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Titel
Frieden durch Recht – Recht ohne Frieden. Der Pazifist und Völkerrechtler Walther Schücking in Marburg 1902–1921


Autor(en)
Maier-Metz, Harald
Erschienen
Münster 2022: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Reinhold Lütgemeier-Davin, Kassel

Die wegweisende, auf damaligem Forschungsstand exzellent recherchierte ideengeschichtlich ausgerichtete biographische Studie über den Völkerrechtler, organisatorischen Pazifisten und liberalen Politiker Walther Schücking (1875–1935) ist bereits vor über 50 Jahren erschienen.1 Inzwischen hat sich die Historische Friedensforschung seit den 1970er-Jahren etabliert, hat weitere Quellenbestände erschlossen und Veröffentlichungen hervorgebracht, in denen auch Walther Schücking als organisatorischer Pazifist immer wieder berücksichtigt wurde; seine Verdienste als Wissenschaftler2, seine organisatorische Tätigkeit in Friedensorganisationen wurden verschiedentlich gewürdigt. Zudem wurde die Gelehrtenfamilie Schücking detailreich untersucht3; zu den Brüdern des Völkerrechtlers liegen Biographien bzw. biographische Skizzen vor.4 Ausgeforscht sind die Familie Schücking im Allgemeinen und die Leistungen des Völkerrechtlers Walther Schücking im Besonderen dennoch keineswegs.

Harald Maier-Metz konzentriert sich in seiner soeben erschienenen Studie auf Schückings prägende Zeit als Staatsrechtler an der Marburger Universität, damals jüngster Juraprofessor in Deutschland, auf eine Zeit, in der er sein Lebensthema konzipierte: Kriegsächtung, die Entwicklung einer auf Recht basierten Weltfriedensordnung, ein auf Friedensbewahrung abzielendes Völkerrecht. Maier-Metz charakterisiert Walther Schücking nicht wie sein erster Biograph Detlef Acker als einen eher weltfremden Idealisten und Utopisten, als verdienstvollen, aber einflusslosen liberalen Demokraten, sondern als einen kosmopolitischen, integren Gelehrten von humaner Gesinnung, als einen Patrioten, an Vernunft, sozialer Gerechtigkeit und internationalem Interessenausgleich orientiert, der sich mit der in seiner Zeit dominierenden konservativen-reaktionären akademischen Zunft und wegen seiner demokratischen Überzeugungen mit Repräsentanten des monarchischen Obrigkeitsstaates überwarf. Seine Kritik an der absolutistisch begründeten Herrschaftslegitimation des Adels, am Gottesgnadentum, seine Forderung nach einer Demokratisierung Preußens, sein Einsatz für ein reichsweit geltendes demokratisches Wahlrecht, das auch das für Frauen einschloss, an den Einschränkungen von Minderheitenrechten im Kaiserreich allgemein, den Germanisierungsmaßnahmen gegenüber Polen im Besonderen, sein scharfzüngiges Urteil über die inneren Verwaltung Preußens führten zu mannigfachen Konflikten mit seinen Kollegen an der Universität und mit der Staatsverwaltung. Disziplinierung, ja eine Amtsenthebung drohten. Die universitäre Lehrfreiheit und die Meinungsfreiheit eines Beamten wollten einflussreiche Kreise einschränken, an Schücking ein Exempel statuieren.

In Marburg konzipierte Walther Schücking sein epochemachendes Werk „Die Organisation der Welt“ (1908), in dem er das Zukunftsmodell eines internationalen Staatenbundes mit universell anerkannter Schiedsgerichtsbarkeit entwickelte. Sein Kernanliegen: Frieden durch Recht schaffen, Macht durch Recht begrenzen, Kriege durch institutionalisierte internationale Kooperation verhindern. Abrüstung sollte finanzielle Mittel freisetzen, um soziale Gerechtigkeit, eine menschenwürdige Existenz für alle zu gewährleisten. Mit diesem „organisatorischen Pazifismus“ setzte er sich von dem humanitär-ethisch motivierten ab, wie ihn zum Beispiel Bertha von Suttner vertrat.

Schücking verbreitete seine Ideen als Wissenschaftler, aber auch als Akteur auf nationaler wie internationaler Bühne. Er diente Regierungen als völkerrechtlicher Berater, engagierte sich im Linksliberalismus und in pazifistischen Organisationen wie der „Deutschen Friedensgesellschaft“, dem „Verband für internationale Verständigung“, dem Bund „Neues Vaterland“. Kriege, in denen er einen „organisierten Massenmord“ und einen Bruch mit dem Humanitätsideal der Aufklärung sah, glaubte er durch eine „Organisation des Friedens“ vermeiden zu können.

Vorgelegt wird keine geglättete Heldengeschichte, sondern eine kritische Analyse eines Akteurs im Vorfeld der Regierungspolitik, aber auch als jemand, der sich mitunter von der kaiserlichen Regierung während des Ersten Weltkrieges instrumentalisieren ließ, dabei deren Friedenswillen überschätzte. Walther Schücking setzte sich für zwischenstaatliche Vermittlung ein, um den Krieg abzukürzen, entwarf zugleich ein bedeutsames Zukunftsprogramm für einen dauernden Frieden: Verzicht auf Annexionen, Sicherung von Minderheitenrechten, Ausbau der Haager Friedenskonferenzen zu einer dauernden internationalen Organisation, obligatorische Streitschlichtung, drastische Rüstungsverminderung, parlamentarische Kontrolle der Außenpolitik waren sein Projekt, das er mit schwachem Erfolg im Inland, mit größerer Resonanz bei Fachkollegen im Ausland propagierte.

Sauber, quellengesättigt, mit vielen Äußerungen von Schücking selbst, klar gegliedert, trotz vieler Details gut nachvollziehbar zeichnet Harald Maier-Metz die wissenschaftliche und politische Arbeit Schückings vom Kaiserreich bis in die Anfänge der Weimarer Republik nach. Gerade nach dem Waffenstillstand 1918 war Schückings Expertise gefragt als Reichstagsabgeordneter und vor allem als Mitglied der deutschen Friedensdelegation in der Erwartung, dass er, als renommierter Repräsentant des besseren Deutschland, erträgliche Friedensbedingungen würde aushandeln können. Sowohl die inzwischen republikanische Reichsregierung als auch Schücking selbst verkannten dabei freilich, dass die Alliierten materielle Verhandlungen mit dem Hauptschuldigen am Friedensbruch 1914 verweigern würden. Schückings Überzeugung, dass „die tieferen Ursachen“ am Kriegsausbruch „systembedingt in der Struktur der diplomatischen europäischen ‚Anarchie‘ und dem allgemeinen Wettrüsten der imperialistischen Staaten“ (S. 217) zu suchen seien, beschönigte teilweise die aggressive Politik der kaiserlichen Regierung. Widersprüchlich war seine Empfehlung, die Unterzeichnung des Diktatfriedens abzulehnen, fürderhin aber aus pragmatischen Gründen ihn zu erfüllen, „soweit er sich erfüllen“ lasse (S. 252).

Innovativ sind die Ausführungen, die den Schwerpunkt des Buches ausmachen, geschrieben von einem Kenner der Marburger Universitätsgeschichte.5 Weniger ergiebig allerdings und nur kursorisch sind die Ausführungen über Schückings Zeit jenseits von Marburg, als Professor an der Berliner Handelshochschule und am Institut für internationales Recht in Kiel, als Mitglied in Untersuchungsausschüssen zur Klärung der Kriegsschuldfrage, als Mitglied der Weimarer Friedensbewegung und als Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dieser Abschnitt ist eher als Ausblick auf ein ertragreiches Leben als Wissenschaftler zu werten denn als wissenschaftlich ergiebige Analyse unter Verwendung der umfangreichen Forschungsliteratur.

Dennoch: Der Schwerpunkt des Buches überzeugt vollumfänglich als eine ausgewogene Studie über einen wichtigen Staatsrechtler, der über den universitären Tellerrand hinausblickte, auf Politik, Gesellschaft, internationale Beziehungen mit zukunftsweisenden Konzepten einzuwirken versuchte; eine Studie, die sowohl für ein wissenschaftliches Publikum als auch für historisch, politisch, juristisch interessierte Laien zu verwenden ist.

Anmerkungen:
1 Detlev Acker, Walther Schücking (1875–1935), Münster 1970.
2 Bedeutsam vor allem: Frank Bodendiek, Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung. Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung, Berlin 2001.
3 Ulf Morgenstern, Bürgergeist und Familientradition. Die liberale Gelehrtenfamilie Schücking im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2012.
4 Reinhold Lütgemeier-Davin, Lothar Schücking. Eine Biographie, Bremen 1998; Jürgen Ronthaler / Elmar Schenkel (Hrsg.), Levin Ludwig Schücking. Gelehrter in schwierigen Zeiten, Leipzig 2017.
5 In der Reihe „Academia Marburgensis“ (Bd. 13) hat Harald Maier-Metz bereits ein anschauliches, wissenschaftlich bestens abgesichertes Buch über die Verfolgung eines Marburger Professors für Semitische Sprachen und Orientalische Geschichte in der Zwischenkriegszeit publiziert: Harald Maier-Metz, Entlassungsgrund: Pazifismus. Albrecht Götze, der Fall Gumbel und die Marburger Universität 1930 bis 1946, Münster 2015; vgl. die Rezension von Christian Jansen auf H-Soz-Kult, 18.09.2018, https://www.hsozkult.de/review/id/reb-25278 (14.04.2023).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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