Man kann der hier besprochenen, nun publizierten Pariser Dissertation Tobias Boestads, die die Emergenz der Hanse im 13. und 14. Jahrhundert untersucht, nur wünschen, dass sie angesichts der zunehmend schlechter werdenden wechselseitigen Sprachkenntnisse intensiv in der deutschsprachigen Hanseforschung rezipiert werden wird.1 Dieses sprachlich und argumentativ elegante, auf sorgfältiger Quellenarbeit und präziser Literaturkenntnis beruhende Buch liefert nämlich nicht nur die umfassendste Darstellung der Herausbildung hansischer Strukturen in dieser Zeit. Boestad eröffnet Ansätze und Fragestellungen, die nicht nur eine Neubewertung dieser in den letzten Jahren eher weniger intensiv untersuchten Phase erlauben, sondern auch für die politische Geschichte der Hanse im 15. und 16. Jahrhundert anregend sind.
Boestad widmet sich mit seinem Buch der Hanse „vor der Hanse“ (S. 8). Damit nimmt er Bezug auf die Debatte der letzten Jahrzehnte, die über die Erforschung von Selbst- und Fremdbezeichnungen gezeigt hat, dass sich „die Hanse“ erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts institutionalisierte.2 Er verfolgt dabei einen politik- und diskursgeschichtlichen Ansatz und fokussiert auf Praktiken der Vertretung und Legitimierung und die Schlüsselbegriffe der politischen Sprache in ihrer diskursiven Nutzung und Fortentwicklung durch die Akteure. Hinsichtlich der gruppenformierenden Dimension dieser Begriffe bewertet Boestad Lübecks Rolle in diesem Prozess als maßgeblich (S. 41, S. 674–676). Diese Absage daran, die Hanse weniger „travezentrisch“ zu deuten, ist überzeugend, zeigt der Quellenbefund doch die herausgehobene Position der Travestadt, die ihre Interessen über Diskursfiguren wie die des „gemeinen Kaufmanns“ verfolgte, aber auch die „Travezentrik“ der zwischenstädtischen Diskurse des 13. und 14. Jahrhunderts.
Das Buch gliedert sich in vier chronologisch aufbauende Teile, die auch thematisch unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Der erste Teil widmet sich den Strukturbedingungen des 13. Jahrhunderts. Boestad analysiert dabei erste „hansische Episode(n)“ am Ende des 13. Jahrhunderts in den Handelssperren gegen Brügge 1280–1282, im Embargo gegen Norweger 1285 und einem geplanten Handelsboykott gegen Nowgorod (S. 191–211). Hier zeigen sich erste Konjunkturen wesentlicher Begriffsverwendungen und Praktiken, die im 14. Jahrhundert zunächst abbrachen.
Der zweite Teil widmet sich Phänomenen der Bildung von „imaginierten Gemeinschaften“ (S. 217) in den Städten des Ostseeraums. Kernstück dieses Teils, vielleicht des gesamten Buches, ist das sechste Kapitel, das sich der für die Hansegeschichte zentralen, aber bisher untererforschten Diskursfigur des im Kollektivsingular genannten „gemeinen Kaufmanns“ widmet, dessen „Genealogie“ Boestad im 13. Jahrhundert nachzeichnet. Er zeigt, wie über diese sich vom Plural zum Singular entwickelnde Diskursfigur „in“- und „outgroups“ kreiert wurden, wie die städtischen Eliten diese instrumentalisierten und ihre jeweiligen Opponenten als Gegner ebendieses „gemeinen Kaufmannes“ markierten. Dies ermöglichte es, die lokalen Bündnisstrukturen kaufmännischer Eliten auf ein überregionales Niveau zu heben. Über die Diskursfigur des „gemeinen Kaufmanns“ habe Lübeck versucht, vor 1300 eine umfassende überregionale Städtegruppe um sich zu scharen. Boestad weist hier eine erste Konjunktur dieser Semantiken schon deutlich vor dem 15. Jahrhundert nach, in der der diese erneut intensiv aufgegriffen werden.3
Ausgehend von den Geleitzusagen und Strandrechtsregelungen für verschiedene der Städte zeigt Boestad im dritten Teil, dass die Kaufleute nicht auf Rechtsvereinheitlichung drängten. Im vierten Teil fragt er nach der Genese eines „hansischen Rechts“, wobei er dies eher als Produkt der Institutionalisierung, die es rechtlich zu legitimieren galt, sieht (S. 519).4 Er zeigt das Bemühen der Städte, sich materielle Urkunden anzueignen, um die jeweiligen rechtlichen Positionen zu stärken und Dominanz- und Hegemonialpositionen auszubauen.
Hier zeigt der von Boestad aufgegriffene Regime-Begriff seine Stärken. Boestad verdeutlicht, dass die Hanse in Etappen und um gruppenbildende Diskursmotive herum entstand. Insofern war die hansische Solidarität nicht ein Produkt einer hansischen Verfassung, sondern vielmehr ein Diskursmotiv, das auf die Herausbildung der Hanse einen wesentlichen Einfluss hatte.
Die zahlreichen Einzelbeobachtungen lassen sich nur unzureichend würdigen. Es ist eine elegante, quellengesättigte und gedankenreiche Darstellung, um die man künftig nicht herumkommen wird. Daher möchte ich abschließend skizzieren, welche Perspektiven sich aus Boestads Forschung über den von ihm gewählten Untersuchungszeitraum hinaus ergeben.
Boestads Fokus, Hanse vornehmlich als ein Produkt politischer Diskurse zu verstehen, ist nicht nur für das 13. und 14. Jahrhundert anregend. Auf der Ebene dieser Diskurse scheint historischer Wandel am ehesten greifbar zu sein – und ein chronologischer Abriss der Hansegeschichte möglich zu sein, der nicht mehr dem Schema von Aufstieg-Blüte-Niedergang folgt5, sondern Konjunkturen der Beanspruchung, „hansisch“ zu sein, zu erklären und damit die hansische Geschichte „ergebnisoffen“ zu betrachten versucht. Eine tiefergehende Analyse der politischen Sprache stellt ein Desiderat dar. Boestads Analyse leistet einen Aufschlag, der zugleich die erste Konjunktur dieser Semantiken schon deutlich vor dem 15. Jahrhundert sieht, in der der Rezensent eine Hochphase dieses Diskursmotivs sieht.6
Die Rhetorik vom „gemeinen Kaufmann“ erlebte im 15. Jahrhundert ein „revival“ in ganz anderen historischen Kontexten (nicht beim Erwerb von Handelsprivilegien, sondern eher in oft auch innerhansischen Verteilungskonflikten). Daher müssen diese Diskurse an die ökonomischen und sozialen Konstellationen, in denen die Akteure auf sie zurückgriffen, angebunden betrachtet werden: Boestad verweist darauf, dass die Konsolidierungsphase der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Phase ökonomischer und sozialer Krisen und Kontraktion war. Eine Erklärung dieses Befundes steht außerhalb seines eigentlichen Forschungsbefundes; sie steht aber generell noch aus.
Die Hanseforschung hat oft die einzigartige Struktur der Hanse im politischen Mittel- und Nordeuropa betont, die sie von anderen korporativen Strukturen, etwa Städtebünden, unterschieden haben. Das ist aufgrund ihrer langen Geschichte und großen räumlichen Ausdehnung plausibel. Dennoch scheint mir nach der Lektüre von Boestads Buch die Vorstellung von der Unvergleichbarkeit stärker zu hinterfragen zu sein. Gerade auf der Ebene der politischen Diskurse zeigt sich, dass sich Denkfiguren wie die des „gemeinen Kaufmanns“ gar nicht so sehr von denen anderer kommunaler Strukturen unterschieden. Hier scheint mir ein auf politische Semantiken abhebender Ansatz, wie Boestad ihn wählt, Potential zu bieten, um die Metamorphosen der Hanse komparativ zu verstehen, und die Wandlungen ebendieser politischen Sprache aus den bisweilen konflikthaften, bisweilen kooperativen Interaktionen verschiedener Akteursgruppen zu erklären. Dafür sensibilisiert Boestads gutes und sehr anregendes Buch.
Anmerkungen:
1 Zwei Artikel Boestads, die die Gedankengänge des Buchs vorstellen, liegen auf Deutsch und Englisch vor: Tobias Boestad, Ein erster „hansischer Moment“. Lübeck, die „Seestädte“ und die Frühformen der hansischen Konsensbildung im späten 13. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 140 (2022), S. 31–57; Tobias Boestad, Merchants and Guests. Laws and Conditions of Baltic Trade Hospitality, Twelfth-Fourteenth Centuries, in: Sari Neuman u. a. (Hrsg.), Baltic hospitality from the Middle Ages to the twentieth century. Receiving strangers in Northeastern Europe, Cham 2022, S. 85–116.
2 Etwa Thomas Behrmann, Der lange Weg zum Rezeß. Das erste Jahrhundert hansischer Versammlungsschriftlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 433–467; Thomas Behrmann, „Hansekaufmann“, „Hansestadt“, „Deutsche Hanse“? Über hansische Terminologie und hansisches Selbstverständnis im späten Mittelalter, in: Thomas Scharff (Hrsg.), Bene vivere in communitate. Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. FS Hagen Keller, Münster 1997, S. 155–176; Geelhaar, Tim, Wendische Städte oder civitates maritimae? Sondierungen zum Sprachgebrauch in den Hanserezessen von 1256-1370, in: Rudolf Holbach / Dietmar von Reeken (Hrsg.), „Das ungeheure Wellen-Reich“. Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte, Oldenburg 2014, S. 57–70; Carsten Jahnke, „Homines Imperii“ und „Osterlinge“. Selbst- und Fremdbezeichnungen Hansischer Kaufleute im Ausland am Beispiel Englands, Flanderns und des Ostseeraumes im 12. und 13. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011), S. 1–32.
3 Philipp Höhn, Entscheidungsfindung und Entscheidungsvermeidung in der Hanse. Das Beispiel der Sunddurchfahrt um 1440, in: Wolfgang Eric Wagner (Hrsg.), Entscheidungsfindung in spätmittelalterlichen Gemeinschaften (Kulturen des Entscheidens 8), Göttingen 2021, S. 91–137.
4 Zu diesem durchaus problematischen Begriff siehe Carsten Groth, Hanse und Recht. Eine Forschungsgeschichte (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF 74), Berlin 2016.
5 Dazu Ulla Kypta, Aufstieg, Blüte, Niedergang – Entstehung, Krise, Übergang. Von der bürgerlichen zur postmodernen Hanseforschung, in: Oliver Auge (Hrsg.), Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald 2012 (Kieler Werkstücke A 37), Frankfurt a. M. 2014, S. 413–428.
6 Höhn, Entscheidungsfindung, S. 91–137.