Fünfzig Jahre liegen zwischen Richard Wagners Tod und Hitlers „Machtergreifung“. Allein der zeitliche Abstand gibt bis heute Raum zu behaupten, der Komponist könne nicht für Weltanschauung und Verbrechen der Nationalsozialisten in Haftung genommen werden. Das ist gleichwohl Sache der Apologeten. Zwar bezog sich Thomas Manns berühmte Wendung „[G]ewiß, es ist viel ‚Hitler‘ in Wagner“ nicht auf politisch-ideologische Gemeinsamkeiten im Sinne von Vorläufer und Vollstrecker, sondern auf persönliche Verhaltensweisen.1 Doch zwischen Künstler und Massenmörder gibt es Verbindungslinien, die von der historischen Forschung in der jüngeren Vergangenheit wesentlich stärker in den Blick genommen worden sind. Dabei geriet auch das Diktum einer „unpolitischen“ Kunst zunehmend in die Kritik.
Diese Verbindungslinien zeigen sich vor allem an der Institution „Bayreuth“. Die 1876 gegründeten Richard-Wagner-Festspiele wurden im wilhelminischen Kaiserreich unter der Ägide der Komponisten-Witwe Cosima nicht nur zum Schauplatz einer künstlerisch rückständigen „Inszenierungsorthodoxie“2, sondern auch zum Hort eines völkischen, antidemokratischen und radikal judenfeindlichen Nationalismus, der den Ersten Weltkrieg überdauern und mit Hitlers NS-Bewegung 1933 an die Macht kommen sollte. Die Wagner-Nachfahren und der Bayreuther Kreis, ein intellektueller Zirkel rund um den Familiensitz Haus Wahnfried und die Festspiele, trugen wesentlich zur Verfestigung des völkischen Gedankens und zum späteren Aufstieg des Nationalsozialismus bei.
Intellektueller Kopf dieses Kreises war Houston Stewart Chamberlain (1855–1927). Der gebürtige Engländer wuchs bei Verwandten in Frankreich auf, lebte in der Schweiz, in Dresden und schließlich zwei Jahrzehnte lang in Wien, ehe er 1908 die Wagner-Tochter Eva heiratete und sich in Bayreuth niederließ. Schon zuvor war der gelernte Naturforscher und Cosima-Vertraute vor allem durch sein Werk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ zu einem der führenden völkischen Intellektuellen seiner Zeit aufgestiegen. Mit Bayreuth und später mit den Nationalsozialisten, deren Aufstieg er guthieß und öffentlichkeitswirksam förderte, verbanden ihn sowohl die Verachtung des Parlamentarismus als auch der rassistische Antisemitismus.
Vor diesem Hintergrund wundert es, wie wenig bis vor Kurzem über Chamberlain bekannt war.3 Nun legt Sven Fritz seine 2019 von der Freien Universität Berlin angenommene Dissertation über Houston Stewart Chamberlain in Buchform vor. Das Buch ist im Kern chronologisch gegliedert, ergänzt durch Einschübe oder längere Exkurse zu bestimmten Sachverhalten, Entwicklungen und Personen. Unter der Überschrift „Wege nach Wahnfried“ (S. 1–54) schildert Fritz zunächst die prekäre Bayreuther Chamberlain-Erinnerung nach 1945, ehe er die Forschungslage skizziert und theoretische Überlegungen anstellt. Nach der Darstellung des frühen Lebenswegs von Chamberlain (S. 55–88) und dem Abschnitt „Leben im Wagnerkosmos“ (S. 89–188) werden die Wagner-Biografie des Briten (S. 189–264) und sein Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (S. 265–375) ausführlich gewürdigt. Es folgen Analysen seiner Prägung als „völkischer Intellektueller“ (S. 377–574), der propagandistischen Rolle Chamberlains im Ersten Weltkrieg (S. 575–696) sowie seiner Haltung zur Hitler-Bewegung (S. 697–799).
Fritz legt seiner Arbeit ein bemerkenswert breites Quellenstudium zugrunde. Der Gang in die Archive ist für ihn ein Mittel, um eine Reihe zählebiger Mythen und Legenden zu korrigieren, die sich noch immer um Persönlichkeit und Wirken Houston Stewart Chamberlains ranken. So kann er schlüssig widerlegen, dass dessen Antisemitismus lediglich abstrakter Natur gewesen sei, ohne konkrete Personen zu diffamieren (S. 129 u. ö.), oder dass der schwerkranke, weithin bettlägerige Brite in den 1920er-Jahren gar nicht mehr in der Lage gewesen sei, das Wesen der NS-Ideologie zu erfassen. Auch apologetischen Abgrenzungsversuchen von der Ideologie des kommenden „Dritten Reichs“ erteilt der Historiker eine Absage.4
Schlüssig analysiert Fritz vielmehr Chamberlains zentrale Rolle bei der Herausbildung des „Bayreuther Gedankens“, der den Gegensatz zur kunst- und ideologiekritischen Haltung etwa von Nietzsche oder Thomas Mann bildete. Was dabei nicht ins Bild passte, machte Chamberlain passend, etwa indem er Wagners Rolle in der Revolution von 1848/49 systematisch kleinredete oder den Versuch des Komponisten, die Religion als Gegenmittel zum (angeblichen) rassischen Verfall aufzubauen, als „irrationales Stückwerk“ (S. 793) auszublenden versuchte. Umgekehrt widerspricht Fritz aber auch der verbreiteten Haltung, Wagner sei von der Bayreuther Nachwelt verfälscht worden. Immer wieder lässt er den Komponisten selbst mit rassistischem Gedankengut zu Wort kommen (z. B. S. 77–81).
In dieser Breite zum ersten Mal arbeitet der Autor die „antirömische“ Haltung Chamberlains heraus, der damit Wagners Katholikenfeindlichkeit und zumal dessen exterminatorische Invektiven gegen die Jesuiten aufgriff und fortführte. Im Kapitel über die 1899 erschienenen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, die zu einem Bestseller wurden und Chamberlain zu einer Art Hofphilosoph von Kaiser Wilhelm II. aufsteigen ließen, weist Fritz nach, wie systematisch der radikal antiparlamentarische Brite die Entwicklung der griechischen Demokratie leugnete, wie unredlich, ja verfälschend er in seinem Rassenwahn bei der Interpretation der römischen Geschichte vorging und wie abwegig nicht zuletzt die Passagen über den vermeintlich „arischen Jesus“ sind (S. 291–299).
Eindrücklich legt Fritz ferner dar, wie Chamberlain als Cosimas Mann fürs Grobe fungierte, publizistisch gegen unliebsame Wagnerianer oder andere „Feinde“ Bayreuths vorging, an der Beseitigung brisanter Dokumente beteiligt war, später auch in innerfamiliäre Streitigkeiten eingriff und dabei stets eskalierend wirkte. In Wien betätigte er sich als „antisemitischer Talent-Scout“ (S. 125) und recherchierte im Auftrag der Wagner-Witwe, ob ein Künstler oder eine Künstlerin wohl jüdisch sei. Damit stützte er das „System der Apartheid“ im Festspielhaus (S. 107). Der Wahnfried-Ideologe und die Witwe waren sich einig, dass die Aufführungen in Bayreuth „von jeder israelitischen Beimischung […] freigehalten“ werden sollten, wie Cosima schon im Frühjahr 1888 schrieb. Wer Jude war und wer nicht, bestimmten die Festspielleiterin und ihr „Komplize“ Chamberlain (S. 128) im Zweifelsfall selbst.
So zeichnet diese Chamberlain-Biografie fast nebenher auch ein erschütterndes Sittenbild der Bayreuther Festspiele und der sie tragenden Wagner-Familie, lange bevor der Grüne Hügel im Nationalsozialismus zu „Hitlers Hoftheater“ (Thomas Mann) wurde. Dass diese Geschichte noch nicht aufgearbeitet ist, verdeutlicht die Liste an Forschungsdesideraten, die Fritz vorlegt.5
Den vielen Vorzügen des Buchs sind kaum Schwächen entgegenzuhalten. Vor dem Hintergrund von Chamberlains geradezu manichäischen Kategorien wie „Germane“ und „Jude“ wäre anzumerken, dass seine Vorstellung von „Rasse“ schillernd und widersprüchlich war, was schon von vielen Zeitgenossen kritisiert wurde, abgesehen davon, dass das Rassedenken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach heutigen Maßstäben wissenschaftlicher Humbug war.6 Eine Spur zu knapp ist der Schlussteil des Buchs unter dem Titel „Rückschau und Zusammenfassung“ (S. 789–799) ausgefallen. Er fügt dem Gesamtbild nichts mehr hinzu, wirkt eher wie eine reformulierte Skizze des Promotionsvorhabens. Der Forscherleistung von Sven Fritz, dessen Buch den historiografischen Blick auf Chamberlain wesentlich erweitert und auch sprachlich herausragend gelungen ist, tut dies keinen Abbruch.
Anmerkungen:
1 Mann spricht von „Wagners Bramarbasieren, ewigem Perorieren, Allein-reden-wollen, über alles Mitreden-wollen, eine namenlose Unbescheidenheit, die Hitler vorbildet“, in diesem Zusammenhang fällt die Bemerkung „gewiß, es ist viel ‚Hitler‘ in Wagner“. Thomas Mann an Emil Preetorius, 6. Dezember 1949, abgedr. u. d. T. „Richard Wagner und kein Ende“ in: Süddeutsche Zeitung, 6./7. April 1950, hier zit. nach: Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895–1955. Ausgewählt, kommentiert und mit einem Essay von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt am Main 1999, S. 201–205, Zitat S. 204.
2 Frederic Spotts, Bayreuth. Eine Geschichte der Wagner-Festspiele, München 1994, S. 112.
3 Neben dem Grundlagenwerk über den Bayreuther Kreis von Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971, der Studie von Anja Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse, Berlin 2008, die sich der sprachlichen Konstruktion von Chamberlains Weltanschauung widmet, und der Untersuchung von Barbara Liedtke, Völkisches Denken und Verkündigung des Evangeliums. Die Rezeption Houston Stewart Chamberlains in evangelischer Theologie und Kirche in der Zeit des „Dritten Reiches“, Leipzig 2012, vgl. v.a.: Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn-Hitlers Vordenker, Stuttgart 2015.
4 Ähnlich kritisch bereits Thomas Gräfe, Der entnazifizierte Chamberlain und der nazifizierte Wagner. Kritische Anmerkungen zu den geschichtspolitischen Irrwegen der Wagnerianismusforschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 26 (2017), S. 415–433.
5 Dazu zählt u.a. eine kritische Neuausgabe des Briefwechsels von Cosima und Chamberlain: Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908. Mit 17 Bildern und Briefwiedergaben, hrsg. von Paul Pretzsch, 2. Aufl. Leipzig 1934.
6 Siehe die Jenaer Erklärung der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft vom Oktober 2019, wonach es keine Menschenrassen gibt: „Auch heute noch wird der Begriff Rasse im Zusammenhang mit menschlichen Gruppen vielfach verwendet. Es gibt hierfür aber keine biologische Begründung und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ Siehe: https://www.uni-jena.de/190910-jenaererklaerung (28.02.2023).