte aber die Untersuchungen zum Gedenken an getötete Soldaten in der Gesellschaft sinnvoll ergänzen.

Hingegen ist es ein wenig überraschend, dass die 2011 eröffnete Dauerausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden mit keinem Wort diskutiert wird, obwohl das Museum von Darstellungen zu Verwundung und Tod in allen seinen Teilen durchzogen ist und spezielle Kabinette zu Tod, Verwundung und Traditionsbildung in der Bundeswehr aufweist.5 Hier hätte man beispielsweise diskutieren können, wie das „Leitmuseum“ der Bundeswehr Totengedenken zwischen Traditionsbezügen und Reformen mit dem doppelten Anspruch der Bildung der eigenen Soldaten und der allgemeinen Öffentlichkeit darstellt.

Obwohl das Thema des Bundeswehr-Totengedenkens durchaus für ein breiteres, an militärgeschichtlichen Fragen interessiertes Publikum bedeutsam erscheint, ist die größte Schwäche der Arbeit ihr Aufbau und Stil. Das Buch ist voller Wiederholungen, sodass aufmerksame Leser:innen etwas irritiert fünfmal vom Unfall an der Iller lesen, oder den Gedanken, dass die Bundeswehr zunächst nur Unfalltote zu beklagen hatte, mindestens ein Dutzend Mal hören, immer im Gestus, als wäre es eine neue Information. Dies ist besonders störend, wenn dieselben Fakten über die Ehrenmäler von Marine, Luftwaffe und Heer zweimal ausführlich erläutert werden: einmal im Kapitel zu den Veteranenvereinen, einmal im Kapitel zu binnenmilitärischen Formen des Trauerns. Nordmanns Studie verfügt über ein sehr nützliches Namensregister; zur Ergänzung wünschte man sich allerdings ein Ereignis-, Orts- und Denkmalregister, das das Navigieren in dem 515 Seiten umfassenden Buch deutlich erleichtert hätte. Leider enthält das Buch keinerlei Abbildungen, sodass die visuelle Ebene von offiziellen und inoffiziellen Gedenkformen ausgeklammert bleibt.

Dennoch ist Julia Katharina Nordmann eine überzeugende Studie mit reichhaltigen Quellen gelungen, die souverän die verschiedenen systematischen Linien und Verflechtungen der Trauer- und Gedenkkultur in der Bundeswehr aufzeigt. Statt einer vereinfachten Darstellung, die die Bundeswehr als notwendige Antipode zur Wehrmacht sieht, wird kenntlich, an welchen Stellen sich offizielle und binnenmilitärische Gedenkformen von überkommenen Ritualen absetzen können, wo sie aber auch ineinander verwoben bleiben und ähnliche Muster verwenden.

Anmerkungen:
1 Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995; Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard / Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität, 2. Aufl., München 1996 (1. Aufl. 1979), S. 255–276.
2 Jörg Koch, Von Helden und Opfern. Kulturgeschichte des deutschen Kriegsgedenkens, Darmstadt 2013; sehr kritisch dazu die Rezension von Kristiane Janeke, in: H-Soz-Kult, 13.03.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-20213 (26.02.2023).
3 Vgl. Manfred Hettling / Jörg Echternkamp (Hrsg.), Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, München 2013; rezensiert von Klaus Naumann, in: H-Soz-Kult, 01.07.2013, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-18613 (26.02.2023).
4 Susanne Vees-Gulani / Stephan Jaeger, Introduction. Representations of German War Experiences and the Legacy of the Second World War, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 50 (2014), S. 1–17, hier S. 9–12.
5 Vgl. auch die Rezension von Swen Steinberg, in: H-Soz-Kult, 14.01.2012, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130675 (26.02.2023).

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