J. Koranyi u.a. (Hrsg.): Digging Politics

Cover
Titel
Digging Politics. The Ancient Past and Contested Present in East-Central Europe


Herausgeber
Koranyi, James; Hanscam, Emily
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 356 S.
Preis
€ 114,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Grunwald, Berlin

Da unter deutschen Altertumswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern immer wieder zu hören ist, dass die Beschäftigung mit wissenschaftsgeschichtlichen Perspektiven in den betreffenden Fächern ein „Karrierekiller“ sei, freut sich die Rezensentin besonders über Bücher wie das hier zu besprechende. Aller Engstirnigkeit und feigem Kalkül zum Trotz belegen Untersuchungen, wie sie der Band „Digging Politics“ versammelt, den unumgehbaren, ja sogar dringenden Bedarf an wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion altertumswissenschaftlicher Forschungen. Die Aufsätze stammen von zwölf jungen und nicht mehr ganz jungen Vertreterinnen und Vertretern der Geschichts- und Politikwissenschaft, der verschiedenen Archäologien sowie der europäischen Ethnologie. Herausgegeben wurden sie durch die Archäologin Emily Hanscam von der schwedischen Linaeus Universität und den Kulturhistoriker James Koranyi von der University Durham, die 2019 zu einem Workshop zur vielfältigen Rezeption von Prähistorie und Antike in Mittelosteuropa an die University Durham eingeladen hatten. Ein Index, der Personen, Institutionen, Orte und Konzepte listet, rundet den englischsprachigen Band ab. Gewidmet ist er den Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine und überall sonst, „who are constrained by chauvinist claims to the past“ (S. V).

Der Sammelband befasst sich mit der vielfältigen, häufig politisch motivierten „Nutzung“ der prähistorischen und antiken Vergangenheit in Ostmitteleuropa. Am Beispiel von historischen Reenactments, Ausstellungsformaten, virtueller Archäologie, aber auch einzelnen Forschungsthemen aus Polen, Ungarn, Bulgarien und vor allem Rumänien fragen die Autorinnen und Autoren, die teilweise selbst aus der Region kommen, nach der Beziehung zwischen Prozessen der nationalen Identitätsstiftung und den altertumskundlichen Disziplinen. Zusammen führen die Beiträge vor Augen, wie die frühmoderne Zuordnung Ostmitteleuropas zu verschiedenen Imperien, ihre moderne Formatierung durch zwei Weltkriege und den Kalten Krieg sowie die Neuorientierung nach dessen Ende eine spezifische Dynamik auslösten, deren Ausmaß längst nicht umfassend erforscht ist. In Unkenntnis dieser Dynamik werden Antikenrezeptionen in der genannten Region von außen bisweilen als skurrile oder als – im Vergleich zu den nationalgeschichtlichen Konstrukten in West- und Nordeuropa – „verspätete“ Bemühungen abgetan. Auf diese Weise bleibt das tatsächliche politische wie ethische Gewicht nationaler Gründungsmythen ebenso unerkannt wie deren Konsequenzen für die Bewertung von vergangenen wie zeitgenössischen Migrationen und damit des Verhältnisses zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Staat. Die Beiträge des Bandes führen eben dieses Gewicht vielfältig und eindrücklich vor Augen.

Relativ vertraut für wissenschaftsgeschichtlich interessierte Archäologinnen und Archäologen erscheinen aus deutscher Sicht die von dem Historiker Matthias E. Cichon rekonstruierten Bemühungen polnischer Anthropologen und Politiker um eine Re-Slawisierung deutscher Siedlungsgebiete bis zur Elbe, die er als Teil des kommunistisch gewendeten Pan-Slawismus präsentiert. Gleiches gilt für die Frage der Historikerin Anne Kluger nach der ideologischen Indienststellung von ostdeutschen und polnischen Fachpublikationen durch entsprechende Einleitungen und Zusammenfassungen oder die Frage nach dem konkreten Prozess des Nation-buildings wie des World-buildings, die der Kulturwissenschaftler Christoph Doppelhofer in seinem Beitrag stellt. Hierfür beschreibt er die Transformation der realen Stadt Dubrovnik in die fiktive Hauptstadt der „Sieben Königslande“ aus der Serie Game of Thrones und schließlich weiter zu einem realen touristischen Anziehungspunkt.

Vertraut sind auch die buchstäblich goldreichen archäologischen Wanderausstellungen, die seit den 1960er-Jahren von Ostmitteleuropa sowie der Sowjetunion als kulturpolitische Botschaften in die Welt gesandt wurden und diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs Zeugnis von den nationalen Anfängen und frühen Staaten in der Region ablegen sollten. Der Archäologe Florian-Jan Ostrowski beschreibt diese archäologische Ausstellungspraxis am Beispiel bulgarischer Thraker-Ausstellungen als eine Technik der kulturpolitischen Außendarstellung, die gleich einer Fortsetzungsgeschichte bis in die Gegenwart reicht. Sein Text eröffnet in besonderer Weise Perspektiven auf die unterschiedlichen Adressaten solcher Präsentationen im In- und Ausland sowie deren Rezeption solcher Ausstellungen. Der Rezensentin gänzlich unbekannt war dagegen die Arbeit der 1963 gegründeten International Association for South-eastern European Studies (AISEE), die der Historiker Bogdan C. Jacob in seinem Beitrag thematisiert. Ihn interessiert, wie die AISEE gemeinsam mit der UNESCO die Erforschung der Antike in den Ländern auf dem Balkan und damit moderne nationale Identitätsnarrative förderte. Was der Korrektur eines (west-)eurozentristischen Kultur- und Erbeverständnisses und der Wertschätzung bis dato marginalisierter Kulturen und Vergangenheiten dienen sollte, trug wesentlich zur Institutionalisierung und Internationalisierung der entsprechenden Forschungen in Albanien, Bulgarien, Griechenland, Rumänien, Jugoslawien und der Türkei bei. Gleichzeitig führte es aber auch zu einer eigenen eurozentristischen Sicht dieser Länder auf die ebenfalls beteiligten Staaten Nordafrikas.

Besonders aufschlussreich sind die Beiträge, die die Relevanz von Vergangenheitsbezügen für die Gegenwart und die politisch anvisierte Zukunft an aktuellen Beispielen aus Ungarn und Rumänien belegen. So beschreibt die Kulturwissenschaftlerin Melinda Harlov-Csortán die denkmalpflegerischen, ökonomischen und sozialen Effekte der kulturgeschichtlichen Umwertung einer Fundregion im Norden Ungarns durch deren Einstufung als Weltkulturerbe. Das seit 1866 bekannte Mithraeum am Fertő/Neusiedlersee im Norden des heutigen Ungarns lag während des Kalten Krieges in einer strukturell schwachen Grenzregion nahe der österreichischen Grenze und wurde wissenschaftlich und touristisch kaum gewürdigt, was sich nach 1989 radikal änderte. Dieses Beispiel zeigt, wie unter dem Einfluss der Weltkulturerbe-Idee einzelne Fundplätze und bestimmte Nutzungsphasen privilegiert werden, während ihre kulturgeschichtliche Komplexität in den Hintergrund rückt. Ebenfalls mit Ungarn befasst sich die Ethnologin Katrin Kremmler. In ihrem Text fasst sie die Ergebnisse ihrer Feldstudien zu einem seit 2008 jährlich stattfindenden, großformatigen kulturpolitischen Festival (Kurultáj) zusammen, das wesentlich zur politischen Etablierung einer „Hungarian-Kazakh-Turkish-Central Asian kinship connection“ (S. 184) beigetragen habe. Finanziert und gefördert durch die ungarische Regierung und zahlreiche Parteien, erlebe der Ungarische Turanismus des späten 19. Jahrhunderts – ergänzt durch archäologische und archäogenetische Forschungen – somit eine Renaissance, die letztlich Ungarn als europäischen Hub der Neuen Seidenstraße empfehlen soll. Dieser geopolitischen Orientierung eines modernisierten ethnischen Narratives sind konkrete soziale Effekte gegenüberzustellen, wie der Politikwissenschaftler Radu Cinpoeş zeigt. Sein Vergleich von Kampagnen für ein verfassungsrechtliches Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen in Ungarn und Rumänien führt die Auswirkungen völkischer Vergangenheitskonstruktionen im Wechselspiel mit verschiedenen christlichen Traditionen vor Augen.

In ihrer Analyse zum Bild der Siebenbürger Sachsen in rumänischen Geschichtsbüchern stellt die Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Claudia Spiridou-Şerbu das Konzept des Protochronismus vor. Entwickelt in den 1970er-Jahren wurde damit die kulturelle Einzigartigkeit des autochthon gedachten rumänischen Volkes behauptet, was intensiv im Schulunterricht vermittelt wurde. Dieses Konzept verfolgt der Archäologe Alexander Rubel in seinem Beitrag in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zurück, indem er ausführlich die Beiträge verschiedener Schriftsteller der sogenannten Jungen Generation zur Synthese römischer und getisch-dakischer Einflüsse zu einer „magic formula for the ethno-folkloric fantasy scripts“ (S. 268) beschreibt. Der Archäologe Gheorge Alexandru Niculescu bezieht schließlich diese Forschungs- und Darstellungstraditionen auf die archäologische Forschung in Rumänien im gesamten 20. Jahrhundert und beantwortet seine Fragen “Why Nationalism Survives in Romanian Archaeology and What Could Limit its Impact?” mit der fortgesetzten starken Orientierung der rumänischen Archäologie an den kulturpolitischen Wünschen und Vorstellungen der politischen Autoritäten im Land.

Der abschließende Beitrag der Herausgeberin Emily Hanscam über die Vielfalt der ethnischen Konzepte, welche die archäologischen und historischen Beschreibungen der Völkerwanderungszeit in Ostmitteleuropa buchstäblich bevölkern, verbindet das Gelesene und Gelernte bestens. Das Potential und die Notwendigkeit solcher bis in die Gegenwart reichender wissenschaftsgeschichtlicher Reflexionen wird darin ebenso deutlich wie deren wünschenswerte Reichweite: Weit über die nationalen Fachgrenzen der aktiv forschenden und erzählenden Altertumswissenschaften müssen die Mechanik historischer Identitätskonstruktionen und -angebote gezeigt und diskutiert werden. Denn Ethnizität ist immer noch vielerorts im staatsrechtlichen Sinne konstitutiv und die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wirken längst nicht mehr als privatfinanzierte Enthusiasten wie im 19. Jahrhundert, sondern als staatlich beauftragte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Universitäten, Museen und Denkmalämtern. Mit jeder Publikation und jeder Ausstellung erfüllen sie nicht nur ihren eigenen Arbeitsauftrag, sondern folgen oftmals auch außerwissenschaftlichen Agenden und beweisen damit entweder die Integrität von wissenschaftlicher Arbeit oder stellen sie in Frage.

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