Bischofferode – kein anderer Ort steht so herausgehoben für den Protest ostdeutscher Belegschaften gegen die Stilllegung von Betrieben und die Politik der Treuhandanstalt zu Beginn der 1990er-Jahre wie diese 2.000-Seelen-Gemeinde im nordthüringischen Eichsfeld. Hier waren am 1. Juli 1993 etwa 40 Kumpel des Kalibergwerks Thomas Müntzer in einen Hungerstreik getreten, um „ihren Schacht“ doch noch zu retten, nachdem es bereits in den Monaten zuvor immer wieder zu Grubenbesetzungen und Demonstrationen gegen die drohende Schließung des Werks gekommen war. Aufgrund seiner besonderen Form und Radikalität unterschied sich der Hungerstreik in Bischofferode von den zahlreichen anderen ostdeutschen Arbeitskämpfen dieser Zeit. Trotz der damit verbundenen überregionalen Strahlkraft wurde die Kalisalzförderung in Bischofferode nach mehr als 80 Jahren am 24. Dezember 1993 eingestellt.1
Heute haben sich der Hungerstreik der Kali-Kumpel vor 30 Jahren und Bischofferode selbst zu einem regionalen Erinnerungsort, zur Chiffre für krisenhafte Entwicklungen in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft entwickelt. In den Augen vieler Betroffener, aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit im Eichsfeld, in Thüringen und in Ostdeutschland steht Bischofferode symbolisch für den ostdeutschen Widerstand gegen einen „Ausverkauf“ durch den Westen.2 Obwohl es aussichtsreiche wirtschaftliche Perspektiven gegeben habe, musste Bischofferode demnach „sterben“, weil westdeutsche Konzerne in krimineller Manier und im Verbund mit Politik, Treuhand und Gewerkschaft ihr Interesse durchsetzen konnten, die Konkurrenz aus dem Osten abzuwickeln und damit den Markt zu bereinigen.3 Auch politische Akteure wie der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei oder die ostdeutschen Landesverbände der AfD haben die Wirkmacht dieser Erzählung erkannt und versuchen das kulturelle Gedächtnis des Ostens mit ihren jeweiligen Sinnstiftungen zu bespielen.4
Die mit dieser erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Aufladung des Ereignisses verbundene Popularisierung und Verfestigung einseitiger Deutungen lassen eine empirische Untersuchung einerseits als Herausforderung, andererseits als besonders dringlich erscheinen. Der Historiker Christian Rau hat sich dieser Aufgabe angenommen und nun die Studie „Hungern für Bischofferode. Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation“ vorgelegt, die am Rande des großangelegten Forschungsprojekts zur Geschichte der Treuhandanstalt am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin erschienen ist. Herausgekommen ist ein fundiert recherchiertes, vielstimmiges, gut lesbares Buch, das einen wichtigen Beitrag zur Transformationsgeschichte Ostdeutschlands nach 1989/90 leistet.
Es ist ein Vorzug des Buches, dass sich Rau nur am Rande auf den Deutungskampf über Erfolg oder Misserfolg der Treuhand einlässt. Die aus Sicht der Betroffenen zwar verständliche, aber mit den Mitteln des Historikers schwer aufzulösende Frage, ob das Kaliwerk von Bischofferode oder die ostdeutsche Kaliindustrie in größerem Umfang zu erhalten gewesen wären, spielt in seiner Studie eine untergeordnete Rolle (S. 225f.). Stattdessen konzentriert sich Rau auf eine quellengestützte Rekonstruktion und historische Einordnung der Denk- und Handlungslogiken der verschiedenen Akteure, die am Arbeitskampf um das Kaliwerk von Bischofferode und am Strukturwandel der deutsch-deutschen Kaliindustrie um 1990 beteiligt waren. Dieses Akteursspektrum umfasst neben den streikenden Kali-Kumpeln, den Betriebsräten und weiteren lokalen und überregionalen Protestbeteiligten auch die Unternehmens- und Gewerkschaftsleitungen, die zuständigen Treuhandmanager, Parteien und Politiker, die Parlamente, Exekutiven und Behörden auf Gemeinde-, Kreis-, Landes- und Bundesebene sowie die Medien. Dafür hat Rau zahlreiche Quellen aus den entsprechenden Archiven und Online-Ressourcen, Pressedokumentationen und graue Protestliteratur ausgewertet sowie ein Interview mit dem damaligen Bürgermeister von Bischofferode geführt.
Aus zeitgeschichtlicher Sicht verfolgt die Studie das Ziel, den Hungerstreik von Bischofferode über den engeren Ereignisverlauf des Protests und den geschichtlichen Kontext des Wirtschaftsumbruchs hinaus in eine „erweiterte Transformationsgeschichte“ einzuschreiben. Darunter versteht Rau einerseits die Ausweitung und Verknüpfung der zu untersuchenden Ebenen und Akteure und ihrer jeweiligen Sinnwelten, andererseits die Integration ostdeutscher Transformationsprozesse in zeitlich und räumlich größere sozioökonomische und kulturelle Zusammenhänge.5 Die Leitfrage entwickelt Rau aus einer demokratiegeschichtlichen Perspektive, indem er nach den „sozialen Ordnungen im Transformationsgeschehen“ fragt, die in der Auseinandersetzung der Akteure über „die Legitimität politischen Handelns und die Form demokratischer Teilhabe in einer von tiefer Ungewissheit geprägten historischen Situation“ verhandelt wurden (vgl. S. 18–23).
Dieses Vorhaben mündet in eine dreiteilige chronologisch-thematische Gliederung des Stoffs, der eine konzise, problemorientierte Einleitung vorangestellt ist. Der erste Teil beleuchtet die Vorgeschichte des Hungerstreiks. Darin werden die Transformation der Kaliwirtschaft (1. Kap.) sowie die Kulturgeschichte des Eichsfelds im 20. Jahrhundert als umstrittene Bergbauregion (2. Kap.) thematisiert. Im zweiten Teil (3. u. 4. Kap.) präsentiert Rau die Ereignisgeschichte der Kaliproteste in Thüringen von den ersten Demonstrationen im Juli 1990 bis zum Höhepunkt des Hungerstreiks in Bischofferode in der zweiten Jahreshälfte 1993. Daran anschließend wird der Arbeitskampf in fünf analytischeren Unterkapiteln als Medien- und als europäisches Ereignis, als ordnungspolitischer-, als Klassen- und als betrieblicher Konflikt historisch eingeordnet. Der dritte Teil widmet sich der Nachgeschichte des Hungerstreiks. Im fünften Kapitel stehen dabei die regionale Struktur- und Arbeitsmarktpolitik der Thüringer Landesregierung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre sowie eine geschlechterhistorische Betrachtung über die Folgen der Stilllegung des Eichsfelder Kalibergbaus im Fokus. Letztere reißt zwar hochinteressante Aspekte auch für künftige Forschungen an, steht in der dargebotenen Kürze (S. 212–218) allerdings etwas zusammenhangslos in der Studie. Das umfangreiche Resümee konzentriert sich abschließend auf die verschiedenen Re-Aktualisierungen des Ereignisses und führt die Ergebnisse der Studie im Sinne einer Problemgeschichte der Gegenwart (H.G. Hockerts) noch einmal zusammen.
Rau kann anhand des Hungerstreiks von Bischofferode überzeugend darlegen, dass sich die Geschichte der Demokratie in Ostdeutschland nach 1989/90 nicht im Transfer der westdeutschen Institutionenordnung erschöpft. Stattdessen war und ist die Zukunft der Demokratie Gegenstand von Aushandlungsprozessen über legitim angesehene politische Prozeduren und Beteiligungsformen, denen unterschiedliche Vorstellungen und Aneignungen zugrunde liegen. Während die Kali-Kumpel ihre Interessen durch die neuen Institutionen wie Parteien, Regierungen und Gewerkschaften nicht oder nicht ausreichend vertreten sahen, versprachen direktdemokratische Mittel einen als effektiver wahrgenommenen Zugang zur politischen Teilhabe. Doch erst die Vorstellung, sich in einem Kampf gegen „das System“ zu befinden, habe bei den protestierenden Kali-Kumpeln mit dem Hungerstreik eine Protestform als gerechtfertigt erscheinen lassen, die zugleich die Legitimität und Funktionsfähigkeit von Staat und Demokratie grundlegend infrage stellte. Bischofferode wird damit als Erfahrungsraum eines in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft tiefsitzenden Misstrauens gegenüber der bundesrepublikanischen Ordnung greifbar. Auch die narrativen Muster, denen die ostdeutschen Geschichtsbilder über Bischofferode bis heute folgen, sieht Rau als Ergebnis einer als unvollkommen und ungerecht erlebten Demokratie und Marktwirtschaft in der Wendezeit – eine Erfahrung, an die Protestakteure der Gegenwart erfolgreich anknüpfen.
Fraglich bleibt jedoch, ob sich die mit dem Arbeitskampf von Bischofferode und anderen Ost-West-Konfliktmarken der frühen 1990er-Jahre unzweifelhaft verbundenen, teils heftigen sowohl materiellen als auch symbolischen Konflikte und Asymmetrien in der Gesamtperspektive mit demokratiegeschichtlichen Aushandlungsprozessen auflösen lassen. Der Evidenz dieses Arguments wäre es zuträglich gewesen, wenn Rau den in der Einleitung formulierten theoretischen Anspruch, Bischofferode als „Kristallisationspunkt von lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ordnungsvorstellungen“ (S. 22) in den Blick zu nehmen, in seiner Abhandlung noch konsequenter in der dafür nötigen empirischen Breite eingelöst hätte. Gemessen an der perspektivischen Flughöhe bleibt die Auswahl und Diskussion der Quellen doch recht eng auf die Ereignisse in Bischofferode beschränkt. Dem Zusammenhang der Ebenen geht er meist nur auf der Gegenstandsebene nach, nicht im Argument. Inwiefern ist Bischofferode, inwiefern sind die ostdeutschen Proteste der frühen 1990er-Jahre in einen räumlich und zeitlich größeren kulturgeschichtlichen Wandel des Politischen eingebunden und welche Rolle spielen Traditionsbestände wie etwa Heimat, Arbeit und Gemeinschaft im ostdeutschen Fall dabei?
Christian Raus Studie leistet eine notwendige Differenzierung unseres Blicks auf Protest und Politik in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Seine demokratiegeschichtliche Perspektive ist inspirierend und fordert weitergehende Fragestellungen heraus. Im besten Fall trägt „Hungern für Bischofferode“ damit auch zur Versachlichung einer festgefahrenen erinnerungskulturellen Debatte bei.
Anmerkungen:
1 Seit dem Einstieg eines australischen Unternehmens in die Bemühungen um eine Revitalisierung des Kalibergbaus im Südharz im Jahr 2021 scheinen die Kali-Kumpel nunmehr von der eigenen Geschichte eingeholt zu werden; vgl. Bernd Jentsch, Neues Bergwerk im Eichsfeld geplant – Ramelow besucht die Probebohrungen, in: Thüringer Allgemeine, 05.05.2022. Ich danke Anna Hesse (Mainz/Paris) für diesen Hinweis und ihre hilfreichen Anmerkungen.
2 Vgl. Marcus Böick, 1. Juli 1993: Ein Hungerstreik wird zum Symbol, in: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Hrsg.), Protest. Deutschland 1949–2020, Bonn 2021, S. 322–327. Der Treuhandanstalt als Negativmythos kommt in dieser Überwältigungserzählung eine argumentative Schlüsselrolle zu, vgl. ders. / Constantin Goschler, Studie zu Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Bochum 2017.
3 Vgl. Dirk Schneider, Bischofferode – Das Treuhand-Trauma, 90 Min., Deutschland 2018 (MDR-Dokumentation); Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.), Schicksal Treuhand – Treuhand Schicksale. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 2019, S. 71–78, S. 87–89; Hermann Vinke, „Ein Volk steht auf – und geht zum Arbeitsamt“. Staatsholding Treuhand als Fehlkonstruktion – die Sicht der Betroffenen, Hamburg 2021, S. 163–198.
4 Ramelow, der als Gewerkschafter selbst an den Ereignissen beteiligt war, verweist in der Kommunikation seiner Politik als Thüringer Ministerpräsident immer wieder auf Bischofferode, vgl. zuletzt Boris Herrmann / Henrike Roßbach, Die Anstalt, in: Süddeutsche Zeitung, 06./07.05.2023, S. 11–13. Der Thüringer Landtag setzte 2021 auf Initiativen der CDU und der AfD-Fraktionen hin einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Treuhand in Thüringen“ ein, vgl. Thüringer Landtag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4333, 03.11.2021, https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok/dokument/83898/neubekanntmachung_des_beschlusses_zur_einsetzung_des_untersuchungsausschusses_7_2_treuhand_in_thueringen_erfolgsgeschichte_oder_ausverkauf_rolle_und_u.pdf (22.05.2023).
5 Vgl. zu diesem Ansatz: Kerstin Brückweh, Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/29 (2020), S. 4–10; Michael Schwartz, Transformationsgesellschaft. DDR-Geschichte im vereinigten Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69 (2021), S. 346–360. Zur ostdeutschen Protestgeschichte in den 1990er-Jahren vgl. Marcus Böick, „Aufstand im Osten“? Sozialer und betrieblicher Protest gegen Treuhandanstalt und Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er Jahren, in: Dieter Bingen / Marie Jarosz / Peter Oliver Loew (Hrsg.), Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989, Wiesbaden 2012, S. 167–185; Detlev Brunner, Auf dem Weg zur „inneren Einheit“? Transformation und Protest in den 1990er-Jahren, in: Marcus Böick / Constantin Goschler / Ralph Jessen (Hrsg.), Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, S. 169–186.