Schematisch lässt sich das Profil eines Schweizer Wirtschaftsführers bis in die 1980er-Jahre wie folgt beschreiben: männlich, Schweizer Bürger, Jurist, FDP-Mitglied, Offizier und in mehreren Verwaltungsräten von Großunternehmen tätig.1 All dies trifft auch auf den Winterthurer Industriellen Hans Sulzer (1876–1959) zu, zu dem nun eine reich bebilderte, auf privater Korrespondenz basierende und von verschiedenen Autorinnen und Autoren verfasste Biografie vorliegt. Entstanden ist ein faszinierendes Porträt eines der einflussreichsten Unternehmer der Schweizer Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1876 in eine bekannte Winterthurer Familie hineingeboren, waren seine Jugendjahre zunächst von der wirtschaftlichen Wachstumsphase der "Belle Epoque" und dem Aufstieg des Familienunternehmens zu einem Großunternehmen geprägt. 1914 stieg Hans Sulzer an die Spitze dieses Unternehmens auf; seine weitere berufliche Laufbahn wurde dann aber vom "Zeitalter der Katastrophen" – den beiden Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise – bestimmt. Nur wenige Unternehmer haben das Auf und Ab wirtschaftlicher Wachstums- und Krisenphasen zwischen der Belle Epoque und den Wirtschaftswunderjahren so intensiv erlebt wie Hans Sulzer.
Die sechs Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit Hans Sulzers Verankerung im Winterthurer Industriellen-Milieu (Miguel Garcia), seiner Tätigkeit als Unternehmensleiter (Florian Adank), seiner Schlüsselrolle als "big linker" in verschiedenen Wirtschaftsverbänden (Pierre Eichenberger), seinen Aktivitäten als Diplomat und Unternehmer während der beiden Weltkriege (Florian Weber), der Rolle seiner Frau Lili Sulzer-Weber (Eva Schumacher) sowie seiner Bedeutung für die neoliberale Bewegung in den Nachkriegsjahren (Andrea Franc). Abgeschlossen wird der Band durch ein kurzes Fazit (Tobias Straumann) sowie einer Chronologie zu den zahlreichen Aktivitäten von Hans Sulzer in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bis in die 1950er-Jahre.
Sulzer war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein international tätiges Großunternehmen mit mehreren tausend Beschäftigten, das mit der Produktion von Diesel- und Schiffsmotoren eine zentrale Rolle in der Schweizer Metall- und Maschinenindustrie spielte. Hans Sulzer und seine Frau Lili können als typische Vertreter eines "Familienkapitalismus" in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben werden, als die Mehrheit der Konzerne noch von Familien kontrolliert wurde.2 Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Nationalökonomie trat Sulzer 1903 in das Familienunternehmen ein und stieg bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis an die Spitze des Unternehmens auf. Unter seiner Leitung erfolgte nicht nur die in der Familie umstrittene – und gegen internen Widerstand durchgesetzte – Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft 1914, sondern mit der Entwicklung der "Sulzer-Webmaschine" auch eine Diversifizierung der Produktpalette seit den 1930er-Jahren. Beide Schritte sind typisch für die Entwicklung von Großunternehmen in diesen Jahren.
Im Ersten Weltkrieg wurde Sulzer – wie andere Unternehmer auch – eng in die kriegswirtschaftliche Planung des Schweizerischen Bundesstaats einbezogen und im Sommer 1917 vom Bundesrat zum Schweizerischen Gesandten in Washington berufen. Unterstützt von seiner deutlich weltoffeneren und reiselustigeren Frau Lili gelang es Hans Sulzer im Rahmen der sogenannten "Swiss Mission" nicht nur, die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA zu verbessern, sondern im Dezember 1917 auch ein für die Versorgung des Landes wichtiges Getreideabkommen auszuhandeln. Nach dem Krieg verlor das Unternehmen sämtliche Reserven und während der Weltwirtschaftskrise einen Teil seines Aktienkapitals. Durch handelspolitische Missionen und als Chef der Sektion für Eisen und Maschinen des damaligen "Kriegs-Industrie- und Arbeitsamts" war Sulzer auch im Zweiten Weltkrieg eng in die Organisation der schweizerischen Kriegswirtschaft eingebunden.
Dazu kam eine breit gestreute Tätigkeit als Multi-Verwaltungsrat mit zahlreichen langjährigen Mandaten bei Saurer, der Schweizerischen Bankgesellschaft oder der Schweizerischen Unfallversicherungs-Aktiengesellschaft, um hier nur ein paar wenige Namen zu nennen. Zugleich war Sulzer seit den 1920er-Jahren in führenden Funktionen im Verein Schweizerischer Maschinen-Industrieller (VSM), dem Arbeitgeberverband Schweizerischer Maschinen- und Metall-Industrieller (ASM) sowie dem Zentralverband Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen (ZSAO) tätig.
Als Höhepunkt dieser Verbandstätigkeit kann sicher seine Wahl in das mit weitreichenden Netzwerken verbundene Präsidium des 1870 gegründeten Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins (SHIV), kurz "Vorort" genannt, gelten, das er von 1935–1951 innehatte. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Alfred Frey oder John Syz verfügte Sulzer als Präsident des Vororts zwar nicht über ein Nationalratsmandat der FDP, durch seine diplomatischen Tätigkeiten während der beiden Weltkriege war er aber ebenfalls eng mit der Schweizer Politik verbunden. Insgesamt entstand so ein machtvolles Netzwerk aus persönlichen Beziehungen, Verwaltungsratsmandaten, Verbandsaktivitäten und politischer Einflussnahme. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Hans Sulzer seiner wirtschaftsliberalen Überzeugung treu und unterstützte neoliberale Kreise – wie die 1947 gegründete Mont Pèlerin Society – nicht zuletzt auch finanziell.
Die insgesamt hohe inhaltliche Qualität des Bandes basiert auf privater Korrespondenz und zahlreichen Fotografien, die ein Enkel von Hans Sulzer dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich geschenkt hat. Die Sicherung, Erschließung und Auswertung dieses neuen, umfangreichen Quellenbestandes ist für die Geschichte von Sulzer von grundlegender Bedeutung. Die Verwendung privater Korrespondenz als historische Quelle ist aber nicht nur eine große Stärke, sondern auch eine kleine Schwäche dieses Bandes: Das Buch ermöglicht zwar einen vertieften Einblick in eine durch Verwandtschaften und (strategische) Heiraten eng verflochtene Schweizer Wirtschaftselite. Sichtbar wird dadurch der von einer hohen Arbeitsbelastung und einer intensiven Reisetätigkeit geprägte Alltag eines der einflussreichsten Industriellen der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zugleich dominiert aber auch eine familieninterne Sicht der Dinge, während externe Stimmen zur Einordnung von Sulzers unternehmerischen oder diplomatischen Tätigkeiten eher rar bleiben. Während die zum Teil erheblichen Differenzen über die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens zwischen verschiedenen Familienmitgliedern mehrfach thematisiert werden, erfährt man – mit Ausnahme von Pierre Eichenbergers Beitrag – nur wenig über das Verhältnis zur Arbeiterschaft oder den Gewerkschaften im "Zeitalter der Katastrophen". Dass Konflikte mit der Arbeiterschaft in den privaten Korrespondenzen von Hans Sulzer „keine Rolle“ (S. 38) spielten, ist aus quellenkritischer Perspektive auch deshalb interessant, weil er sich im Rahmen seiner Verbandstätigkeit sehr klar zu sozialen Fragen äußerte. War bereits sein Onkel und FDP-Nationalrat Eduard Sulzer-Ziegler (1854–1913) ein erklärter Gegner der Gewerkschaften gewesen, hielt Hans Sulzer in einer Rede vor der Schweizerischen Handelskammer noch 1935 fest, er wolle sich „im rücksichtslosesten Kampf gegen den Marxismus“ (S. 97) engagieren. Über dieses Spannungsverhältnis zwischen einer stark wirtschaftsliberal geprägten Weltsicht aus der Zeit der Belle Epoque, dem Machtverlust des Freisinns nach der Einführung des Proporzwahlrechts 1919 und dem zumindest partiellen Aufstieg des Keynesianismus seit den 1930er-Jahren hätte man gerne noch mehr erfahren. Schade ist auch, dass in den einzelnen Beiträgen kaum eine Einordnung in den (unternehmenshistorischen) Forschungsstand oder eine – zumindest kurze – Diskussion der Quellenlage vorgenommen wird und dass am Ende des Bandes ein Quellen- und Literaturverzeichnis fehlt. Insgesamt ermöglicht der sorgfältig gestaltete Band aber einen erhellenden Einblick in eine ausgesprochen einflussreiche Unternehmerfamilie und ein sehr erfolgreiches Familienunternehmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Anmerkungen:
1 Vgl. dazu André Mach u.a., Schweizer Wirtschaftseliten 1910–2010, Baden 2017, S. 13.
2 Ebd., S. 36.