Cover
Titel
Queer Archaeology: Winckelmann and his passionate followers. Queer archaeology, egyptology and the history of arts since 1750


Herausgeber
Cortjaens, Wolfgang; Loeben, Christian E.
Erschienen
Rahden/Westfalen 2022: Verlag Marie Leidorf
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Burgdorf, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Dem jungen Studenten Johann Wolfgang Goethe und seinen Kommilitonen galten Johann Joachim Winckelmanns Schriften als „das Evangelium des Schönen, mehr noch des Geschmackvollen und Angenehmen“. Der Begründer der wissenschaftlichen Archäologie und Kunstgeschichte genoss eine „allgemeine, unangetastete Verehrung“.1 Bereits 1765 gehörte Goethes Leipziger Kreis zu den leidenschaftlichen Anhängern des gelehrten Ästheten. Viele sollten folgen. Diesen ist der zu besprechende Band gewidmet. Er präsentiert die Ergebnisse der indirekt aus der Berliner Ausstellung zum 300. Geburtstag Winckelmanns, „Winckelmann – Das göttliche Geschlecht“ (16. Juni 2017 – 9. Oktober 2017), hervorgegangenen Tagung in Hannover und Hildesheim: „Winckelmann and his Passionate Followers: Queer Archaeology, Egyptology and the History of Arts 1750 – 2018 – Tagung anlässlich des 250. Todestages von Johann Joachim Winckelmann“ im Juni 2018. Fast alle Vorträge kamen zum Druck und weitere Fachvertreter∗innen konnten für ergänzende Darstellungen gewonnen werden. Die ursprünglich vier Sektionen der Tagung wurden für den Sammelband auf fünf mit 22 Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen erweitert. Gemäß den beiden Herausgebenden dient der Winckelmann-Band auch dazu, die „Frage nach der erotologischen Besetzung“ der von Winckelmann „mit begründeten Wissenschaftsdisziplinen neu zu stellen“ (S. 20). Dabei zeigt sich auf wie vielfältige Weise die Klassische Archäologie und die Antike insgesamt über Jahrhunderte hinweg ein Fluchtraum, ein idealer, mythologisch aufgeladener Gegenentwurf zur eigenen, oft nicht sehr angenehmen Lebenswirklichkeit von nicht heteronormativ lebenden Menschen wurde. Dies ist interessant, weil geschlechterreflektierende, Minderheiten inkludierende LGBTIQ-Aspekte im etablierten Wissenschaftsbetrieb bislang eher wenig im Fokus standen.2

Das vorliegende Buch richtet sich jedoch nicht nur an die LGBTIQ∗-Community, sondern an alle Kunstinteressierten und taugt, trotz wissenschaftlicher Anmerkungen, auch als Coffeetable-Book. Der Grafiker Sebastian Moock erläutert zu Beginn den von ihm unternommenen, innovativen Versuch der „gender-sensitiven Gestaltung“ des Bandes. Auch Heteros werden bedient: Der Kunsthistoriker Christoph Schmälzle hat unter dem, angesichts der erstaunlichen zeitgenössischen Unwissenheit, ironischen Titel „Brustwarzen-Kennerschaft“, den ersten Aufsatz zu Bedeutung der weiblichen Brust bei Winckelmann geschrieben. Hier wird eine Linie bis zur Nippelphobie heutiger Internetkonzerne gezogen (S. 185). Der Herausgeber Wolfgang Cortjaens, Organisator von Ausstellung und Tagung war bis 2018 Archivar am Schwulen Museum in Berlin und fungiert heute als Sammlungsleiter am Deutschen Historischen Museum in Berlin. Der zweite Editor Christian E. Loeben ist Kurator für ägyptische und islamische Sammlungen am Museum August Kestner in Hannover.

Ausgehend von der zentralen Figur Winckelmann, der sich selbst als leidenschaftlicher Nachfolger des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten, des „passionate predecessor“ und Sammlers Philipp von Stosch sowie des Lyoner Antiquars Guillaume du Choul verstand, bietet die erste Sektion des Bandes „Erotologie als kulturelle Praxis“ Deutungen von Winckelmanns Werk aus queerer Perspektive. Robert Deam Tobin stellt Winckelmann einleitend als Vordenker sexueller Menschenrechte vor. Hier hätte ein Verweis auf Wolfgang Schmales „Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma“ (1997) nahegelegen. Die Feststellung, Winckelmann habe diese Freiheit in Rom, nicht in Preußen“ (S. 69) gefunden, irritiert zunächst. Schrieb er doch am 27. März 1752 seinem Freund Hieronymus Dietrich Berendis: „Ich habe Wollüste genossen, die ich nicht wieder genießen werde; ich habe Athen und Sparta in Potsdam gesehen und bin mit einer anbetungsvollen Verehrung gegen den göttlichen Monarchen erfüllet“. Allerdings heißt es am 21. Februar 1761 aus Rom: „Ich bin freier als ich es je in meinem Leben gewesen“ und am 28. September 1761 galt ihm Preußen dann vergleichsweise als „dieses despotische Land der Sklaverei“ (S. 69). Whitney Davis sieht Winckelmann „als Wegbereiter des psychoanalytischen Diskurses der Zeit um 1900.“ Gleichgeschlechtlichgesinnte neigten zum Studium der Antike und Winckelmanns. Der Begriff „Winckelmannianism“ bürgerte sich für die „Winckelmannian homoerotic culture“ ein (S. 95, S. 107). Zur auf vergleichender Textanalyse ruhenden Herleitung seiner ästhetischen Theorien aus der antiken Literatur und der in Griechenland üblichen Form der Knabenliebe durch Gian Franco Chiai („I wish to demonstrate how Winckelmann placed his life in the service of Eros“) (S. 112) gesellt sich ein Aufsatz von Eric M. Moormann zu dem 1762 von Winckelmann verfassten „lettere incazzita“, seinen „Phallic Letter on the Discoveries of Herculaneum and Pompeii“, der neu interpretiert wird. Der Studienpraxis und den Sehgewohnheiten weiblicher Connaisseure der Antiken im 18. und frühen 19. Jahrhundert spürt Adelheid Müller nach. Das Betrachten von nackten männlichen Statuen durch Frauen galt allgemein als höchst sittengefährdend.

Die nächste Sektion „Agent∗innen des Geschmacks“ behandelt die gelehrte Auseinandersetzung und den Handel mit Antiken. Sie beginnt mit einem Überblick über die homosozialen Netzwerke der nordalpinen Sammler und deren Praxis der Selbstdarstellung von Wolfgang Cortjaens. „Kunst und Archäologie boten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dieser ‚gefährdeten Spezies‘ [gleichgeschlechtlich orientierter Männer] so trügerische wie temporäre Möglichkeiten, als Connoisseurs oder Sammler_innen am wissenschaftlichen und ästhetischen Diskurs teilzuhaben und in diesem Rahmen sogar tonangebend und geschmacksbildend zu wirken“ (S. 235, S. 267). Thematisch folgt eine Studie von Jörn Lang zur Sammeltätigkeit und Wirkung des Diplomaten und Sammlers Baron Philipp von Stosch. Dessen Gemmensammlung, die von Friedrich II. von Preußen angekauft wurde, katalogisierte Winckelmann. Domenico Scander di Rossetti wird von Jutta Ronke als Initiator des Winckelmann-Memorials in Triest gewürdigt, das nur Dank lokalen und internationalen Engagements zustande kam. Als anerkannter Fachmann in allen Fragen der Altertumskunde war Winckelmann ein „Heros der zeitgenössischen Kulturszene“ (S. 290).

In der dritten Sektion „Die klassische Archäologie und die (De)konstruktion von Gender“ stellt Jana Esther Fries Ansätze und Methoden der Feministischen Archäologie vor. Fries bietet eine methodisch überzeugende Widerlegung des Androzentrismus der älteren prähistorischen Archäologie. Grabbeilagen z. B. lassen sich nicht immer eindeutig ausschließlich binär gesehenen Geschlechtern zuordnen. David Eleuterio folgt mit einer Studie zur Bedeutung der weiblichen Ikonografie am Beispiel eines Dekorationsprogramms aus Pompeji.

Die vierte Sektion „Gender und Sexualität in der Ägyptologie“ eröffnet Rogério Sousa mit einer Untersuchung zu (Trans)gendered Coffins bzw. zur Zweitverwendung von Sarkophagen in der 21. ägyptischen Dynastie 1069-945 v. Chr. Die Sarkophage hochstehender Frauen hatten zudem schon bei der Erstverwendung ‚männliches‘ Dekorum (S. 372). Nicht nur die griechischen Götter pflegten ein sehr diverses Sexualleben, dies taten schon die altägyptischen. Die Sexkultur der alten Ägypter kannte die Fellatio. Sonst hätten sie in Bildern und Schriften der 21. Dynastie nicht darstellen können, wie sich Osiris mittels Autofellatio – den eigenen Mund als Vagina nutzend – selbstbefruchtete und neue Gottheiten aus seinem Mund gebar. Dies führt Amgad Joseph kunstvoll vor. „Homophobie und Antisemitismus in der Geschichte der Ägyptologie“ thematisiert Thomas L. Gertzen am Beispiel des Friedrich Wilhelm Freiherr von Bissing (1873-1956), einer ‚problematischen‘ Schlüsselfigur der Ägyptologie, der selbst schwul war und vor 1922 deswegen erpresst wurde. Dennoch diskreditierte er missliebige Kollegen durch den Vorwurf der Homosexualität und biederte sich den Nazis an. Aufgrund von Annäherungsversuchen an einen jungen Mann verlor er 1925 seine Professur in Utrecht. Seine Familie erwog eine Entmündigung. Er selbst betrachtete seine Orientierung als heilbare Geisteskrankheit (S. 397). Abschließend wird der von Archäologen und Kunstreisenden gleichermaßen beschworene Mythos der ,schwulen‘ Oase Siwa im ägyptischen Teil der Libyschen Wüste von Olaf E. Kaper hinterfragt. Hier war in der Antike der Haupttempel des Gottes Amun. Alexander der Große nutzte Macht und Einfluss des Orakels, um sich als „Sohn des Zeus“ zu legitimieren. Angeblich waren dort gleichgeschlechtliche Ehen üblich. Diese Aussagen waren jedoch immer auf die Vergangenheit bezogen, zudem nur Gerüchte, niemals Erfahrungsberichte. Ein Problem war die mangelnde Sprachkompetenz der Berichterstatter, welche sich nur mit ägyptischen Kolonialbeamten unterhalten konnten, die auf die eingeborene Bevölkerung herabblickten und ihr trauriges Exil in der Wüste bedauerten. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten die Einheimischen kein Arabisch. Auch der ägyptische Gouverneur, Doktor, Apotheker und die 50 Besatzungssoldaten standen vor einer Sprachbarriere und hatten kaum Kontakt zu den Einwohnern. Es sind keine gleichgeschlechtlichen Heiratskontrakte und Interviews mit Einheimischen überliefert. Allerdings führte das hohe Heiratsalter der Männer (ca. 25 Jahre, Frauen wurden mit ca. 14 Jahren verheiratet) und die extreme Abgeschirmtheit der Frauen in Siwa dazu, dass sich die unverheirateten Männer vor allem mit sich selbst beschäftigten.

In der letzten Sektion „Winckelmann-Lesarten“ zur literarischen Wirkungsmacht Winckelmanns weist Gunnar Och diese in der Dichtung August von Platens nach. In dem Sonett „An Winckelmann“ (1826) zeigt sich „ein geradezu identifikatorisches Verhältnis zwischen Sprecher und Adressat“ (S. 443). Seit Petrarca diente das Sonett der Artikulation der unerfüllten Liebe, für Sehnsüchte aller Art, für Verzweiflung, aber auch Anbetung. Immer geht es um ein Unvermögen, ein aussichtsloses Verlangen. Bei Platen wird es zu einer „ganz eigenen Poetik des bekennenden Verschweigens“ (S. 443), die „das Unaussprechliche, das Dispositiv der stigmatisierten Homosexualität, in das geheime Zentrum des Gedichtes rückt“ (S. 452), „antike Plastiken als Sehnsuchtsbilder einer kaum akzeptierten, ja selbstzensierten homoerotischen Neigung“ (S. 453). „Homoerotische Phantasmen in Adalbert Stifters Archäologie der Liebe“ in Malerei und Prosa offenbart Guido Goerlitz. Christiane Starck weist die Umsetzung Winckelmannscher Ideen vor dem Hintergrund der Lebensreform um 1900 im Werk des Dresdner Malers, Zeichners und Bildhauers Sascha Schneider nach, der heute überwiegend als Illustrator der Werke Karl Mays bekannt ist. „Schneiders nackte Kraftsportler und Epheben trafen trotz § 175 den Nerv der Zeit“ (S. 493). Der Jüngling galt als „reiner Tor, der aber das Versprechen von Größe, Tapferkeit, moralischer Überlegenheit und Stärke in sich trägt“, „als Metapher des erstarkenden, aufstrebenden Kaiserreichs“ (S. 511). Die individuellen Wunschbilder des homosexuellen Künstlers passten in das nationale Bildprogramm der auf Jugend und Stärke fokussierten Reichsidee.

Wenn einige Beiträge einen eher vagen Bezug zum übergeordneten Thema des Bandes haben, so trifft dies keineswegs auf die Abhandlung Martin Pozsgais zu. Er widmet sich der Antikenrezeption in den US-amerikanischen Beefcake-Magazinen der 1950er- und 1960er-Jahre. Hier wurden wie schon zuvor von Wilhelm Plüschow und seinem Cousin Wilhelm von Gloeden athletische junge Männer in Posen antiker Skulpturen abgebildet. „Edle Einfalt und stille Größe“ wurde hier neu inszeniert. Das lud zur Identifikation ein, wurden gleichgeschlechtlich orientierte Männer doch bislang als ‚weibisch‘ und lächerlich dargestellt. Der Essay Frank Schablewskis „Namenlose Hermaphroditen in Antike und Gegenwart“ mäandriert schließlich um die binären Geschlechterbenennungen in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Sprachen. Hier schließt sich der Kreis mit Bezug auf den ersten Aufsatz des Bandes, der Winckelmann als Vordenker sexueller Menschenrechte einführte. Denn nun heißt es: „Die Freiheit des Menschen fordert auch die Freiheit der eigenen Geschlechtsbestimmung“ (S. 540). „Ist die Freiheit, Frau oder Mann zu sein, Frau und Mann zu sein, oder die Freiheit, frei zu sein?“ (S. 555).

Interdisziplinäre Tagungs- und Sammelbände können stets nur Fragmente eines Ganzen liefern. Dies gilt besonders, wenn das Subjekt derart unerforscht ist, wie im vorliegenden Fall und die Bemühungen dazu noch in den Anfängen steckten. Die Mannigfaltigkeit der einzelnen Beiträge spiegelt nicht nur die verschiedenen denkbaren Annäherungen an das Thema, sondern auch die Vielgestaltigkeit der Meinungen, Ansätze und methodischen Herangehensweisen.

Amüsanterweise heißt es im Grußwort von Olaf E. Kaper (Ägyptologe in Leiden), Regine Schulz (Ägyptologin und Direktorin des Roemer- und Pelizaeusmuseums in Hildesheim) und Thomas Schwark (Direktor des Museums für Kulturgeschichte in Hannover), die Repräsentanten der Institutionen, welche bei der Tagung von 2018 kooperierten, Ausstellung und Tagung hätten 2017 und 2018 zum 200. Geburtsjahr und 150. Todestag stattgefunden, statt richtig zum 300. und 250. Jahrestag. Der Kurator der Ausstellung „A Little gay history: Desire and diversity across the world“ im British Museum war Richard Bruce Parkinson, nicht Richard A. Parkinson (S. 16). Albert Christian Heinrich von Brühl war Reichsgraf, kein „Duke“ (S. 127). Was eine „kompromittionsfreie Auseinandersetzung auch mit dem nackten männlichen Körper“ (S. 229) sein mag, bedarf noch der Aufklärung. Eine derart umfangreiche Veröffentlichung ist auch für das Lektorat herausfordernd. Dieser opulente, überaus reich illustrierte Band ist, nicht nur im wörtlichen Sinne, auch ein gewichtiger Beitrag zur „künftigen Entwicklung einer gendergerechten, allgemeinen Museumsdidaktik“ (S. 16). Neben der faszinierenden thematischen Breite liegt ein besonderer Ertrag von „Queer Archaeology. Winckelmann and his Passionate Followers“ in den vielfältigen weiterführenden Hinweisen, welche die wissenschaftlichen Anmerkungen bergen. „Queer Archaeology“ wird auch dadurch zu einem Schatz, dessen Entdeckung und Aneignung äußerst gewinnbringend ist.

Anmerkungen:
1 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 9: Autobiographische Schriften 1), München 1981, S. 314, 328.
2 LGBTIQ∗ ist eine international gebräuchliche Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans∗ und Inter∗, Queer (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans∗, Inter∗, Queer), wobei ∗ für weitere Selbstidentifikationen steht. Queer ist eine Sammelbezeichnung für Menschen oder Handlungen, die sich durch ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität von der gesellschaftlichen Heteronormativität abgrenzen. Früher im anglophonen Raum im Sinne von „sonderbar, suspekt“ als Schimpfwort verwendet, um Homosexuelle abzuwerten, wird es seit Mitte der 1990er-Jahre international als positive Selbstbezeichnung vor allem von nicht-heterosexuellen Menschen verwendet.
[3] Johann Wolfgang von Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert, Tübingen 1805, S. 3.

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