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Titel
Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter. Eine internationale Geschichte


Autor(en)
Homberg, Michael
Reihe
Geschichte der Gegenwart
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
581 S., 25 Abb.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Speich Chassé, Historisches Seminar, Universität Luzern

Darstellungen der Computergeschichte zeichnen sich oft durch ein spezifisches geographisches Muster aus, das in dem Buch von Michael Homberg zum digitalen Indien explizit relativiert wird. Ähnlich wie in anderen Bereichen der „Big Science“, etwa der Nukleartechnologie, spielen in dem gängigen Masternarrativ die USA in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die zentrale Rolle. James Cortada hat von einer „digitalen Flut“ gesprochen, die sich von diesem Teil der Welt unaufhaltbar ausgebreitet habe.1 Die Flutmetaphorik findet sich heute überall. Die Leitung der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich sprach zum Beispiel im Jahr 2018 von einem „digitalen Tsunami“, der auf die Schweiz zurolle und auf den zu reagieren sei.2

Titelgebend für Hombergs Untersuchung ist der Begriff der „Unabhängigkeit“. Dieser verweist auf zwei gegenläufige Treiber der Weltgeschichte: einerseits die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit der letzten Dekolonisierungswelle nach 1945; andererseits die Beobachtung zunehmender Interdependenz und gegenseitiger Abhängigkeit von Regionen der Weltwirtschaft im Zuge der Globalisierung. Der Verfasser widmet sich Indien, wo unter anderem in Bangalore ab den ausgehenden 1970er-Jahren ein weltweit führender Ort digitaler Kompetenz entstand. Dabei gelingt es ihm, die vielfältigen Bezüge seines Quellenmaterials in den globalen „Nord-Süd-Ost-West-Beziehungen“ (S. 14, S. 475) zu verorten und so die vereinfachende Narration einer digitalen Welle, die von Kalifornien ausging, zu komplizieren. Auch bringt er eine Fülle von Evidenz dafür, wie ambivalent der Unabhängigkeitsbegriff in seiner Doppelung – als politisches und als wirtschaftliches Postulat – historisch gewirkt hat. Das Beispiel Indien zeigt, dass die durch wirtschaftliche Stärke fundierte politische Unabhängigkeit just aus der Integration ins weltwirtschaftliche Interaktionsgeflecht hervorging, das per definitionem mit starken Interdependenzen und Abhängigkeiten verbunden ist.

Die gängige „Flutgeschichte“ geht so: Aufbauend auf wissenschaftlichen Durchbrüchen in Großbritannien, Deutschland und der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs habe die US-Regierung passend zu Vannevar Bushs Stichwort von der Wissenschaft als „the endless frontier“ massiv investiert und in einem militärisch-industriellen Komplex zwischen Pentagon, IBM-Hauptquartier und Eliteuniversitäten das heutige Computerzeitalter geschaffen. Dieses sei durch die kalifornische Hippie-Bewegung (gegen-)kulturell angereichert, neoliberal eingefangen und von disruptiven Unternehmerpersönlichkeiten über den Globus verteilt worden. Homberg hebt Sam Pitroda als schumpeterianischen Innovator hervor, der in armen Verhältnissen in Indien aufwuchs, mit 22 Jahren erstmals ein Telefon sah, nach seiner Ausbildung in den USA dort zu einem erfolgreichen Telecom-Unternehmer wurde und in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre unter der Regierung von Rajiv Gandhi das „Centre for Development of Telematics“ (C-DOT) in Indien aufbaute (S. 398ff.).

Ab den 1980er-Jahren wurde allenthalben versucht, den kalifornischen Inkubations- und Diffusionsprozess am Schnittfeld von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft geographisch zu kopieren. Homberg listet folgende Initiativen auf: In Brasilien entstand das „Campesinos Silicon Valley“, in Taiwan das „Silicon Island“, die chinesische Regierung sprach von „Shenzen, the Silicon Valley of Hardware“ und Israel vom „Silicon Wadi“ (S. 410). Armenien als „Silicon Valley des Kaukasus“ oder Kenya mit seiner „Silicon Savannah“ oder auch der Schweizer Kanton Zug als „Crypto Valley“ wären zu ergänzen.3

Homberg legt eine internationale Geschichte des Computerzeitalters vor. Dazu gehört auch die Entstehung einer virtuellen Welt, in der spätestens seit der Erfindung des Internets (circa 1990) realwirtschaftliche Ungleichheiten reproduziert worden sind. Zugleich weist die neue virtuelle Welt das Potenzial der soziotechnischen und kulturellen Interdependenz voll aus, das Ungleichheiten zu nivellieren weiß. Interdependenz, Dependenz und Souveränität stehen in einem komplexen Verhältnis. Das erfuhren die indischen IT-Spezialisten, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Beispiel nach Berlin kamen. Der Verfasser widmet ihnen eine gelungene Miniatur (S. 452–466).

Die Studie ist in sechs Hauptkapitel gegliedert. Unter dem Titel „Indiens Quellcode“ geht Homberg auf die ersten indischen Bemühungen um Computertechnologie ein. Dabei spielen die Haltung von Mohandas Karamchand Gandhi zur Technik sowie die Konkurrenz zwischen Prasanta Chandra Mahalanobis, dem führenden indischen Statistiker, und Homi J. Bhabha, der zentralen Figur in der indischen Atomtechnologie, eine Rolle. Immer wieder wird Jawaharlal Nehru mit Zitaten bemüht, aus denen seine Technikaffinität mit Blick auf das große Projekt der nationalen Wirtschaftsentwicklung im Nachvollzug der europäischen Erfahrung hervorgeht.

Das Kapitel mit dem Titel „Programme und Programmierer“ ordnet die indische Erfahrung in den Kontext des globalen Entwicklungsdiskurses ein, der mit dem Point Four Speech von US-Präsident Harry Truman 1948 lanciert und anschließend in vielen Sonderorganisationen der UNO unter anderem in der UNESCO grundlegend wurde. Homberg geht im Kapitel „(Post-)koloniale Begegnungen“ vor diesem internationalen Hintergrund auf die Gründung der „Indian Institutes of Technology“ ein, die ab den 1950er-Jahren im Sinne einer Meritokratie das Humankapital des Riesenlandes abschöpfen wollten, aber faktisch die Elitenbildung verstärkten. Wertvoll ist sein Blick auf die Förderabsichten der UdSSR in Bombay, der USA in Kanpur, der Briten im „Delhi College of Engineering and Technology“ und der BRD in Madras. Dieser Erzählung stellt Homberg im anschließenden Kapitel „Autonomie“ die vielfältigen Stimmen der Technikkritik entgegen, die sowohl im internationalen als auch im indischen Kontext ab den 1970er-Jahren vehement wurden – bisweilen mit Rückgriff auf die Technikkritik von Gandhi.

Homberg setzt ein starkes Kapitel gegen diese weltverbessernden Positionen unter dem Titel „Neue Wege, neue Märkte“ (S. 355–422). Die Enthemmung des Weltmarktes im Zeichen des Neoliberalismus ab circa 1990 rief in Indien starken Widerspruch hervor. Das Spannungsfeld zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit im Zeitalter globaler Vernetzung wird hier deutlich greifbar. Die technische Entwicklung führte nach Anfangsschwierigkeiten zu einer totalen Neustrukturierung des globalen Arbeitsmarktes. Der Verfasser geht auch auf die Arbeitsmigration von indischen Computerfachkräften seit den 1990er-Jahren ein – besonders nach Deutschland und nach Kalifornien.

Mit seiner Untersuchung fördert Michael Homberg das Verständnis für Indien als „Technologienation“ (unter anderem S. 475) in Abgrenzung zu Japan, Südkorea, Singapur und Taiwan. Sie ist empirisch reich. Neben der breiten Literaturrecherche belegen Archivfunde aus über 40 physischen Archiven in Indien, den USA, der BRD, Großbritannien und Frankreich und aus einer Reihe von digital zugänglichen Archiven den zentralen Befund: Der digitale Wandel ging nicht einfach von Kalifornien aus, sondern ist als Gegenstand und Treiber der jüngsten Globalgeschichte ernst zu nehmen.

Hombergs Arbeit liest sich gut. Sie ist jedoch konzeptionell zu breit abgefasst. Das leitende Spannungsfeld von Unabhängigkeit, Dependenz und Souveränität wird weder in der Einleitung noch im Schlusswort in einer weiterführenden Weise verdichtet. Hier hätte es Raum für weitere Theoretisierung gegeben. Doch das ist nicht Hombergs Ziel. Er entfaltet seine Qualitäten als Autor vielmehr in der Analyse unzähliger Originalquellen aus „Nord-Süd-Ost-West“. Auf dieser Basis ordnet er das Thema Computer hervorragend in die globale Entwicklungszusammenarbeit ein, die in der weltpolitischen Kommunikation nach 1945 leitend wurde, und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Forschung.

Anmerkungen:
1 James Cortada, The Digital Flood. The Diffusion of Information Technology Across the U.S., Europe, and Asia, Oxford 2012.
2 Neuer ETH-Präsident Joël Mesot: «Es rollt ein digitaler Tsunami auf uns zu», in: Neue Zürcher Zeitung, 24.10.2018, https://www.nzz.ch/zuerich/es-rollt-ein-digitaler-tsunami-auf-uns-zu-ld.1430926 (11.07.2024).
3 Jutta Sommerbauer, Das Silicon Valley des Südkaukasus, in: Die Presse, 16.01.2019, https://www.diepresse.com/5559938/das-silicon-valley-des-suedkaukasus (11.07.2024); GEMEINSAM FÜR AFRIKA e.V., Silicon Savannah. Das Silicon Valley Ostafrikas, https://www.gemeinsam-fuer-afrika.de/silicon-savannah/ (11.07.2024); Crypto Valley Association, https://cryptovalley.swiss/ (11.07.2024).