Der vorliegende Sammelband vereinigt 14 Beiträge der von der DFG geförderten internationalen Tagung „Bischof und Diözese im Früh- und Hochmittelalter. Die ,Episkopalisierung der Kirche‘ im europäischen Vergleich“. Diese fand 2020 im Rahmen der traditionsreichen Germania Sacra an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen statt und knüpfte an das 2016 in Kiel begonnene Forschungsprojekt „Bischöfe im Alten Reich“ an. Daneben gibt es eine Einleitung von Andreas Bihrer, eine Zusammenfassung von Hedwig Röckelein sowie ein Personen- und Ortsregister. Der Buchtitel macht aus dem behandelten Zeitraum, dem Früh- und Hochmittelalter, ein Geheimnis.
Je fünf Aufsätze sind den Kapiteln „Raum des Bistums“ und „Akteure und ihre Netzwerke“, je zwei „Bildungs- und Wissensräume“ und „Reformen“ zugeordnet (was vielleicht eher der Konzeption der Tagung als den konkreten Inhalten der Beiträge entspricht). Neben dem Frankenreich, Lotharingien oder Sachsen werden auch die Britischen Inseln, Irland, Skandinavien, Polen, Kastilien, Italien, Byzanz und der Nahe Osten mit seinen griechisch-orthodoxen (melkitischen) Patriarchaten berücksichtigt. Während im Vorgängerband, der auf eine Kieler Tagung zurückgeht, die Bischöfe und ihre Diözesen im Reich im Mittelpunkt standen1, wird nun das Phänomen der Episkopalisierung auf europäischer Ebene untersucht. Zwangsläufig können in einem Sammelband nur Einzelbeispiele behandelt werden, die nicht repräsentativ für eine Region sein müssen.
In der englischsprachigen Einleitung rekapituliert Bihrer die bisherigen Forschungsschwerpunkte zum früh- und hochmittelalterlichen Episkopat. Im Zentrum steht hier wie im gesamten Band die These Timothy Reuters vom „Europa der Bischöfe“ um 1000.2 Dieser erkannte in den Bischöfen und ihren Bistümern eine wichtige Grundlage der europäischen Moderne bzw. moderner Staatlichkeit: Der Episkopat sei in Verwaltung und Rechtsprechung innovativer und fortschrittlicher gewesen als die weltlichen Herrscher, der Bischof selbst sei dadurch zu einer Art Monarch in seiner Diözese geworden. Reuters Modell hatte jedoch (mindestens) zwei Schwächen: Es erklärte Ausnahmen von der Regel zu Sonderfällen und übertrug Zustände, die für das Reich galten, kurzerhand auf ganz Europa.
Reuters Überlegungen aufgreifend, stellt Andreas Bihrer eingangs „a new research concept“ vor, das dem Sammelband zugrunde liegt. Eine Definition von „Episkopalisierung“ findet sich hierin zwar nicht, aber es wird deutlich, dass darunter eine zentrale Leitungsfunktion des Bischofs innerhalb der kirchlichen Hierarchie sowie eine besondere, nur dem päpstlichen Primat untergeordnete Autorität in dogmatischen, jurisdiktionellen und administrativen Angelegenheiten verstanden wird. Zehn Analysekriterien („clusters“, vgl. dazu vor allem S. 13 und S. 18–20) fragen nach personellen Netzwerken und Ämtern, Diözesanverwaltung und Bistumsfinanzen, kanonischem Recht und weltlicher Herrschaftsrechte, Wechselwirkungen zwischen Zentrum und Peripherie bzw. Konzepten, Idealen und Traditionen; auch die Metropolitanverfassung sowie das Verhältnis der Bischöfe zu Kaisern und Königen, Papsttum und Adel werden erfasst. Interessant ist zweifellos die Beobachtung der älteren Forschung, dass in der Reichskirche seit dem frühen 11. Jahrhundert mehr Kanoniker als Mönche auf Bischofsstühle gelangten. Dass sich diese Form der Episkopalisierung negativ auf die Reichsklöster auswirkte, liegt auf der Hand.
Ein in mehreren Beiträgen wiederkehrendes Thema ist das problematische Verhältnis zwischen Bischof und Diözesanklerus. Dieser versuchte sich im Frankenreich ebenso wie auf der iberischen Halbinsel oder in Byzanz bischöflicher Aufsichtsrechte, Disziplinarmaßnahmen und jurisdiktioneller Eingriffe zu entledigen. Wie Julia Barrow und Stephan Bruhn zeigen, gelang dies dem englischen Klerus in ganz hervorragendem Maße. Im Frankenreich ging es zwischen etwa 750 und 900 darum, den Bildungsstand der Landpriester zu verbessern. Diözesanstatuten und bischöfliche Kapitularien, epistolae formatae oder Priesterexamina als „handfeste[r] Zugriff [der Bischöfe] auf ihren Klerus“ (S. 248) werden von Steffen Patzold herangezogen, um der seines Erachtens überkommenen Vorstellung einer adligen Eigenkirche außerhalb bischöflicher Kontrolle (nach Ulrich Stutz) entgegenzutreten.
Christian Popp und Joachim Stephan zeigen, welche Bedeutung das periphere Bistum Halberstadt für die Christianisierung Ostsachsens hatte und wie sich durch die Gründung benachbarter Bistümer territoriale Grenzen herausbildeten. Daniel Berger nimmt Kastilien mit dem Bistum Sigüenza in den Blick, wo sich die bischöfliche Autorität in Abgaben des Pfarrklerus wie dem Zehntdrittel oder der procuratio canonica manifestierte. Bischöfe wie Cerebrun (1155–1166, später Erzbischof der Sigüenza zugeordneten Metropolitankirche von Toledo) griffen auch verstärkt auf das römisch-kanonische Recht und die Beauftragung von Archidiakonen zurück. Gerald Schwedler wendet sich mit Poppo von Aquileia (1019–1042) einem „ortsfremden“ Bischof zu, der nicht über das Kirchenrecht, sondern über die Förderung von Liturgie und Heiligenkult, Kunst und Architektur seine bischöfliche potestas und seine Stellung als Stadtherr stärkte und die einstige Bedeutung des Patriarchats wiederherzustellen versuchte.
Der Beitrag von Klaus-Peter Todt über die griechisch-orthodoxen (melkitischen) Patriarchate macht unter anderem deutlich, dass in einer Stadt zeitweise bis zu drei Bischöfe verschiedener Konfessionen gleichzeitig amtierten. Allerdings setzt das nur bruchstückhaft überlieferte urkundliche Quellenmaterial einer Rekonstruktion der Verhältnisse enge Grenzen. Immo Warntjes betont, wie sehr die Dominanz lokaler Clans die Handlungsmöglichkeiten des irischen Episkopats einschränkte. Mit Chorbischöfen der Karolingerzeit beschäftigt sich Geneviève Bührer-Thierry: In „Quellen der Praxis“ (S. 264) wie Briefen, Urkunden und libri memoriales offenbare sich das hohe Ansehen der Chorbischöfe, die die Bischofsweihe empfingen, selbst bischöfliche Weihehandlungen vornahmen und in Missionsgebieten wie Bayern tätig waren, zugleich aber als vicarii episcoporum dem jeweiligen Ortsbischof unterstanden. Von Pseudoisidor aus unbekannten Gründen bekämpft, blieben sie in der westlichen Kirche wegen fehlender Verwendungsmöglichkeiten – und nicht aufgrund bischöflichen Widerstands – ein frühmittelalterliches Phänomen.
Julia Barrow beleuchtet die Auseinandersetzungen der englischen Bischöfe mit Klöstern und Klerus mit dem Ergebnis, dass der Episkopat seine diözesanen Rechte gegenüber untergeordneten Instanzen häufig nicht durchsetzen konnte, zumal der regionale Adel weiterhin großen Einfluss ausübte. In die gleiche Richtung weist der Beitrag von Stephan Brun über Leofric, Bischof der Doppeldiözese von Cornwall und Crediton (1046–1050) bzw. (nach der Verlegung der Diözese) Exeter (1050–1072), einen in Lothringen sozialisierten Weltgeistlichen und Reformer. Johannes Palitzsch arbeitet heraus, dass die Stiftungstätigkeit byzantinischer Bischöfe „aus der Provinz“ (S. 295) vornehmlich der persönlichen Memoria diente. Klosterstiftungen sollten durch schriftliche Verfügungen gegen Übergriffe des Kaisers oder nachfolgender Bischöfe gesichert werden. Mia Münster-Swendsen beschäftigt sich mit den langjährigen Bemühungen Eskils von Lund (1137–1177) um eine Primatialverfassung der skandinavischen Kirche. Eskils Pläne stießen im Reich vor allem beim Erzbischof von Hamburg-Bremen auf Widerstand und brachten Eskil zeitweise auch in Schwierigkeiten mit König Sven von Dänemark.
Bücher und Bibliotheken der Bischöfe in Westeuropa stehen im Mittelpunkt des Interesses von Laura Pani. Bischöfe des 9. bis 12. Jahrhunderts überließen den Dombibliotheken vor allem liturgische, exegetische und kirchenrechtliche Schriften, während die „privaten“ Buchbestände, die Pani etwa anhand von Briefkorrespondenzen rekonstruiert, Rückschlüsse auf die persönlichen Vorlieben der einzelnen Bischöfe erlauben. Pawel Figurski behandelt in seinem ausgezeichneten Aufsatz die Liturgie in der Diözese Krakau. Seine Analyse der liturgischen Bücher zeigt, dass diese Handschriften aus dem Westen stammten. Die Kontakte polnischer Bischöfe zu Amtskollegen im Reich oder in Italien waren für den Erwerb förderlich und sicherlich intensiver als bisher angenommen. Steven Vanderputten untersucht die von Bischöfen getragene Klosterreform in Lotharingien und im Erzbistum Reims anhand von drei Beispielen aus dem „langen“ 10. Jahrhundert, das von der Forschung in dieser Hinsicht mehr Aufmerksamkeit verdiene.
Der Band belegt die Vielfalt bischöflicher Aufgaben und Einflussbereiche, stößt jedoch in seiner Konzeptionalisierung von der Episkopalisierung während des Früh- und Hochmittelalters an Grenzen. Von einer Episkopalisierung der (westlichen) Kirche wird man wohl eher mit Blick auf die Spätantike sprechen können. Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches bildeten sich anstelle staatlicher Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen überdiözesane Gemeinschaften, also weitgehend autonome Kirchenprovinzen unter der Leitung eines Metropoliten. Dies geschah ohne Zutun des apostolischen Stuhls, dessen Primatsanspruch zwar seit dem 4. Jahrhundert bezeugt ist, lange Zeit jedoch nur im Hinblick auf das päpstliche Lehramt und die einigende Kraft der Petrusnachfolge anerkannt wurde. Aber auch der spätantike Episkopat konnte sich auf eine von Christus ausgehende Legitimation berufen: Waren nicht alle Bischöfe Nachfolger der Apostel? Eine synodal-kollegiale Struktur prägte daher die spätantike Kirche vor allem in Nordafrika, auf der Iberischen Halbinsel oder in Italien3, während in Nordeuropa, wo sich das Christentum später ausbreitete, eine verzögerte Episkopalisierung stattfand. Die kollegiale Tradition war bereits in Vergessenheit geraten, als Karl der Große im Frankenreich die Ordnung nach Kirchenprovinzen wiederherstellte. Die Einheit der fränkischen Provinzialverbände erklärte sich vor allem aus der Zugehörigkeit zur Reichskirche. In der Folgezeit lebte die enge Bindung des Episkopats an den Herrscher in zunehmend lehnrechtlichen Bahnen fort; seit dem 12. Jahrhundert schränkten die oberste Jurisdiktionsgewalt des Papsttums und die Allgemeingültigkeit des systematisierten Kirchenrechts die bischöflichen Entfaltungsmöglichkeiten auch innerhalb der Diözesen immer stärker ein.
Röckeleins Fazit verweist zu Recht auf die regionale und zeitliche Diversität, die einer einheitlichen Interpretation entgegensteht. Der Episkopat war weder alleiniger Modernisierungsfaktor noch Vorläufer europäischer Staatlichkeit. Auch wenn das übergeordnete Konzept nicht völlig überzeugt, bieten die fundierten Einzelstudien zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen.
Anmerkungen:
1 Siehe z. B. Matthias Schrör, Rezension zu: Bihrer, Andreas; Bruhn, Stephan (Hrsg.): Jenseits des Königshofs. Bischöfe und ihre Diözesen im Nachkarolingischen Ostfränkisch-Deutschen Reich (850–1100), Berlin 2019, in: H-Soz-Kult, 29.07.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29662 (13.12.2024).
2 Timothy Reuter, Ein Europa der Bischöfe. Das Zeitalter Burchards von Worms, in: Wilfried Hartmann (Hrsg.), Bischof Burchard von Worms 1000–1025 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 100), Mainz 2000, S. 1–28.
3 Niemand hat die Entwicklung besser beschrieben als Friedrich Kempf, Primatiale und episkopal-synodale Struktur der Kirche vor der Gregorianischen Reform, in: Archivum Historiae Pontificiae 16 (1978), S. 27–66.