Am 13./14. April 2019 fand an der University of California in Los Angeles eine Konferenz zu Ehren von Patrick J. Geary statt. Die Konferenz trug den Titel „Visions of Medieval Studies in North America“, womit Bezug genommen wurde auf einen gleichnamigen Artikel, den Geary 25 Jahre zuvor in dem Sammelband „The Past and Future of Medieval Studies“ publiziert hatte.1 Der zu rezensierende Sammelband ist offensichtlich aus dieser Tagung hervorgegangen, wovon neben dem nahezu identischen Titel des Bandes auch mehrere Autor:innen zeugen, die auf der Konferenz in Los Angeles Vorträge hielten. Von dieser Konferenz erfahren die Leser:innen aus dem Sammelband selbst jedoch nichts; auch dass es sich bei dem Band – offensichtlich – um eine Festschrift zu Ehren Patrick Gearys handelt, wird an keiner Stelle explizit erwähnt. Faktisch kann daran jedoch kein Zweifel bestehen: Davon zeugt neben dem – wie bereits dargelegt – an einen Aufsatz Gearys angelehnten Titel des Bandes dessen Fokussierung auf das Thema „Identität“, mit dem sich Geary im Laufe seines wissenschaftlichen Schaffens ausgiebig beschäftigt hat. Ferner wird Geary in den Fußnoten des Bandes ausgiebig zitiert, wobei die Einleitung heraussticht, in der Geary in circa der Hälfte der Fußnoten genannt wird. Im Haupttext der Einleitung finden sich sein Name oder eine Bezugnahme auf sein Oeuvre indes nicht, im Gegensatz zu mehreren Beiträgen.
Die Einleitung der drei Herausgeber:innen definiert zunächst den Begriff der „Identität“ (S. 9: „the concept of identity […] essentially means how a person, group, or society sees, understands, and expresses itself“), bevor kurz die Schwierigkeiten skizziert werden, die mit der Erforschung dieses Konzepts einhergehen. Im Anschluss daran werden die beiden mittelalterlichen Begriffe identitas und persona anhand der Schriften zweier spätantiker Rhetoren aus dem 4. Jahrhundert, Marius Victorinus und Chirius Fortunatianus, reflektiert. Neben der Einleitung besteht der Sammelband aus 15 Artikeln, die fünf thematischen Abschnitten zugeordnet sind. Im Folgenden soll jeweils ein aus meiner Sicht besonders informativer Beitrag aus jedem Abschnitt kurz vorgestellt werden.
In Sektion 1 zu „Ethnic Identities“ befasst sich Helmut Reimitz, nach Hervorhebung der Verdienste, die sich Patrick Geary um diese Thematik erworben hat, mit der Bedeutung von Ethnizität als sozialer und politischer Kategorie in den Werken mehrerer frühmittelalterlicher Historiker wie Isidor von Sevilla und Gregor von Tours. Für Isidor spielte das Konzept der Ethnizität eine wichtige Rolle, sah er doch in der erst kürzlich zum Katholizismus konvertierten gens Gothorum die würdigen Nachfolger der Römer, die sich in der zersplitterten poströmischen Welt des „Westens“ als eigenständige Gesellschaft behaupteten. Während auch Autoren wie Cassiodor und der sogenannte Fredegar die Bedeutung ethnisch fundierter gentes betonten, spielten diese bei Gregor von Tours kaum eine Rolle. Zwar beschreibt Gregor in der Frühphase seiner Zehn Bücher Geschichten das nachrömische Gallien noch primär in ethnischen Kategorien, doch betont er im weiteren Verlauf seines Geschichtswerks vor allem den gemeinsamen christlichen Charakter aller Einwohner Galliens. An die Stelle ethnischer Vielfalt tritt bei Gregor die christliche Einheit. Erwähnenswert erscheint schließlich noch, dass Reimitz die spätantiken und frühmittelalterlichen Historiker in ironischer Weise als „Kollegen“ betitelt (S. 67: „our late antique and early medieval colleagues“). Ob es auch der aktuellen Generation von Historiker:innen vergönnt sein wird, wie ein Isidor von Sevilla oder Gregor von Tours noch nach fast 1.500 Jahren zitiert zu werden, wird freilich die Zeit erst zeigen müssen.
Im zweiten Abschnitt „Inheritance and Identity“ untersucht Edward M. Schoolman, wie sich die lokalen Eliten Ravennas in der urkundlichen Überlieferung der Stadt von der Mitte des 9. bis ins frühe 11. Jahrhundert präsentierten. Zunächst wurden überwiegend ethnische Marker wie ex genere Francorum oder ex genere Allamanorum verwendet, um sich selbst bzw. seine Herkunft zu beschreiben. Doch im Laufe des 10. Jahrhunderts wurden diese ethnischen Zuschreibungen zunehmend durch die Angabe des Amtes ersetzt, das durch Angehörige der jeweiligen Familie ausgeübt wurde. Beispiele hierfür sind Angaben wie ex genere ducis, ex genere magistri militum oder ex genere consulis.
Der dritte Teil des Bandes handelt von „Religious Identities“ und beginnt mit einem Artikel von Carrie E. Beneš. Darin beschäftigt sich die Autorin mit Jacobus de Voragine, dem Erzbischof von Genua, der vor allem für seine Legenda Aurea Bekanntheit erlangte. Beneš nimmt allerdings nicht dieses Werk in den Blick, sondern analysiert mehrere seiner Berichte über Reliquientranslationen nach Genua. Besonders betont werden Jacobus’ ausführliche Beschreibungen der Orte, an denen die Heiligen gewirkt hatten, an denen sie gestorben waren und von denen aus ihre Überreste – oder zumindest Teile davon – nach Genua überführt wurden; einige Translationen reklamierte Jacobus im Übrigen für sich selbst. In Genua wurden die Reliquien an prominenten Orten aufbewahrt, wodurch diese – ebenso wie Jacobus’ Berichte über die Reliquientranslationen – einen wesentlichen Beitrag zur städtischen Gemeinschafts- und Identitätsbildung leisteten.
Ausgehend von zwei Aufsätzen Patrick Gearys zur Konfliktlösung im Mittelalter geht Geoffrey Koziol in Kapitel 4, „Legal and Political Identities“, der Frage nach, welche Vorstellungen von Konflikten, Konfliktlösung und politisch-sozialer Ordnung sich in den fränkischen Kapitularien und den Statuten der Gottesfrieden zeigten. Dabei kommt Koziol zu dem Ergebnis, dass es klare Unterschiede zwischen beiden Formen gibt: So wurden Kapitularien „von oben“, das heißt vom König bzw. den Eliten des Reiches, verabschiedet. Ferner versuchten diese, Frieden zentral durchzusetzen, während die Gottesfrieden von „unten“, das heißt einer lokaleren bzw. regionaleren Ebene ausgingen und eine dezentrale Form des Friedens zu erreichen suchten. Die von den Gottesfrieden geforderten lokalen und regionalen Schwureinungen zur Durchsetzung des Friedens waren in den Kapitularien sogar explizit verboten.
Der letzte Abschnitt des Sammelbands ist dem Thema „Memories, Texts and Identities“ gewidmet. Darin untersucht Maya Maskarinec eine Inschrift aus der römischen Kirche Santi Giovanni e Paolo in Rom, deren Text teilweise aus dem frühen 8. Jahrhundert und teilweise aus späterer Zeit, Maskarinec zufolge aus dem frühen 12. Jahrhundert, stammt. Durch Analyse der Inschrift und Hinzuziehung weiterer Quellen kommt Maskarinec zu dem überzeugenden Schluss, dass der neuere Teil der Inschrift zu einer Zeit entstand, als sich die Kleriker der Kirche Santi Giovanni e Paolo in einem Streit mit dem benachbarten Kloster Santi Andrea e Gregorio befanden. Vermutlich stritten sich die beiden Institutionen um einen Weinberg und in diesem Kontext „ergänzten“ die Kleriker von Santi Giovanni e Paolo eine bereits vorhandene Inschrift um eine Passage, die sämtlichen Besitz der Kirche auf Papst Gregor den Großen zurückführte. Dies musste umso wirksamer erscheinen, als das rivalisierende Kloster seinen Ursprung auf Gregor den Großen zurückführte. Schließlich ist wiederum Patrick Geary Ausgangspunkt dieses Artikels mit seinem Diktum „how one stores the past affects what is remembered“ (S. 335).
Die Beiträge des Bandes sind durchweg flüssig zu lesen und von hoher Qualität. Der Band selbst ist tadellos redigiert und enthält am Ende mehrere ausführliche und sehr nützliche Register. Wenn man inhaltlich unbedingt etwas kritisieren möchte, dann den Umstand, dass sich nicht alle Beiträge explizit mit dem Thema „Identität“ befassen. Dass es einige Artikel gibt, die nicht zu 100 Prozent zur Thematik des Bandes passen, lässt sich gleichwohl jedoch für nahezu jeden Sammelband – und erst recht für eine Festschrift – konstatieren. Im vorliegenden Fall ist dies auch aus dem Grund unproblematisch, dass auch die Beiträge, die sich nicht explizit mit Identität beschäftigen, inhaltlich sehr überzeugend sind. Etwas kritischer ist mein Fazit in Bezug auf die Nicht-Erwähnung des Umstandes, dass es sich bei dem Band offensichtlich um eine Festschrift handelt: Man kann Festschriften für gut und sinnvoll befinden oder man kann sie ablehnen. Wenn man sich jedoch entschließt, eine Festschrift zu Ehren eines Forschers oder einer Forscherin zu veröffentlichen, sollte man sie aus meiner Sicht auch so benennen. Eines dürfte in jedem Fall unzweifelhaft sein: Wenn es eine Forscherpersönlichkeit gibt, die aufgrund ihrer herausragenden Forschungsleistungen und Verdienste in den letzten Jahrzehnten eine Festschrift verdient hat, dann ist es Patrick Geary!
Anmerkung:
1 Patrick J. Geary, Visions of Medieval Studies in North America, in: John H. van Engen, The Past and Future of Medieval Studies (Notre Dame Conferences in Medieval Studies 4), Notre Dame [Ind.] 1994, S. 45–57.