Cover
Titel
Die Chronologiemaschine. Barbeu-Dubourgs Aufbruch in die historiografische Moderne


Autor(en)
Schmidt-Burkhardt, Astrit
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Gierl, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Die Kunsthistorikerin Astrit Schmidt-Burkhardt hat Jacques Barbeu-Dubourgs Chronologiemaschine eine eigene Monographie im Folioformat gewidmet. Es ist ein wunderbares Buch. Einerseits. Barbeu-Dubourgs Apparat besteht aus zwei, mit Kurbeln versehenen aufklappbaren Pappröhren. Geöffnet offenbart die Apparatur eine die beiden Röhren verbindende lange Papierspule, die in die eine oder andere Richtung aufgerollt werden kann. Diese Rolle besteht aus insgesamt 35, mit einander verbundenen Kupferstichen, die zusammen eine nicht weniger als 16,5 Meter lange Geschichtsrolle bilden. 1753 brachte Barbeu-Dubourg das Objekt auf den Markt. Man konnte die Geschichtskarten als Charte chronologique für sich oder mit dem Gehäuse erwerben. Erhalten geblieben ist ein einziger Apparat, einer ist verschollen, und vier Kartensets (S. 155). Geschichtsdiagramme reagierten im geschichtsfreudigen 18. Jahrhundert auf das Bedürfnis Historie in Chronologie und Geographie – den ‚zwei Augen der Historiographie‘ – auf einen Blick dargestellt zu bekommen und waren nichts Neues: Châtelains siebenbändiger Atlas historique (1705–1720), Martignonis Carta Istorica (1721), Johann Matthias Hases Atlas der Großreichentwicklung samt diagrammatischer Umsetzung zur Zeitbalkengraphik (1743) und Barbeaus Mappe-monde historique (1750) waren erschienen. Neu an Barbeu-Dubourgs Carte cartographique ist die konsequent pädagogische Form: Sie lokalisiert Länder samt Herrschern, darunter zentrale Ereignisse und wichtige Personen zeitzugeordnet. Neu ist, dass sich Geschichte nun dynamisch, haptisch erfahrbar und kontinuierlich vor den eigenen Augen abrollen lässt. Die Zukunftsoffenheit war schon Hases Zeitstrahl zu eigen. Zentral jedoch an Barbeu-Dubourgs Geschichtsdiagramm ist, dass ihm eine geographischen Messlatten entsprechende, schwarz-weiß gerasterte, einzelne Jahre anzeigende Zeitlinie beigegeben ist. Dem Betrachter wird – Schmidt-Burkhardt weist zurecht daraufhin (vgl. S. 33–37) – der reale Zeitverlauf der als Historie bekannten Geschichte mit den riesigen Informationsleerstellen bis zum Ende der rein biblischen Vor-Sintflut-Zeit und der weiterhin dünnen Geschichtsbesetzung bis hin zur griechischen Zeit als maßstabsgetreue Jahreschronik vor Augen geführt. Geschichte lässt sich vermessen und ermessen damit. Dazu kommt: Barbeu-Dubourg hatte 1752 Bolingbrokes historiographisch bedeutende Letters on the Study and the Use of History übersetzt (S. 125–129). Er war Freund und Übersetzer Franklins und nicht zuletzt mit Diderots Encyclopédie assoziiert.

Schmidt-Burkhardt ist mit großer Sachexpertise den Spuren nachgegangen, die Barbeu-Dubourgs Carte chronologique hinterlassen hat. Sie beschreibt jedes Detail, die Vorläufer, Anreger, Nachfolger, die Stecher der Karten, deren vier Abzüge samt den jeweiligen Änderungen darauf. Sie spürt dem Vertrieb, der Rezeption und der Verbreitung der Karte nach. Sie durchstreift die Landschaft des Geschichtsdiagramms in all ihren Facetten, zeigt welche Art von Geschichte dargeboten wird. Nicht zuletzt ordnet sie die Chronologiemaschine dem Pariser Encyclopédie-Milieu zu. Sie verwebt all das mit außerordentlicher Erzählkraft, die einem in das Paris der 1750er-Jahre versetzt.

Sie führt uns, um das Beispiel der Vertriebsorte zu nehmen, in den Laden des Polsterers resp. Raumausstatters Fleury und in das Anatomiekabinett von Mademoiselle Biheron. Diderot habe in der Nähe von Fleury gewohnt. „In unmittelbarer Nachbarschaft lebte auch Marie-Marguerite Biheron, die mit ihrem Talent zum Gestalten anatomischer Wachsnachbildungen und einer speziell dafür entwickelten Moduliermasse noch zu internationalem Ansehen gelangen sollte. Mademoiselle Biheron war mit Diderot, dessen bescheidene Wohnung sie übernehmen wird, und mehr noch mit Barbeu-Dubourg befreundet.“ (S. 93) Was dem Buch historische Tiefe zu verleihen sucht, ist nicht die Erzählung an sich, sondern dass Schmidt-Burkhardt Objektgeschichte, Visual History, Kulturgeschichte und Intellectual History verbindet und Barbeu-Dubourgs Karte zum Aktanten in all diesen Perspektiven werden lässt. Aufsehenerregend ist die Bebilderung des Bandes. Die Narrative wird von 157 Abbildungen begleitet. Viele Details der Chronologiemaschine sind dabei und über drei Seiten die Geschichtskarte am Stück, deren Geschichtsspiegelung so auf einen Blick erfahrbar wird (S. 88–90). Damit nicht genug: Als Anhang bietet Schmidt-Burkhardt auf 74 Tafeln die Reproduktion des Darmstädter Exemplars der Charte chronologique. Das Buch von Schmidt-Burkhardt ist nicht nur eine Beschreibung, sondern eine eigenständige, glänzende Ausstellung der Chronologiemaschine.

Schmidt-Burkhardt hat das kunsthistorische Ideal, Objekte richtig ins Licht zu setzen, vielseitig erfüllt. Nun läuft das Bemühen, seinen Gegenstand richtig ins Licht zu setzen, Gefahr in das Begehren abzugleiten, sein Ding mal so richtig ins Licht zu setzen. Immer wieder fällt Schmidt-Burkhardt in den „Könnte es nicht sein, dass“-Duktus eines History-Channels. Könnte es nicht sein, dass Barbeu-Dubourg Diderot im Sinn hatte, als er das Unsichere und also Unbekannte mit einem Sternchen bezeichnete, wie Diderot seine Artikel in der Encyclopédie? (S. 37) Könnte es nicht sein, dass die Marquise de Pompadour im Gemälde de La Tours ihre Hand auf den dritten Band der Encyclopédie mit dem Artikel über die Chronologiemaschine stützt, so ist doch im Bücherbord neben einer Lücke der vierte Band zu sehen, und hat sie den diesen dritten nicht offensichtlich gelesen, wie ein Einmerkbändchen zeigt? (S. 79f.) Könnte es nicht sein, dass Barbeu-Dubourg zu den Besuchern von Holbachs Salon zählte und dort die Chronologiemaschine „für Gesprächsstoff sorgte“, auch wenn Barbeu-Dubourg nicht in den Gästelisten verzeichnet ist? (S. 129) Wenn von Barbeu-Dubourgs Karte nur fünf Exemplare und von dem 1757 dazu erschienenen Erklärungsband nur ein Exemplar erhalten geblieben sind, dann, weil sie womöglich zu stark benutzt worden seien (S. 110). Ein bemerkenswertes Argument. Spontan hätte man eher daran gedacht, dass sich die Chronographiemaschine, anders als Bücher, schlecht archivieren ließ. Vor allem aber ließe sich vermuten, dass die allein mit Symbolen spezifizierten Ereignisse und Namen samt ihrer Auswahl und Anordnung auf der Karte für das Publikum alles andere als selbsterklärend waren, sich der pädagogische wie historiographische Nutzen der Karten derart in engen Grenzen hielt und das Objekt daher nicht unter die Leute kam.

Das Buchcover von Schmidt-Burkhardts Chronologiemaschinen-Hommage füllt ein Kupferstich: Stoffballen im Hintergrund, Sesselgestelle an der Decke und auf einem Stuhl ein Foto der Chronologiemaschine hinzugeführt. Man wundert sich. Im Mittelpunkt des Stichs sitzt eine junge Frau, in die Carte chronologique vertieft, kenntlich am schwarz-weißen Zeitbalken und für das Cover in zartem Ocker koloriert. „Wow“ denkt man, ist doch die Karte und die rege Rezeption der Frau allem Anschein nach Teil des Stichs. Im Impressum erfahrt man, dass es sich um „Tafel 1“ des neunten Bands des Tafelwerks der Encyclopédie handelt. Das „Wow“ wächst und bleibt 95 Seiten lang. Dort hat Schmidt-Burkhardts die Tafel nochmals im Kontext von Fleurys Laden originalgetreu abgedruckt und beschrieben: „Frauen sticken an einer Tapisserie oder nähen Vorhänge“. (S. 95) Und der Stich ist nicht der erste des Encyclopédie-Abbildungsbands, sondern der erste des Sets zur Tapisserie - Polsterei. Ist man wach genug, erfährt man so elegant implizit, dass Barbeu-Dubourgs Karte auf dem Cover in den Stich retuschiert worden ist. „Am Anfang dieses Buchprojekts stand eine kühne These: ohne Schaubild keine Französische Revolution“, so der erste Satz des Bands, der das „Wow“ des Lesers nach dem Cover nun schon wirklich groß werden lässt und dem Erzählfluss der Autorin einen Leitanker verschafft (S. 7). Das Argument läuft: Barbeu-Dubourgs Karte ist „Vorbild“ und „Urbild“ (S. 99) der „historiographischen Moderne“ (Titel), in deren Geschichtserwartung die Revolution eingebettet ist. Bei aller Fokussierung auf die Karte, man hätte sich hier in Spiegelstrichen wenigstens ein paar Sätze zur Historiographie des 18. Jahrhunderts gewünscht: Dass die Chroniken der Universalgeschichte frühneuzeitlich in Hunderte von Geschichtstafeln umgesetzt wurden, auf die sich die Geschichtsschaubilder stützten; dass sich die Gesamtdarbietung der Geschichte mit der Histoire philosophique und der Conjectural History der Naturrechts- und Kulturdebatten der Analyse und vor allem der Narrative zugewandt hat; dass dies von Gibbon u.a. mit methodischer Quellenanalyse verbunden wurde und dass sich der chronik-chronologische Kern der Historiographie zu einem Medienfächer von den Kompendien, der Spezialgeschichtsschreibung bis hin zu literarischen Geschichtsspielarten wie Anekdoten, Biographien, Romane, Dramen, Epen aufgespannt hat. Und man hätte sich, soll die Rede von der Revolution mehr als Aufmerksamkeitsstachel sein, ein paar Sätze zum Wer, Was und Warum der Revolution und etwas wenigstens zur Literatur über sie gewünscht. Gegen Ende des Buchs führt Schmidt-Burkhardt Condorcet als Kronzeugen für ihre These an: Condorcet habe seinen Fortschrittsglauben auf „Zahlen und Linien“ gestützt und die Lehr- und Lerneffekte der Schautafeln zu den Möglichkeitsbedingungen seiner „Epoche einer der großen Revolutionen der Menschheit“ gerechnet, zitiert sie ihn (S. 144). Bei den „Zahlen und Linien“ spricht Condorcet von der medizinischen Demographie, bei der Revolutionsepoche tatsächlich von Geschichte, allerdings von der Histoire philosophique des Aufklärungsdiskurses.1 Auf den letzten Seiten führt Schmidt-Burkhardt dann drei Argumente für ihre These an: Schaubilder wirkten änderungs- und handlungsmotivierend und regten, wie Deleuze schreibe, „Neuperspektivierung“ an (S. 149f.). Stimmt. All das braucht man zur Revolution. Aber braucht man Schaubilder zur Revolution?

Schmidt-Burkhardt hat Barbeu-Dubourgs Chronologiemaschine umfassend in Szene gesetzt. Sie hat deren historische Bedeutung, nun, etwas ‚aufgepolstert‘ dabei.

Anmerkung:
1 Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet, Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes, übers. von Ernst Ludwig Posselt, Tübingen 1796, S. 17, S. 322.

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