Dass sowohl in Familien von Verfolgern wie auch Verfolgten des Nationalsozialismus über dieses Unrecht geschwiegen wurde, ist in der Forschung immer wieder ebenso konstatiert worden wie der Umstand, dass dem jeweils unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen. Auch der österreichische Historiker und Journalist Johannes Reitter hat sich zur Aufgabe gestellt, diese These zu untersuchen, „ohne die Verantwortung für die Verbrechen zu relativieren“. Dafür hat er die Biografien von Menschen rekonstruiert, „über deren Involvierung in die Geschehnisse jener Zeit jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens gebreitet war“.1 Reitter will durch die Betrachtung von insgesamt 20 Einzelfällen Gemeinsamkeiten, Muster der Geheimhaltung, aber auch Unterschiede erkennen. Dabei stützt er sich auf Erzählungen aus den Familien, die über 17 vom Autor selbst geführte Oral-History-Interviews aufgenommen wurden, sowie drei Expert:inneninterviews. Er reichert diese auch mit zahlreichen Archivalien und Dokumenten aus dem Besitz der beteiligten Familien an, steht also auf einer soliden Quellenbasis. Es finden sich im Buch eine überarbeitete Version der ihr zugrunde liegenden Dissertation, zehn Familien von Opfern, zehn Täter- und Täterinnen-Familien sowie ein hervorstechender Exkurs mit einer Biografie eines 1940 hingerichteten Vorfahren des Autors wieder. Erst 2015 hatte Reitter erfahren, dass der Bruder seines Vaters, Johann Reitter, von einem Militärgericht in Wien zum Tode verurteilt worden war (S. 272).
In den 1990er-Jahren entstanden einige Forschungsbeiträge zu den psychischen Folgen der Nachkommen von NS-Täter:innen. Der israelische Psychologe, Therapeut, Holocaust- und Friedensforscher Dan Bar-On eröffnete mit seinem 1993 erschienenen Buch „Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern“ ein neues Forschungsfeld, in dem Täternachfahren sprachen, ohne sich dabei apologetisch zwangsläufig loyal zu ihren Vorfahren zu verhalten.2 Gabriele Rosenthal lieferte 1997 einen Beitrag, in dem fundamental unterschiedliche Perspektiven vertreten waren.3 Mittlerweile liegt eine Fülle an Forschungsliteratur vor; die dazugehörigen Forschungen basieren meist auf Oral-History-Interviews mit Angehörigen der zweiten, dritten und mittlerweile auch vierten Generation. Zudem entstanden einige Dialog-Versuche wie die Seminare der von Dan Bar-On gegründeten TRT-Gruppe (To Reflect and Trust – Nachdenken und Vertrauen), „Compassionate Listening“ oder „One-by-One“.
In Reitters Werk werden die Lesenden zunächst weitestgehend sich selbst überlassen: Die Einleitung umfasst kaum mehr als vier Seiten. Gute fünf Seiten widmet Johannes Reitter dem abschließenden und zusammenfassenden Kapitel über „Gründe und Folgen des Schweigens“. Als Lesender vermisst man zudem Definitionen: Was bedeutet Schweigen als kulturelle und kommunikative Praxis? Wie lässt sie sich abgrenzen gegen andere soziale Praktiken wie „Handeln“ oder „Erzählen“? Gibt es ein passives Schweigen, und wie steht es in Bezug zu einem aktiven Be- oder Ver- Schweigen? Auch bleibt der spezifische erinnerungskulturelle Kontext in Österreich und sein Abgleich mit der Situation in der Bundesrepublik (bzw. hier die besonderen Entstehungsgeschichten des Erinnerns und Vergessens in der BRD bzw. der DDR) unbeschrieben.
Weiterhin wäre eine Diskussion der Kategorien „Opfer“ und „Täter“ hilfreich gewesen, um die Einteilungen und letztlich auch die Unterschiede besser nachvollziehen zu können. Ab wann Reitter jemanden als Opfer und – viel wichtiger – als Täter:in zählt und ob oder wie er diese von Bystandern, Zuschauer:innen und Profiteur:innen abgrenzt, wird nicht transparent gemacht. Dass die etwa gleich vielen Geschichten der Opfer (266 Seiten) etwa zweieinhalbmal so viel Raum einnehmen wie die der Täter (103 Seiten), erscheint auf den ersten Blick bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Zuletzt bleibt auch der verwendete Begriff der Generation und sein Gebrauch undefiniert.
Der Vorteil von Reitters Fällen: Sie stehen für sich. Die jeweiligen Familiengeschichten sind ebenso fundiert recherchiert wie lesbar aufbereitet. Und so ist es das große Verdienst des Buches, aus Bruchstücken Geschichten gemacht zu haben, die Interessierten nun zur Verfügung stehen. Durch die verschiedenen Familiengeschichten wird nicht nur verdeutlicht, wie fundamental unterschiedlich die Gründe für das Schweigen in den Familien der Opfer und der Täter:innen sind, sondern auch, wie stark sie innerhalb dieser Gruppierungen divergieren. Hier weist Reitters Kompilation unweigerlich auf den ursächlichen historischen Gegenstand hin: Die Opfer wurden durch beliebige, pseudowissenschaftliche, rassistische und antisemitische Kategorisierungen von den Nationalsozialisten zu Opfern gemacht. Aber das machte sie keineswegs zu einer homogenen Gruppe, sondern es handelte sich maximal um Zwangsgemeinschaften. Häufig hatten die Verfolgten nur ihre Verfolgung gemeinsam – und teilweise ihre Solidarität. Das Schweigen kann immer auch in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Gegenwart begründet sein. Oftmals sind es politische Kontinuitäten, derer wegen ein offenes Sprechen verunmöglicht wird. Das ist in dem von Reitter geschilderten Fall der Familie Stanjek der Fall. Der 1948 geborene Klaus Stanjek erfuhr erst auf einer Familienfeier 1987 in Wuppertal davon, dass sein Onkel, der Konzert- und Unterhaltungsmusiker Wilhelm Heckmann, von den Nationalsozialisten auf der Grundlage des Paragraph 175 (dem sogenannten Homosexuellen-Paragraphen) verfolgt wurde und in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen inhaftiert war. In der Familie kursierte bis dahin der unbelegte Verdacht, Heckmann habe "Kinder sexuell missbraucht" (S. 55). Weder sein KZ-Aufenthalt, noch der dafür angeführte Grund, seine Homosexualität, wurden innerfamiliär thematisiert, bis Klaus Stanjek damit begann, seine Biografie zu rekonstruieren (S. 87).
Scham kann in den Familien der Verfolgten dazu führen, Auslassungen vorzunehmen, Geschichten zu beschönigen oder sie gar nicht zu erzählen. Für diese Scham ist letztlich auch das Handeln der Täter:innen bzw. der Mehrheit in der österreichischen Gesellschaft nach dem Krieg verantwortlich, das die Berichte der Überlebenden implizit und explizit abwertete und delegitimierte. Von Auschwitz berichteten Überlebende teils explizit nicht, um sich selbst und andere zu schützen, oder weil sie es schlichtweg emotional nicht bewältigen konnten. Aber auch die Nachfahren rätseln häufig über die genauen Gründe (S. 92). Immer wieder berichteten Überlebende von einer damit zusammenhängenden Überforderung oder schlichtweg von anderen, drängenden Fragen des alltäglichen Lebens, die ihnen wichtiger waren. Im Rahmen der "Wiedergutmachung" erlebten sie teils Entwürdigungen, die manche von ihnen verstummen ließen, manche aber auch zu wütendem Protest veranlassten. Warum sollten sie also sprechen wollen, und für wen?
Auf der Täterseite existiert eine Vielzahl von Gründen für das Schweigen, begonnen mit der Angst vor Strafverfolgung oder moralischer Ächtung der eigenen Taten. In Anbetracht der westdeutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaften und der weitgehenden Straflosigkeit der Täter:innen ist das Schweigen jedoch besonders erklärungsbedürftig. In einer für das Buch anonymisierten Familie heißt es: "Wieso hätte sie das leugnen sollen, wenn die anderen alle dabei waren, und die haben kein Geheimnis daraus gemacht. Der Schorsch zum Beispiel von der Tante […] hat doch auf den Tisch gehaut, dass er bei der SS war." (S. 370). Doch auch hier kann sich im Fortlauf der Generationen die Erkenntnis entwickeln, welche Schäden es auch für sich selbst anrichtet: Jennifer Teege, "Enkelin eines Massenmörders", des SS-Hauptsturmführers Amon Göth, erwidert etwa einer Verwandten, "dass auch eine furchtbare Wahrheit besser ist als das Schweigen, auch eine kaputte Familie besser als gar keine Wurzeln" (S. 321).
Bereichernd für das Buch wäre es gewesen, das Schweigen in Bezug zu setzen zu anderen Handlungsweisen in den Familien der Täter:nnen und der Verfolgten. Denn kein Mensch schweigt nur. Die Täter:innen etwa schrieben – teils noch in der Kriegsgefangenschaft – ihre Version der Geschichte des Zweiten Weltkrieges nieder. Sie agierten gegen die als ungerecht und als Schmach empfundene "Entnazifizierung" oder für die Wiederbewaffnung und – teils offen, teils subtil – gegen ehemals Verfolgte wie auch all jene, die eine Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe einforderten. Im österreichischen Rechnitz, wo noch am 24. und 25. März 1945 ein Massaker an etwa 200 jüdischen Zwangsarbeiter:innen aus Ungarn verübt wurde, sabotierten Einwohner:innen des Ortes bisweilen nachhaltig die Suche nach den menschlichen Überresten der Ermordeten. Der Ort des Massengrabs konnte bis heute nicht gefunden werden. Solche Handlungsweisen haben Rückwirkungen auf die Verfolgten und ihre Nachfahren. Schweigen wird hier erzwungen, eingefordert und gefördert. Und auch auf der Seite der Verfolgten gab es unterschiedliche Handlungsweisen und Bewältigungsstrategien. Viele schrieben das ihnen Widerfahrene nieder, organisierten sich in Verbänden und arbeiteten auf die Verfolgung der Täter:innen hin. Diese Kontexte hätten in dem Buch systematischer herausgearbeitet werden können.
Anmerkungen:
1 Klappentext.
2 Dan Bar-On, Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern, Frankfurt am Main 1993.
3 Gabriele Rosenthal (Hrsg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen 1997.