H.-J. Rheinberger u.a.: Ordnung und Organisation

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Titel
Ordnung und Organisation. Begriffsgeschichtliche Studien zu den Wissenschaften vom Leben im 18. und 19. Jahrhundert


Autor(en)
Rheinberger, Hans-Jörg; McLaughlin, Peter
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Merdes, Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, Technische Universität Braunschweig

Der zu besprechende Band Ordnung und Organisation versammelt mehrere biologiegeschichtliche Aufsätze der Wissenschaftshistoriker und -philosophen Hans-Jörg Rheinberger und Peter McLaughlin aus den 1980er-Jahren. Die Beiträge konzentrieren sich auf das 18. und 19. Jahrhundert und den sich in diesem Zeitraum ereignenden Umbruch von der Naturgeschichte zur Historisierung des Lebens. Da diese Entwicklung heutige Vorstellungen vom Leben und von der Geschichte entscheidend geprägt hat, wurde sie von der Wissensgeschichte und -philosophie keineswegs vernachlässigt. Besonders viele Publikationen sind um Darwins Evolutionstheorie erschienen, unter anderem im Zusammenhang des feministischen Theoriestrangs des Neuen Materialismus. Im Hinblick auf die neumaterialistische Darwin-Rezeption (z. B. von Elizabeth Grosz) erlauben die in ihrer Historisierung genaueren Texte von Rheinberger und McLaughlin ein produktives Kreuzlesen hinsichtlich der Auffassung von Zeitlichkeit, der Beziehung zwischen dem Organischen und dem Anorganischen und der Frage, inwieweit sich die Funktionsweisen der Evolution auf kulturelle Gebilde wie die Sprache übertragen lassen. Darüber hinaus bieten die Aufsätze interessante Perspektiven auf Konzepte und Protagonisten der sich herausbildenden Biologie und theoretische Überlegungen, die heute nach wie vor von Relevanz sind. Beispielsweise wird die Bedeutung von Praktiken des Experimentierens bei der Entstehung von Charles Darwins Evolutionstheorie herausgearbeitet, was zu deren Verständnis beiträgt. Die 17, zum Teil gemeinschaftlich verfassten, Publikationen sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum angeordnet. Rheinberger und McLaughlin sehen ihre Beiträge als begriffsgeschichtliche Studien, als Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie sowie als Reflexion über die Wissenschaftsgeschichte. Entstanden sind die Aufsätze im Zuge eines gemeinsamen Lehrauftrags an der Freien Universität Berlin, der den Autoren die Gelegenheit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der zugrunde liegenden Literatur bot. Rheinberger und McLaughlin betonen die zentrale Rolle des Textstudiums für ihre wissenschaftshistorische Praxis: „Der Einsatz war, eine Wissenschaftsgeschichte mit theoretischem Anspruch zu betreiben, analytisch so präzise wie möglich und so nah wie möglich an den Originalen.“ (S. 7)

Mehrere der Beiträge fokussieren Theorien, die an der breiten Schwelle zwischen der Naturgeschichte und der Evolutionstheorie verortet werden. Das auf zufälliger Variation und Selektion basierende Evolutionsprinzip bildet eine Art Episteme, welche dieses Buch prägt und aus deren Denkstrukturen es zumindest für die ausgebildete Biolog_in kein Entrinnen gibt. Im Aufsatz Über Formen und Gründe der Historisierung biologischer Modelle von Ordnung und Organisation am Ausgang des 18. Jahrhunderts charakterisiert Rheinberger mit den titelgebenden Begriffen Ordnung und Organisation zwei naturgeschichtliche Ebenen, die unmittelbar vor und auf der Schwelle angesiedelt werden. Ordnung steht für die eher starre Systematik der Lebewesen, die als Stufenleiter oder Kette des Seins konzipiert wurde. Die Organisation betrifft dynamische Funktionsweisen von Organismen, die unter anderen im Kontext der Zeugungstheorien der Präformation und der Epigenese verhandelt wurden.

Indem Rheinberger die „begrifflichen und empiristischen Problemlagen“ (S. 8) auf den Ebenen der Ordnung und Organisation erörtert, begibt er sich auf die Suche nach den Gründen, die zum Bruch mit der Naturgeschichte und zur Historisierung des Lebens führten. Unter anderen hätten Erkenntnisse aus der Pflanzen- und Tierzucht sowie aus der Paläontologie einen „Historisierungsdruck“ (S. 12) und die Generierung verschiedener Historisierungsmodelle bewirkt. Bei einigen Protagonisten der Naturgeschichte wie Linné und Buffon waren die Voraussetzungen der Historisierung des Lebens für Rheinberger partiell erfüllt. Letztendlich seien ihr aber zwei epistemische Hindernisse im Wege gestanden, nämlich die Determinismen der causa finalis und der causa efficiens (S. 20). Rheinberger zeichnet ein komplexes Bild von vielfältigen, sich zwischen den Polen der Ordnung und Organisation bewegenden, Wissenskonfigurationen.

Im gemeinsam verfassten Aufsatz Darwin und das Experiment widmen sich Rheinberger und McLaughlin der Schwelle selbst. Auf dieser nehmen Darwins Experimentierpraktiken einen entscheidenden Platz ein. Die beiden Autoren stellen die These auf, die Züchtung sei für Darwin bei der Formulierung der Evolutionstheorie weniger als Analogie für die natürliche Selektion von Bedeutung gewesen denn als „Experimentierfeld“ (S. 60). Anders als Thomas Henry Huxley und Darwins Kritiker William Hopkins habe Darwin den Blick nicht auf die Produkte der Zucht gerichtet, sondern auf die experimentelle „Realisierung eines Evolutionsmechanismus“ (S. 64). Rheinberger und McLaughlin zeigen auf, wie diese Realisierung erfolgen konnte, nachdem Darwin ein „bruchloses Selektionskontinuum“ (S. 65) zwischen Natur und Zucht hergestellt hatte. In diesem war der Mensch letztlich, wie andere Spezies, schon immer ein Element und ein Veränderungspotential in der Mitwelt anderer Arten, schon immer „Selektionsinstanz“ (S. 66). Auf diese Weise wurde bei Darwin nicht nur der vorherrschende Natur-Kultur-Dualismus unterlaufen, es wurden auch „natürliche Experimente“ (S. 67) und „ökologische Experimente“ (S. 68) ermöglicht, welche die Grundlage der Realisierung des Evolutionsmodells bildeten. In diesem Aufsatz gelingt es den Autoren nicht nur den Aspekt des Experiments in der Evolutionstheorie herauszuarbeiten, sie führen auch die einschneidende Bedeutung der Evolutionstheorie vor Augen, die in der Folgezeit sowohl das Feld der Biologie als auch Vorstellungen vom Leben und dem Status des Menschen nachhaltig umgestaltete.

Einige der Aufsätze beider Autoren zusammengenommen bilden zudem eine recht umfangreiche Studie zu Organismusbegriffen und -bildern, die bei René Descartes, Georges-Louis Leclerc de Buffon, Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Immanuel Kant, Jean-Baptiste de Lamarck, Georges Cuvier, Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, Matthias Jacob Schleiden, Charles Darwin, Johannes Müller, Ernst Brücke und Claude Bernard untersucht werden. Maschine, Kristallisation, Assimilation, moule intérieur und Stoffwechsel sind einige der zentralen Konzepte, entlang derer der Organismus in diesem Zusammenhang verhandelt wird. McLaughlins Aufsatz Kants Organismusbegriff in der Kritik der Urteilskraft bereichert diese begriffsgeschichtliche Arbeit mit Erkenntnissen aus seiner Forschung zum Verhältnis zwischen Immanuel Kants kritischer Philosophie und den Naturwissenschaften, dem Thema seiner 1986 abgeschlossenen Dissertation.

In Zeit und Biologie behandelt Rheinberger Zeitkonzeptionen in den Natur- und Lebenswissenschaften, wobei eine Pluralität der Zeitkonzeptionen erarbeitet wird. Bei Buffon folgten demnach nicht nur die Erde, Arten und Organismen eigenen Zeitlichkeiten, auch Buffons Verständnis der Zeit wandelte sich im Laufe seines Lebens. Während er die Erde anfangs als zeitloses, zyklisch wiederkehrendes physikalisches System begriff, gelangte er später zur Vorstellung einer gerichteten und irreversiblen Zeit, die dem Gesetz der Abkühlung gehorcht und Rheinberger an die Thermodynamik denken lässt. Buffon erklärt damit, ebenfalls physikalisch fundiert, geologische Veränderungen und verschiedene Epochen der Natur. Auch hinsichtlich der Arten findet Rheinberger bei Buffon Potenziale für zeitliche Veränderung, denen allerdings die Zeitkonzeption des Naturforschers im Wege gestanden habe. Während „die Logik des Systems [...] eine Veränderung der Arten nicht aus[schloss]“ (S. 195), blieb sie deshalb eine Ausnahmeerscheinung. In Buffons Theorie verortet Rheinberger jedoch „die Stelle, an der die Zeit in die Wissenschaften von der belebten Natur eindringt.“ (S. 195)

Nach einem Sprung ins 20. Jahrhundert im selben Aufsatz entwickelt Rheinberger anschließend eine eigene Zeitstruktur der Lebewesen. Hierbei knüpft er unter anderen an Ilya Prigogines operative Zeit und an Darwin an. Als wesentliche Zeitstrukturen unterscheidet er Perioden, beispielsweise den Schlaf-Wach-Rhythmus, durch die operationale Zeit geprägte Spannen, beispielsweise die Lebenszeit eines Menschen, und das Feld oder Evolutionsfeld, das die Zeit der Gattung (Phylogenese) strukturiert und einen offenen Zeithorizont aufweist (S. 197 f.). Allen drei Zeitlichkeiten legt Rheinberger die Funktionsweise der differentiellen Reproduktion zugrunde. Differentielle Produktion sieht Rheinberger auch in der Entwicklung der Technik und im wissenschaftlichen Experimentieren am Werk. Diese Gedanken führte er später in seiner Arbeit zu Experimentalsystemen in der Geschichte der Proteinbiosynthese weiter aus.

Ordnung und Organisation ist eine facettenreiche Auseinandersetzung mit biologischen Begriffen, die nicht nur für Wissenschaftshistoriker:innen und -philosoph:innen lesenswert ist. Auch mehr als 20 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung können die versammelten Aufsätze die Wissenschaftsgeschichte bereichern. Vor dem Hintergrund der Darwin-Rezeption im Rahmen des Neuen Materialismus werfen sie zudem Fragen auf, die eine (Re)lektüre lohnenswert machen. Außerdem ist die Publikation ein Fundus für die Geschichte der Wissenschaftsgeschichte. In einigen seiner Aufsätze schlägt Rheinberger den Weg in Richtung Experimental- und Vererbungsgeschichte ein, was die Publikation besonders für die Forschung zur Genese des Rheinbergerschen Experimentalsystems interessant macht. Die Art der Publikation bring es mit sich, dass es an einigen Stellen zu Redundanzen kommt. Ihren eingangs formulierten Ansprüchen, so nah wie möglich an den Originaltexten zu bleiben und einen Schwerpunkt auf das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie zu legen, werden die Autoren gerecht. Die angekündigte Reflexion über die Wissenschaftsgeschichte findet sich besonders in Rheinbergers Aufsatz Wissenschaftsgeschichte als Zugang zur methodischen Reflexion wissenschaftlicher Arbeit? Einige Bemerkungen und ein Beispiel aus der Geschichte der Biologie. Durch die Nähe zu den Originaltexten ist die Forscherperspektive zuweilen etwas stark ausgeprägt, was die Analyse begrenzt. Dennoch wird an einigen Stellen auch die Rolle nicht primär wissenschaftlicher Faktoren in der Wissensgenerierung herausgearbeitet, beispielsweise von Zuchtpraktiken und wirtschaftlichen Interessen. Insgesamt ist das Buch aber auch gerade wegen des hervorragenden Einblicks in das Denken einflussreicher Naturphilosophen unbedingt empfehlenswert.

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