Title
Zuflucht in der Karibik. Die jüdische Flüchtlingssiedlung in der Dominikanischen Republik 1940–1945


Author(s)
Kaplan, Marion
Series
Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 36
Published
Göttingen 2010: Wallstein Verlag
Extent
283 S.
Price
€ 24,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Miriam Rürup, Deutsches Historisches Institut, Washington D.C.

Die New Yorker Historikerin Marion Kaplan hat sich mit einer kleinen, dabei aber nur auf den ersten Blick unbedeutend erscheinenden landwirtschaftlichen Ansiedlung befasst, die im Jahr 1940 in der Dominikanischen Republik errichtet wurde. Anlass bot ihr dabei eine Ausstellung im New Yorker Jewish Heritage Museum über den Ort Sosúa.1 Im Süden Amerikas hat sich Antisemitismus in einer mit Europa vergleichbaren Variante bekanntlich nie durchsetzen können. Für europäische Leser geradezu verblüffend ist jedoch die Erkenntnis, dass sich sogar ausgerechnet brutale Diktatoren wie Auguste Pinochet, Fulgencio Batista und Rafael Trujillo öffentlich für jüdische Belange einsetzten.2 Gleichwohl wäre es weit gefehlt, diese Regimepolitik jeweils als Akt der Judenfreundlichkeit oder gar Menschlichkeit zu interpretieren. Welche Motive dabei für den dominikanischen General Rafael Trujillo ausschlaggebend waren, ist eine der Fragen, mit denen sich Kaplan auseinandersetzt.

Gleichwohl geht es ihr nicht ausschließlich um die Motivlagen des Regimes, sondern dezidiert um die Akteure selbst: die jüdischen Flüchtlinge, die sich aus Mitteleuropa auf Einladung des Diktators Rafael Trujillo und mit Unterstützung des US-amerikanischen State Department in der Dominikanischen Republik niederließen, um dort ein Leben als Landwirte und Viehzüchter zu beginnen.

Zur Analyse des politischen und institutionellen Gerangels um die Siedlung Sosúa erschien nahezu zeitgleich eine entsprechende Studie von Allen Wells.3 Ebenfalls vor Kurzem erschien ein Katalogband zur Geschichte der dominikanischen Siedlung.4 Es sind unter anderem die unterschiedlichen Quellen, die dazu führen, dass sich die drei Bücher unterscheiden: während die letztere Publikation sich auf Interviews sowie dominikanische und deutsche Literatur wie Archivquellen stützt, wertete Wells vornehmlich dominikanische, spanischsprachige Quellen und Marion Kaplan amerikanische sowie jüdische Überlieferungen aus. Es handelt sich bei diesen synchron erscheinenden Publikationen um einen wahren Glücksfall – und eine spannende Lektüre zumal –, da an einer kleinen, künstlich geschaffenen landwirtschaftlichen Siedlung die großen Fragen von Diktaturen, Vertreibung, Flucht, Exil und Neuanfang sowie zionistische Siedlungsvorstellungen aus unterschiedlichen und sich optimal ergänzenden Blickwinkeln betrachtet werden können.

Die Anfänge der landwirtschaftlichen Siedlung Sosúa gehen auf die Konferenz von Evian zurück, auf der im Sommer 1938 „sichere Häfen“ für die verfolgten deutschen Juden ermittelt werden sollten, was weitgehend scheiterte. Lediglich die Dominikanische Republik erklärte sich bereit, zunächst 10.000, perspektivisch gar 100.000 Juden ins Land zu lassen – unter einer Bedingung: sie mussten eine landwirtschaftliche Siedlung errichten. Einerseits wollte die Dominikanische Diktatur damit ihr internationales Ansehen aufbessern. Das Kalkül ging insofern auf, als die USA es nicht an Militärhilfe für die Dominikanische Republik fehlen ließen. Andererseits manifestierte sich in dieser Ansiedlungspolitik das nach innen gerichtete, rassistische Ansinnen, die dominikanische Bevölkerung „aufzuhellen“ und damit zu „verbessern“.

Wie sich die Siedler zu diesem außen- wie innenpolitischen Kalkül verhielten, betrachtet Kaplan auf mehreren Ebenen. Im Jahr 1939 gründete die amerikanische jüdische Hilfsorganisation „American Jewish Joint Distribution Committee“ (kurz: Joint) mit der DORSA, der Dominican Republic Settlement Association, eine Unterorganisation, die die Einwanderer unterstützen sollte. Im Jahr 1940 trafen die ersten jüdischen Einwanderer in der Dominikanischen Republik ein. Insgesamt gelangten im Verlauf des Zweiten Weltkrieges 476 Menschen nach Sosúa – eine weitaus geringere Zahl, als ursprünglich verkündet, was zu einem nicht geringen Teil an der restriktiven Haltung der USA bei der Vergabe von Transitvisa lag (es gab keine direkte Schiffsverbindung in die Dominikanische Republik, so dass die Exilanten den Weg über die USA nehmen mussten). Obgleich sie sich nun in „Sicherheit“ befanden, mussten sich die jüdischen Siedlerinnen und Siedler (erstere dabei in deutlicher Minderzahl) mit den eher uneinladend wirkenden Bedingungen auseinandersetzen, wie Kaplan anschaulich darlegt: zuvorderst das tropische Klima, das die ohnehin unerfahrenen Landwirte vor unerwartete Probleme stellte. Dennoch machten die jüdischen Einwanderer das Beste aus ihrer Situation: die finanzielle Hilfe der DORSA trug das Ihre dazu bei, ebenso die als billige Arbeitskraft eingesetzten Einheimischen sowie das starke Bedürfnis, „es zu schaffen“. Und so entstand ein, unter den gegebenen Bedingungen nahezu städtischer Ort mit Synagoge, Schule, Krankenhaus, Werkstätten, Wasser- und Stromleitungen, befestigten Straßen usw. sowie mit einer Besonderheit: einer Molkereigenossenschaft, die jahrelang zum wirtschaftlichen Erfolg von Sosúa beitrug.

Trotzdem strebten zahlreiche Sosúa-Bewohner die Weiterwanderung in die USA und nach Kriegsende auch zurück nach Europa an. Das Kriegsende brachte zudem ein Ende der finanziellen und administrativen Unterstützung durch die DORSA mit sich. Allmählich löste sich das Siedlungsprojekt auf, auch wenn der Ort Sosúa bestehen blieb und heute ein eigenes Museum (Museo Judío Sosúa) aufzuweisen hat. Trotz einiger Wiederbelebungsversuche war die Zahl der einwandernden Juden rückläufig; 1961, im Jahr, in dem Trujillo einem Attentat zum Opfer fiel, waren nur noch rund 149 Siedler dort zu vermelden.

Kaplan führt den Leser souverän zwischen den institutionellen Entwicklungen und der Akteursperspektive hin und her. Zudem steht dabei die Utopie im Mittelpunkt, eine landwirtschaftliche Existenz aufbauen zu können, die eine reale Zukunftsaussicht für die nächste Generation versprach – auch wenn diese Zukunft meist nicht in der Dominikanischen Republik gesucht wurde. In den beiden einleitenden Kapitel legt Kaplan die Rahmenbedingungen der Gründung dieser landwirtschaftlichen Kolonie anschaulich und mit der Konzentration auf das Wesentliche dar und führt den Leser in die kurze Geschichte jüdischen Lebens in der Karibik ein. Sobald sie sich der konkreten Siedlungsgeschichte zuwendet, lässt Kaplan sodann immer wieder die Beteiligten selbst sprechen. Aus Memoiren und Tagebuchaufzeichnungen zeichnet sie die Geschichte nach, vor dem Hintergrund der administrativen und politischen Vorgänge. Der Abdruck zahlreicher Fotografien verstärkt diesen anschaulichen Eindruck weiterhin. Zugleich führt dies jedoch zu einer teilweise fehlenden Distanz zur Sprache der Quellen. Dass dies bisweilen unreflektiert geschieht, fällt am deutlichsten bei der durchweg verwendeten, aber nie eingeführten Bezeichnung „Heimstatt“ für die Niederlassungen der Sosúa-Bewohner auf, die zeitgenössisch bekanntlich auch Begriff für das zionistisch noch unerreichte Ziel einer „Heimstatt in Palästina“ war und folglich zumindest hätte in diesen Kontext eingeordnet werden müssen. Ohnehin schwankt die Erzählung zuweilen zwischen einer dichten und sehr lesbar aus den Quellen erzählten Geschichte und plötzlichen Verallgemeinerungen, wo unerwartet mit Bourdieu (S. 155) argumentiert oder über die Mentalität der „Bei Unsers“ am Beispiel von Einwanderern in England (S. 139) und über die sprachlichen Fremdheitserfahrungen in Palästina (S. 136) reflektiert wird.

Diese kleinen Ungereimtheiten tun jedoch dem Gesamteindruck dieses Werkes keinerlei Abbruch. Vielmehr beendet man die Lektüre mit einer vielschichtigen Sicht auf den Umgang der verschiedenen Beteiligten mit der zwangsweisen Emigration – und so öffnet Kaplan dem Leser den Blick für die vielen Erklärungsmodelle für die Geschichte dieses kleinen Ortes: für die DORSA als Option, landwirtschaftliche und kollektive Ideen weiterzuentwickeln, für die Dominikanische Republik als Ausweg aus einer Imagekrise und zugleich Teil des rassistischen „Blanquismo“-Programms, für die US-Amerikaner eine Möglichkeit, die eigenen Immigrationsrestriktionen aufrecht zu erhalten, und für die landwirtschaftlichen Siedler die rettende Aussicht, in der Emigration ein neues Leben aufzubauen.

Auch wenn die in Evian genannte Zahl von 100.000 Juden bei weitem nicht erreicht wurde, so gelang doch mehr jüdischen Flüchtlingen die Flucht aus Europa mithilfe eines dominikanischen Visums, als sich in der Dominikanischen Republik niederließen. Die Geschichte Sosúas wurde von DORSA-Mitarbeitern in die Produktivierungsidee der Juden durch landwirtschaftliche Umschichtung eingeordnet und konnte so von offizieller Seite zu einer Erfolgsgeschichte umgedeutet werden. Die meisten Betroffenen selbst zogen es jedoch vor, das Landleben baldmöglichst gegen ein Leben in der Stadt einzutauschen – und für die meisten Sosúaner bot sich für diese Option die USA an. Genau dieses Spannungsfeld zwischen politischem Kalkül und individuellen Interessen vermag Marion Kaplan in ihrem Buch exzellent zu beleuchten – obendrein mitreißend erzählt und sprachlich elegant übersetzt.

Anmerkungen:
1 Die zweisprachige Ausstellung (Sosúa: A Refuge for Jews in the Dominican Republic / Sosúa: Un Refugio de Judíos en la República Dominicana) wurde im Jahr 2008 gezeigt; auf Anregung des Repräsentanten von Washington Heights, einem ehemals europäisch-jüdischen und heute vornehmlich dominikanischen New Yorker Stadtviertel.
2 Vgl. zu Chile Judith L. Elkin, The Jews of Latin America, New York 1998, hier bes. S. 269. Zu Kuba siehe Robert M. Levine, Tropical Diaspora. The Jewish Experience in Cuba, Gainesville 1993, hier bes. S. 7.
3 Allen Wells, Tropical Zion. General Trujillo, FDR, and the Jews of Sosúa, Durham 2009.
4 Hans-Ulrich Dillmann / Susanne Heim, Fluchtpunkt Karibik, Berlin 2009.

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