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Titel
Sammlung der Geister. Kulturkritischer Aktivismus im Umkreis Rudolf Euckens 1890–1945


Autor(en)
Schäfer, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 521 S.
Preis
€ 114,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Ries, Berlin

Man kann für das wilhelminische Kaiserreich um die Jahrhundertwende zwei durchaus gegensätzliche Phänomene ausmachen: Zum einen boomte die deutsche Wirtschaft um 1900 regelrecht und trat mit der Hochindustrialisierung in eine Phase ein, in der sie die Weltwirtschaftsmacht England einzuholen, ja zu überholen begann. Zum anderen gab es in der deutschen Geisteswelt eine Debatte, die sich mit der sogenannten Krise der Moderne befasste, ohne jedoch exakt bezeichnen zu können, worin diese Krise bestand. Der Jenaer Philosoph Rudolf Eucken, ein „ziemlich vergessener Nobelpreisträger“ (S. 1) und heute weitaus weniger bekannt als sein Sohn Walter, der Begründer der Freiburger Schule des „Ordoliberalismus“, gehörte zweifelsohne zu dieser Intellektuellenriege, die sich engagiert an der Krisendebatte beteiligte. Man hat versucht, diesen Diskurs in der Geschichtswissenschaft auf verschiedene Weise zu beschreiben – als „Krise der klassischen Moderne“ (Detlef Peukert), als „Krise der Kultur und Kulturwissenschaften“ (Rüdiger vom Bruch / Gangolf Hübinger) oder als „Krise des Historismus“ im Sinne einer „Krise der Wirklichkeit“ (Otto Gerhard Oexle). Immer ging es jedoch in etwa um die Beschreibung des gleichen Phänomens: Um 1900 sei das Denken deswegen in eine Krise geraten, weil die Fortschrittsgläubigkeit (trotz der ökonomischen Prosperität und des Innovationspotentials) sowie der Glaube an die Rationalität der Wissenschaft als Institution der Wahrheitsfindung abhandengekommen sei, was den Berliner Theologen und Philosophen Ernst Troeltsch 1896 bei der Eröffnung der Eisenacher Versammlung der „Freunde der Christlichen Welt“ zu der berühmten Aussage verleitete: „Meine Herren, es wackelt alles!“. Auch für Rudolf Eucken schien alles zu wackeln und zeit seines Lebens befasste er sich mit diesem Problem, ohne es jedoch richtig benennen, geschweige denn lösen zu können.

Die umfangreiche, durch und durch quellengesättigte Arbeit von Michael Schäfer handelt nicht nur von Rudolf Eucken, sondern vielmehr von der kulturkritischen „Bewegung“ im Umkreis Euckens (von einer Eucken-Schule möchte Schäfer aus guten Gründen nicht sprechen). Bislang hat man sich ausschließlich auf die Philosophie und die zum Teil schwer zugängliche Gedankenwelt Euckens konzentriert, wobei die Dissertation von Annelie Freese und die Arbeiten des Jenaer Historikers Uwe Dathe besonders hervorzuheben sind.1 Schäfer unternimmt nun den ersten Versuch einer Sozialgeschichte der Euckenschen Ideen, indem er sowohl den Euckenbund als auch die Euckenbewegung untersucht und deren Ausprägung sowie Entwicklung mit den Ideen rückkoppelt. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf die Schaffens- und Lebenszeit Euckens (bis 1926), sondern berücksichtigt auch und vor allem die Rezeptionsgeschichte (bis 1945). Schäfer teilt seine Monographie (entlang der Chronologie) in sechs Großkapitel, befasst sich zuerst mit dem Philosophen Eucken sowie seinem Werk und schreitet dann voran über den Ersten Weltkrieg, die Gründung und Entwicklung des Euckenbundes in den 1920er-Jahren bis zum Ende der Eucken-Bewegung im Nationalsozialismus. Von allem Anfang an stand für Rudolf Eucken der Einheitsgedanke im Zentrum seines Denkens und Schaffens. Sein philosophisches Hauptwerk, das er Ende der 1880er-Jahre verfasste, hieß denn auch (in der Nachfolge Schellings) „Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und That“, womit zugleich auch der „philosophische Aktivismus“ (S. 78) zum Ausdruck kam, den Eucken in Anlehnung an Fichtes Tatphilosophie vertrat. Der Einheitsgedanke ist eine der zentralen Denkfiguren im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts mit einer ganz bemerkenswerten Persistenz seit der Deutschen Klassik.2 Rudolf Eucken unterwarf diesem Gedanken all sein Sinnieren über die Krise, die er vor allem aus dem Verlust eben jener Einheit des Geisteslebens sich zu erklären versuchte. Er setzte dem seine eigene – wie er es selbst nannte – Lehre der „Lebensphilosophie“ entgegen, die (tatsächlich) auf der Suche nach der absoluten Wahrheit eine Art überkonfessionelle, kulturprotestantisch gefärbte Ersatzreligion für den „ganzen Menschen“ (S. 121) sein sollte sowie Vernunft und Sinnlichkeit in ein harmonisches Miteinander zu bringen versuchte. Eine erkenntnistheoretische Begründung dieses holistischen Sinnstiftungskonzeptes – wie sie beispielsweise Troeltsch (zu Recht) von ihm forderte – blieb er zeit seines Lebens schuldig. Beinahe unnötig hinzuzufügen, dass sich die Resonanz dieser Lebensphilosophie vor allem in Akademikerkreisen in engen Grenzen hielt, was den Nobelpreisträger sehr schmerzte und verbitterte. Dennoch formierte sich – erstaunlich genug – eine kulturkritische „Bewegung“ um den weltweit gut vernetzten Jenaer Philosophen, die 1919/20 in der Gründung des national ausgerichteten Euckenbundes kulminierte.

Der Erste Weltkrieg stellt eine wichtige Zäsur im Denken Euckens und seiner Fan-Gemeinde dar, weil erst danach eine Krisenstimmung (und zwar vor allem eine existentielle) wirklich dominierte und nach Lösungen Ausschau gehalten wurde, die das zuvor noch mehr oder weniger unpolitische Einheitsdenken politisch aufluden und in nationalistisches Fahrwasser überführten. Der Einheitsgedanke wandte sich gegen Minderheiten, vor allem gegen die Juden, aber auch gegen die „ungebildeten Massen“ (S. 487), die ohnehin keine Antworten hätten, wie man die Krise bewältigen könne. Jetzt zeigte der Eucken-Bund sein wahres, elitäres, antidemokratisches und antiparlamentarisches Gesicht, das durchaus (und dies hätte Schäfer vielleicht noch schärfer betonen können) auf den lebensphilosophisch angehauchten Holismus der Vorkriegszeit zurückzuführen ist. So fällt die Zäsur des Weltkrieges eventuell nicht so scharf aus – zumal die Schrift Euckens „Zur Sammlung der Geister“ von Ende 1913 auf Gedanken um die Jahrhundertwende zurückging, bereits alle nationalistischen Stereotype enthielt und sich nahtlos in die Vorkriegsdiskurse eines Friedrich Meinecke oder Thomas Mann über das „deutsche Wesen“ sowie seine besondere Rolle in der Weltgeschichte einfügen lässt. Aus dem mehr oder weniger unpolitischen Kosmopolitismus der Aufklärungs- und Idealismuszeit war gut 100 Jahre später ein politischer Universalismus geworden, der die deutsche Nation ins Zentrum des Weltgeschehens rückte. Eucken war maßgeblich an diesem Wandel beteiligt (Friedrich Meinecke übrigens auch).

Nachdem Rudolf Eucken 1926 gestorben war, musste der Bund „ohne Meister“ auskommen, wie Schäfer so treffend und auf das Buch von Ulrich Raulff („Kreis ohne Meister“) anspielend formuliert. Dem Bund gesellte sich ab 1928 noch das in der Jenaer Botzstraße befindliche „Eucken-Haus“ hinzu, das fortan als geselliger Diskurs- und Austauschort auch für ausländische Wissenschaftler mit dem Ziel der Distribution der Lehre des Meisters eher schlecht als recht fungierte. Am unmittelbaren Aufstieg des Nationalsozialismus hatten weder der Bund noch das Haus trotz aller deutschnationalen und auch antisemitischen Prägungen einen direkten Anteil. Das kann Schäfer sehr klar und deutlich herausarbeiten: Es gab zwar Sympathien (gerade unter den völkisch gesinnten Euckenianern) und die Witwe Irene Eucken spielte bei der ganzen Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand mit ihrem unendlich prätentiösen Kulturgefasel eine wirklich unselige Rolle. Am Ende konnten aber alle drei Säulen der Eucken-Bewegung – der Bund, die Zeitschrift „Die Tatwelt“ (die Schäfer ebenfalls instruktiv analysiert) und das Haus – Kurs halten, was nicht zuletzt dem tapferen Einschreiten des Sohnes Walter und seiner Frau Ida Maria zu verdanken war. Auch die Versuche des NS-Regimes, die Eucken-Bewegung aufgrund der guten Auslandskontakte zu instrumentalisieren und als Propagandamaschinerie in den Dienst des Staates zu stellen, wurden einigermaßen erfolgreich abgewehrt. So kann Schäfer in der Tat am Ende zeigen, „dass es solche ‚nicht gleichgeschalteten‘ Rudimente ‚bürgerlicher Öffentlichkeit‘ im nationalsozialistischen Deutschland durchaus gab“ (S. 492). Aber zugleich zeigt seine Studie doch auch, welch gefährlichen Humus das zunächst noch unpolitische holistische Denken, das sich gegen den Neukantianismus richtete und das Schäfer völlig richtig in die „idealistisch-romantische Denktradition“ (S. 477) einordnet, legte und so – ungewollt – günstige Ausgangsbedingungen für den Volksgemeinschaftsgedanken des Nationalsozialismus schuf.

Die vorzüglich recherchierte und ausgearbeitete Monographie von Michael Schäfer regt zu weiteren Studien zum „Einheitsdenken um 1900“ aus unterschiedlichen Disziplinen an. Johann Plenge, einer der maßgeblichen Propagandisten der „Ideen von 1914“, zu dem es mittlerweile eine groß angelegte Studie gibt, passt beispielsweise hervorragend in diesen Kontext.3 Mir scheint es lohnenswert, die von Schäfer ganz nebenbei postulierte (und wohl auch die Forschungsmeinung widerspiegelnde) „Diskurshoheit eines erkenntnistheoretisch ausgerichteten Neukantianismus“ (S. 479) auf den Prüfstand zu stellen!

Anmerkungen:
1 Annelie Freese, Rudolf Euckens Philosophie des Geisteslebens als eine Philosophie des Lebens, Erfurt 2019; Uwe Dathe, Begriffsgeschichte und Philosophie. Zur Philosophie Rudolf Euckens, in: Volker Caysa / Klaus-Dieter Eichler (Hrsg.), Philosophiegeschichte und Hermeneutik, Leipzig 1996, S. 85–96; ders., Rudolf Eucken – Philosophie als strenge Wissenschaft und weltanschauliche Erbauungsliteratur, in: Krzysztof Ruchniewicz / Marek Zybura (Hrsg.), Die höchste Ehrung, die einem Schriftsteller zuteil werden kann. Deutschsprachige Nobelpreisträger für Literatur, Dresden 2007, S. 38–60.
2 Klaus Ries, Einheit und Freiheit – Politische Denkfiguren in der deutschen Klassik, in: ders. / Walter Pauly (Hrsg.), Politisch soziale Ordnungsvorstellung in der deutschen Klassik, Baden-Baden 2018, S. 79–128.
3 Michael Busch, Der Gesellschaftsingenieur Johann Plenge (1874–1963), Münster 2019.

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