Irene Hilden nimmt die Lesenden ihrer bemerkenswerten Dissertationsschrift mit auf die Suche nach den abwesenden Präsenzen (absent presences) im Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität. Es ist ein tastendes, höchst umsichtiges Vorgehen Hildens auf diesem Weg zur Annäherung an die Aufnahmen von Erzählungen, Liedern und Gedichten und ihren Vortragenden. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hinterließen sie ihre Stimmen vor dem Hintergrund ihrer kolonialen Migrationsbiografien auf den Phonografen der deutschen Kolonialmacht. Hilden reflektiert jeden Schritt, auch ihre Fehltritte, während ihrer Annäherung und sie tut dies höchst informiert durch den Rückgriff auf die Vielstimmigkeit der transdisziplinären und internationalen Sound and Media Studies. Ihre wichtigste Referenz sind aber die Vorarbeiten der Kulturhistorikerin Britta Lange, die sich bereits in mehreren Arbeiten dem Lautarchiv sowie Theorie und Methode zur Analyse historischer akustischer Quellen gewidmet hat.1
Hilden legt eine historische Ethnografie der Aufnahmen des Lautarchivs vor, die zum erklärten Ziel hat, einen Beitrag zur Dekolonisierung dieses Archivs zu leisten. Entsprechend stellt sie die Lücken und Leerstellen des Archivs in den Vordergrund, fragt nach dem Unerhörten und Überhörten, der weitgehenden Abwesenheit weiblicher Stimmen beispielsweise oder den unterdrückten Geschichten zwischen den vorgetragenen Zeilen, die von der Präsenz der kolonialen Macht und deren „epistemic violence“ (S. 21) zeugen. Der rote Faden, der das Buch durchzieht, ist die Frage nach den Möglichkeiten einer respektvollen wissenschaftlichen Umgangsweise mit dem schwierigen Erbe der sensiblen Sammlungen des Archivs.2
Die Sammlungen des Lautarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin umfassen insgesamt ca. 10.000 Schellackplatten, Wachswalzen und Tonbänder.3 Ca. 3.800 davon beinhalten Sprachaufnahmen, die zum großen Teil in Kriegsgefangenenlagern des Ersten Weltkriegs aufgenommen wurden. Die Aufnahmen wurden zu Forschungszwecken der Sprach- und Musikwissenschaft sowie der Anthropologie aufgenommen. Hilden widmet sich der Analyse des Archivs in drei Hauptkapiteln: „the Ethnographic, the Archival and the Acoustic“ (S. 32), die sie als übergreifende Konzepte versteht, aber auch als Anlass für jeweils eng an diese Bereiche angeschlossene Reflexionen des Forschungsstandes, immer ausgerichtet auf Hildens Ziel einer dekolonisierenden Wissenschaftspraxis. In drei Fallstudien, die auf verschiedene Kapitel verteilt sind, nähert sich Hilden einer kleinen Auswahl der historischen Aufnahmen mit den Methoden des „close listenings“ und des „collaborative listenings“ – auch das gescheiterte Hören, „failed listening“, macht sie als Teil ihrer Annäherung methodisch produktiv. Grundsätzlich liegt der Fokus des methodischen Zugangs mehr auf dem Hören als auf dem Gehörten. Sie folgt hier der Musikwissenschaftlerin Nina S. Eidsheim, die argumentiert, dass bereits beim Zuhören Bedeutungen produziert werden und das Zuhören deshalb ein „politischer Akt“ ist4, dem in der Analyse von akustischen Quellen mehr Gewicht verliehen werden muss. Zum Beispiel wird Hildens feministisch geprägtes Zuhören in den Fallanalysen der Aufnahmen zweier Frauen deutlich, deren jeweils auf unterschiedliche Weisen ungewöhnliches Verhalten während der Aufnahmen von Hilden als widerständig interpretiert wird. Die Lesart ist durchaus plausibel, aber andere Hörer:innen würden das Verhalten womöglich anders hören und deuten.
Ein zentraler Schritt der Annäherung an das Quellenmaterial, den Hilden auch als wesentlichen Schlüssel für einen dekolonisierenden Zugang an das Material identifiziert, ist das kollaborative Hören und Analysieren der Aufnahmen. Schnell wurde sich Hilden ihrer begrenzten Möglichkeiten bewusst, allein die Sprachen und kulturellen Hintergründe der aufgenommenen Inhalte zu entschlüsseln, geschweige denn zu verstehen. Sie reflektiert immer wieder ihre Position gegenüber den Aufnahmen als „white, female, Western-trained, and institutionally privileged researcher“ (S. 63). Aus dieser Erkenntnis folgt der Ansatz der kollaborativen Ethnografie: Sie lädt Wissenschaftler:innen und Native Speaker ein, die Aufnahmen mit ihr gemeinsam anzuhören, oder sie ihren Familienangehörigen vorzuspielen und ihr ihre Assoziationen und Deutungen mitzuteilen. Dabei tritt zum Beispiel im Fall der Aufnahmen von Bayume Mohamed Hussein die Erkenntnis zum Vorschein, dass er Rituale eines Hochzeitsbrauchs vermutlich monoton abliest, statt sie frei zu erzählen. Die Zuhörenden deuten den monotonen „sing-song“ (S. 188) seiner Stimme als den Ausdruck eines Unbehagens, Rituale zu erklären, die zum Erfahrungsschatz von Frauen gehören und die intime Details verraten. Hildens kollaborativ erarbeitete Analysen lassen vermuten, dass Hussein einen Text vorlas, der von westlichen Kolonialwissenschaftlern auf Basis von Erzählungen – möglicherweise von Frauen, deren Erzählungen aber nicht archiviert wurden – redigiert wurde. Dieses Beispiel belegt, dass archivierte Tonaufnahmen eine so viel reichhaltigere Quelle sind als historische Texte oder auch die Transkripte von Tonaufnahmen. Die Qualitäten und Intonation der Stimmen, der Geräusche und auch der Pausen und der Unterbrechungen sind Träger vielschichtiger Bedeutungen, die im aufmerksamen Zuhören wiederum vielgestaltig gedeutet werden können.
Ich hätte gerne noch mehr von diesen Fallbeispielen gelesen – nicht unbedingt in der Anzahl, aber noch mehr in der ethnografischen Tiefe auch der kollaborativen Analysesituationen. Hilden eröffnet in ihren vielen Unterkapiteln einen so reichhaltigen Strauß an transdisziplinären analytischen Anknüpfungspunkten – ich hätte mir gewünscht, diese noch klarer am empirischen Beispiel nachvollziehen zu können. Möglicherweise ist es auch die ungewöhnliche Strukturierung des Buches, die beim Lesen herausfordert. Es ist nicht leicht, Hildens literaturgesättigten, theoretischen Reflexionen zu folgen. Womöglich wollte sie die übliche Struktur (Hinführung, Methode, Analyse) auch absichtlich unterlaufen, um nicht – sozusagen formhalber – diskursive Machtverhältnisse durch klassische Repräsentationspraktiken zu perpetuieren. Ich fühlte mich dadurch beim Lesen aber immer wieder etwas verloren zurückgelassen mit dem Gefühl, die zur Analyse aufbereiteten Quellen nie ganz greifen oder in ihren Herstellungskontexten analytisch erfassen zu können. Das mag durchaus beabsichtigt sein, da es sich eben nur um eine Annäherung handeln kann und nicht um ein vollständiges Verstehen und Durchdringen dieser absent presences. Hilden antizipiert dieses unbefriedigende Gefühl ihrer imaginierten Lesenden sogar: Sie habe gelernt, die Leerstellen des Archivs zu respektieren, „rather than perpetuating problematic representational regimes“ (S. 92). So ringt Hilden auch mit sich selbst, inwiefern sie überhaupt die Geschichte der aufnehmenden kolonialen Wissenschaftler thematisieren soll. Sie tut es in ihren Fallstudien aber doch und kann insgesamt gewinnbringend das Bild des kolonialen Wissensapparats, seiner Zielsetzungen und Methoden und somit auch die Mechanismen der epistemischen Gewalt dieses Systems näherbringen. Gleichzeitig produziert Hilden absichtlich selbst Leerstellen, um koloniale Expressionen nicht zu wiederholen, zum Beispiel in der Bildsprache. So ist von der fotografischen Aufnahme der „Völkerschau“ im Zoologischen Garten von Berlin 1926 zur Eröffnung der „Hagenbeck-Indienschau“ auf Seite 139 nur die Rückseite abgedruckt und eine Bildbeschreibung hinzugefügt, um den „hegemonic gaze“ (S. 138) durch die Bildwiedergabe nicht in der Studie zu perpetuieren. Denn das wichtigste Anliegen ihrer Studie ist es, immer wieder zu fragen, wie eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lautarchiv möglich ist, ohne die asymmetrischen Machtstrukturen des kolonialen Systems zu reproduzieren.
Die wegweisende Studie für den Umgang mit den Archivalien eines kolonialen Archivs bietet viele wichtige Anknüpfungspunkte für theoretische Analysekonzepte und methodische Zugänge, auf die in Zukunft unbedingt aufgebaut werden sollte. Sie gibt auch für den Aufbau gegenwärtiger Sammlungen wichtige Anstöße. So geht Hilden zum Schluss auf die Sammlungspraxis von biometrischen Daten und Stimm-Samples durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein, die gesammelt werden, um die Glaubwürdigkeit der Fluchtgeschichten zu überprüfen. Hilden bringt die aktuellen Sammelpraktiken mit denen des Lautarchivs in Verbindung und mahnt an, dass dadurch aktuell wieder ein schwieriges Erbe entsteht, das nicht nur für die Geflüchteten heute höchst problematisch ist, sondern mit dem unsere Nachkommen sich in 100 Jahren wieder kritisch auseinandersetzen müssen.
Anmerkungen:
1 Siehe die Publikationen von Britta Lange hier: https://www.culture.hu-berlin.de/kuwi_p52/de/institut/kollegium/1685612/publikation (11.08.2024).
2 Sharon MacDonald, Difficult Heritage. Negotiating the Nazi past in Nuremberg and beyond, London 2009; Margit Berner / Anette Hoffmann / Britta Lange (Hrsg.), Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg 2011.
3 Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin: https://www.lautarchiv.hu-berlin.de/ (11.08.2024).
4 Nina S. Eidsheim, The Race of Sound. Listening, Timbre, and Vocality in African American Music, Durham 2019, hier S. 24.