Das 10. Jahrhundert ist in Kontinentaleuropa geprägt von Bemühungen gegen Plünderungen, vor allem durch die Ungarn. Besonders König Heinrich I. suchte nach strukturellen Lösungen gegen deren Überfälle, was im 20. Jahrhundert als „Burgenordnung“ (C. Erdmann) apostrophiert wurde. Archäologische Spuren solcher Baustrukturen wurden in vielen ehemaligen Zentralorten (Königspfalzen/-höfen) wie Erwitte, Gröningen, Tilleda, Quedlinburg, Memleben oder eben Werla gefunden. Allerdings wurden diese lange Zeit nicht ausgewertet oder publiziert, denn häufig wurden die Grabungen während der NS-Zeit durchgeführt (S. 434). Werla liegt nördlich des Harzes an der Oker und „ist entgegen älterer Vorstellungen nicht aus einem liudolfingischen Wirtschaftshof des 8. Jahrhunderts hervorgegangen, sondern wurde in den ersten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts geplant und errichtet […] abseits der großen Fernwege“ (S. 431). Diese Zusammenfassung bestätigt Befunde anderer in dieser Epoche wichtiger Orte (Quedlinburg1, Memleben etc.), wodurch sie einen ganz neuen Blick auf die Entwicklung der Königslandschaft im Umfeld des Harzes ermöglicht.
Ein weiteres Problem der früheren Forschung war deren „inhaltliche Beschränkung auf die Dokumentation von Baubefunden aus Stein“ (S. 6). Neben den architektonischen Fragmenten kann aber insbesondere die Analyse der Kleinfunde einer zentralen Königspfalz des 10. Jahrhunderts neue Erkenntnisse bieten – gerade in einer sonst an Quellen nicht eben reichen Epoche. Zudem bieten Pfalzen wie Werla, abseits der sonst zur Verfügung stehenden ottonenzeitlichen Kirchenbauten (Regensburg2, Quedlinburg3), Einblicke in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit.
In diesem Kontext ist die vorliegende Studie von Markus C. Blaich zu verorten, der von 2007 bis 2012 die Aufarbeitung der Altgrabungen (1875–1964) in der Königspfalz Werla leistete, wobei er zahlreiche eigene Prospektionen vornahm: „Werla zählt damit zu jenen Flächendenkmälern im deutschsprachigen Raum, auf denen alle derzeit bekannten Prospektionsverfahren angewandt wurden“ (S. 431). Die Arbeit, die auch als Open Access zur Verfügung steht4, wurde 2022 als Habilitationsschrift an der Universität Heidelberg abgeschlossen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Förderung dieses wichtigen Projektes von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit der Begründung einer „mangelnden Perspektive des Vorhabens für die Forschung“ (S. 7) abgelehnt wurde.
Der gewichtige Band ist in fünf große Abschnitte unterteilt und verfügt über einen umfangreichen Anhang, während ein Register jedoch fehlt. Auf die Einleitung (S. 1–8) folgt eine Übersicht zu den „Vorburgen – Luftbilder sowie Prospektionen 2007/2008 und 2015–2017“ (S. 9–44). Daraus geht hervor, dass sich die Pfalz mit ihrer Kernburg (18.000 Quadratmeter) und den drei Vorburgen über 167.000 Quadratmeter Fläche erstreckt. Die freigelegten Grubenhäuser können mit Metallverarbeitung und Textilproduktion in Verbindung gebracht werden. Der Ort ist also nicht allein als Pfalz, sondern als politisches und wirtschaftliches Zentrum im liudolfingischen Villikationssystem des Harzvorlandes wichtig (S. 35).
Im nächsten Kapitel „Die archäologischen Befunde: Architektur und Struktur“ (S. 45–252) werden die zahlreichen Details der kreuzförmigen Kapelle (22,5 × 5,8 m), des Friedhofs mit 368 Bestattungen und des sogenannten Estrichbaus mit der harzumlandspezifischen Kletterschaltechnik erläutert. Dass das Gebäude G 3 (Palas I) über mehrere Warmluftheizungen verfügte, war bereits in den 1930er-Jahren festgestellt worden. Dass diese innerhalb der Warmluftheizungen der Epoche eine Sonderrolle (enge Bezüge zu liegenden Töpfer- und Ziegelöfen) einnehmen, wird erst durch die aktuelle Zusammenschau klar. Für die, während früherer Grabungen, in das 13. Jahrhundert datierten „unterirdischen Gänge“ (60–70 cm breit) wird hier eine überzeugende Neudatierung ins 10. Jahrhundert vorgeschlagen. Dabei dienten diese Gänge als Verbindungen der einzelnen Kanäle der Heizanlagen untereinander (S. 97). Der Abbruch dieser komplexen Anlage erfolgte dann erst im 12./13. Jahrhundert. Bemerkenswert ist auch eine große Baugrube, für die eine Deutung als „überdimensioniertes Zeugnis für den Abriss der Kernburg“ vorgeschlagen wird (S. 109). Die Details zu den anderen Bauten (G 5, G 6), dem Palas II (G 10), den Wachhäusern (G 11, G 12) und dem Quaderhaus (G 14) sind sehr zahlreich. Weitere Abschnitte sind den Pfostenbauten in der Kernburg (S. 149), den Schwellbalkenbauten (S. 164) samt ihren Funktionen (S. 173), den gemauerten Kellern (S. 177) und den zahlreichen Grubenhäuser (S. 182) gewidmet. Die hohe und nachhaltige Qualität von Blaichs Arbeit zeigt sich auch darin, dass unklare Befunde nicht einfach überinterpretiert werden, sondern in Abschnitten wie „Nicht näher zu deutende Baubefunde“ (S. 209) dokumentiert werden. Auch für Wegepflaster, Öfen, Siedlungsgruben, Zisternen und nicht näher zu deutende Strukturen werden hier zahlreiche Dokumentationen öffentlich gemacht. Das Kapitel endet in einem Vergleich der Befunde in Werla mit solchen aus anderen Pfalzen wie Tilleda, Grone, Duisburg, Pöhlde oder Gebesee.
Das Kapitel „Das Fundmaterial aus den Grabungen 1926–2017“ (S. 253–344) bietet einen Überblick über die in 60 Regalmeter lagernden Funde. Viele Metallobjekte (Nägel, Messerklingen) sind leider korrodiert (S. 254), andere wie Fibeln, Schleiernadeln, Ringnadeln, Fingerringe, Gürtel- und Riemenwerk, Schnallen und Beschläge werden ausführlich präsentiert. Schreibgriffel, schöne Pektoralkreuze und der Deckel eines Weihrauchfasses werden mit Angehörigen der mitreisenden Hofhaltung der Herrscherfamilie in Verbindung gebracht. In diesen Kontext gehören auch die Fragmente von Fensterglas und Glasfunde, weiterhin Zeugnisse des Zeitvertreibs wie Spielsteine, des Textilhandwerks wie Scheren, des Metallhandwerks wie Punzen und Tiegel. Reste der Reitausrüstung wie Sporen, Riemenwerk und Trensen geben neben älteren Hufeisen (9.–11. Jahrhundert) Hinweise auf Reitpferde als Prestigeobjekte, die jüngeren Hufeisen (13. Jahrhundert) auf landwirtschaftliche Nutzung (S. 339). Im nicht konfliktarmen 10. Jahrhundert sind Waffen von besonderer Bedeutung, deren Reste hier ebenso aufgearbeitet wurden: Hiebwaffen, Geschosse, Schildbeschläge, Messer und Scheiden. Münzen (28), Münzgewichte und zahlreiche faszinierende Kleinfunde seien nur erwähnt (S. 315–336).
Im Kapitel „Zur Struktur ottonischer und frühsalischer Pfalzen im Harzraum – Versuch einer Gesamtbewertung“ (S. 345–420) wird die an rückprojizierenden Fehlinterpretationen und früheren Zirkelschlüssen reiche Forschung minutiös aufgearbeitet. Zentral ist, dass der ottonischen Anlage keine (lange postulierte) liudolfingische vorausging (S. 348 f.). Die sehr lesenswerten Bemerkungen über den Bedarf an Bauholz und -gestein, den Bauaufwand, den Mörtel, die Wasserversorgung sowie Materialtransport, Bauzeit und Betrieb einer Pfalz ermöglichen künftig vergleichende Überlegungen mit anderen Pfalzen, wie es beispielhaft gezeigt wird (S. 389–395). Nach ausführlichen Überlegungen zur Nutzung Werlas als königlicher Aufenthaltsort geht es auch um den Niedergang der Pfalz durch die Verlagerung ihrer Funktionen im 11. Jahrhundert in Richtung Goslar.
Der Anhang bietet „Ausgewählte Befunde und Funde aus den vorgeschichtlichen Epochen und der römischen Kaiserzeit“ (S. 421–436) sowie einen ausführlichen „Katalog der Befunde 1934–2017“ (S. 437–516) mit 969 Einzelbefunden (Stand August 2019), die nach dem Schema „Grabung, Fläche, Stratigrafie, Befund, Datierung“ aufgeschlüsselt sind. Ein Verzeichnis der „Quellen und Literatur“ (S. 517–552) mit über 1000 Titelangaben rundet den Band ab.
Fazit: Die Epoche der Liudolfinger/Ottonen gilt gemeinhin als jene des Mittelalters, zu der nur wenige historische Quellen überliefert sind. Vergleichbar dünn ist sonst auch die archäologische Überlieferung. Anders in Werla, deren zahlreiche Befunde hier geradezu mustergültig aufbereitet wurden. Der außerordentlich materialreiche Band bietet mit 542 Abbildungen zahlreiche neue Erkenntnisse und stellt neue Weichen für die Einordnung von Befunden an anderen liudolfingischen Orten.
Zum Glück ließ sich der Autor von den ungünstigen äußeren Bedingungen nicht abhalten, diese zentralen Funde und Befunde des 10. Jahrhunderts so vorbildlich aufzuarbeiten. Das Buch bildet eine belastbare Materialbasis in einem an Rückprojektionen nicht armen Feld und einen wichtigen Meilenstein in der weiteren Erforschung der liudolfingisch-ottonischen Geschichte.
Anmerkungen:
1 Tobias Gärtner, Quedlinburg im frühen und hohen Mittelalter. Studien zu den Anfängen der Welterbestadt und zur Keramik des 7./8. bis 13. Jahrhunderts zwischen Harz und Elbe (Alteuropäische Forschungen, N.F. 8). Langenweißbach 2019.
2 Rezension zu: Eleonore Wintergerst, Die Ausgrabungen unter dem Niedermünster zu Regensburg III. Befunde und Funde der nachrömischen Zeit, München 2019, in: H-Soz-Kult, 20.10.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94763 (12.04.2024).
3 Rezension zu: Gerhard Leopold, Die ottonischen Kirchen St. Servatii, St. Wiperti und St. Marien in Quedlinburg. Zusammenfassende Darstellung der archäologischen und baugeschichtlichen Forschung von 1936 bis 2001, Petersberg 2011, in: H-Soz-Kult, 20.04.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-15883 (12.04.2024).
4 Online: https://books.ub.uni-heidelberg.de/propylaeum/catalog/book/1078 (12.04.2024).