S. Fink u.a. (Hrsg.): Groß-Berlin – ein großer Wurf?

Cover
Titel
Groß-Berlin – ein großer Wurf?. Ursachen, Akteure und Wechselwirkungen von Metropolbildungen um 1920


Herausgeber
Fink, Stefanie; Gaida, Oliver; Olenik, Alexander; Schoenmakers, Christine
Reihe
Berlin-Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin
Erschienen
Berlin 2024: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Ludwig, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Seit Jahren wird in Berlin eine Verwaltungsreform angekündigt, die das vielzitierte „Behördenpingpong“ beenden und das Handeln von Landesregierung und Bezirken besser strukturieren soll. Gerade erst ist, wieder einmal, ein Vorschlag dazu politisch gescheitert. Was gegenüber der Öffentlichkeit als Gestrüpp gewachsener Verwaltungsegoismen dargestellt wird, ist ein strukturelles Problem, das aus dem Groß-Berlin-Gesetz von 1920 resultiert und damals als politischer Kompromiss von zentralistischen und partikularen Interessen ausgehandelt wurde, um eine Mehrheit im preußischen Parlament zu erreichen. Auf diesen Ursprung aktueller Dysfunktionalität geht der Sammelband „Groß-Berlin – ein großer Wurf?“ ein, der auf einer Tagung der Historischen Kommission zu Berlin aus dem Jahr 2020 beruht, ohne jedoch die aktuelle Lage selbst zum Thema zu machen. Nachdem das damalige Stadtjubiläum unter den Bedingungen der Corona-Pandemie praktisch resonanzlos blieb1, ist mit diesem Sammelband nun Gelegenheit gegeben, die gegenwärtige Debatte mit einer historischen Tiefendimension zu bereichern.

Die zwölf Beiträge gliedern sich in vier Kapitel, die die Vorgeschichte, Schlüsselfiguren, Alltagserfahrungen sowie Verflechtungen und Vergleiche adressieren. Zur Vorgeschichte der Bildung von Groß-Berlin gehört der bereits vielfach beleuchtete Städtebauwettbewerb von 1910, der hier von Markus Tubbesing als „Initialzündung“ bezeichnet wird und im Ergebnis 1912 zur Bildung eines Zweckverbandes führte. Dieser sollte in Sachen Grünflächen, Verkehrsfragen und Bauordnungen koordinierte Regelungen zwischen Berlin und der umgebenden Region finden. Lennart Bonenkamp nimmt anschließend einen Vergleich mit den Debatten um die Ordnung von Greater London vor, die aus einem „Tory-Konservatismus“ geboren sei und die Vorstellungen der preußischen Ministerialbürokratie in der Groß-Berlin-Frage beeinflusst habe.

Das Folgekapitel richtet den Blick auf Schlüsselfiguren und Netzwerke und verbindet Bekanntes mit bislang eher Vernachlässigtem. Zu den bekannten Figuren bei der Bildung und Ausformung von Groß-Berlin gehören unzweifelhaft der Schöneberger Oberbürgermeister Alexander Dominicus, dessen Kompromisssuche die gesetzliche Mehrheit für die Bildung von Groß-Berlin sicherte, und Gustav Böß, der erste Oberbürgermeister der neuen Stadtgemeinde. Volker Stalmann und Thomas Flemming würdigen sie hier als Architekten der kommunalen Neuordnung und inhaltlichen Ausgestaltung. Weniger bekannt ist der letzte Oberbürgermeister des alten Berlin, Adolf Wermuth, dessen Rolle bei der Bildung von Groß-Berlin Andreas Splanemann diskutiert. Wermuth repräsentierte den juristisch ausgebildeten Verwaltungsfachmann, der, 1912 von den bürgerlichen Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung gewählt, den vielfachen Krisen der kommenden Jahre verwaltungstechnisch zu begegnen suchte, ohne sich politisch zu exponieren. Die von ihm für Berlin und die Umlandgemeinden initiierte „Brotkarte“, das heißt die Organisation der Lebensmittelversorgung im Krieg, kann als Groß-Berlin-Bildung „von unten“ gelesen werden – ohne dass dies im Beitrag von Splanemann näher ausgeführt würde.

Ebenfalls in die Zeit vor 1920 reicht der Beitrag von Stefanie Fink zurück, die mit dem Architekturprofessor Theodor Goecke einen einflussreichen Verfechter des sozialen Wohnungsbaus in den Blick rückt und damit auf die Ursprünge dieser für das Neue Berlin zentralen sozialen Aufgabe hinweist, die Goecke bereits Ende des 19. Jahrhunderts als politische Aufgabe formuliert hatte. Es wäre insgesamt aufschlussreich, wenn das späte 19. Jahrhundert stärker als bisher als eine Art Inkubationszeit der 1920 gebildeten Stadtgemeinde gelesen würde.

Im Kapitel zu Alltagserfahrungen, und damit unter einer anderen Perspektive als zuvor Stefanie Fink, befasst sich Renate Amann erneut mit der so außerordentlich dringlichen Wohnungsfrage. Sie untersucht die Wohnungs(bau-)genossenschaften als „gemeinschaftsorientierte, solidarische und demokratische Lebensformen“. Genossenschaften waren neben der Stadtgemeinde und den Gewerkschaften der maßgebliche Motor des Wohnungsbaus in Berlin nach 1924. Amanns Interesse gilt jedoch den dort entwickelten Formen von Vergemeinschaftung, eine soziale Struktur, die ebenso wie die politische, 1933 zerstört wurde. Die Stadtgemeinde als Akteur steht hingegen im Zentrum von Oliver Gaidas Untersuchung über die Jugendpflege. Darin unterstreicht er die aktive Rolle der Verwaltungen bei der Implementierung zeitbedingt drängender Lösungen, die vor 1918 noch weitgehend privaten sozialen Initiativen überlassen geblieben war. Beide Texte verdeutlichen die soziale Dimension des Neuen Berlin, während Konstantin Mantheys Aufsatz über die katholische Gemeindebildung eher auf die kulturelle Öffnung nach Ende des preußischen (evangelischen) Staatskirchenregimes verweist.

Das abschließende Kapitel des Bandes kontextualisiert die Vorstellungen über ein neu zu bildendes Groß-Berlin mit parallelen Debatten, wie sie auch andernorts um die Organisation des urbanisierten Raums geführt wurden. So beschreibt Cosima Goetz die Herausbildung der Stadtplanung als einen transnationalen Professionalisierungsprozess, und Ortwin Pelc untersucht die Entwicklung der Vorstellungen eines Groß-Hamburg, das schließlich 1937 durch den zentralistischen Eingriff der nationalsozialistischen Regierung realisiert wurde. Michael C. Bienert schaut in seinem Beitrag nach New York, das als integrierte städtische Körperschaft bereits Ende des 19. Jahrhunderts gebildet wurde. Gerade letzteres Beispiel einer politik- und verwaltungstechnischen Metropolenbildung, das, wie Bienert darlegt, in Berlin aufmerksam rezipiert wurde, verdeutlicht die internationale Dimension von Urbanisierung und Städtewachstum und die Mechanismen einer Entwicklungssteuerung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts virulent und letztlich experimentell entwickelt wurden.

Die Beiträge des Bandes zeigen damit gemeinsame Herausforderungen, ortsspezifische Besonderheiten und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen im Prozess der Metropolenbildung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf. Vor dem Hintergrund der älteren Forschungsliteratur2 sowie den stadtplanerischen Untersuchungen, die anlässlich des 100-jährigen Jubiläums detailliert vorgelegt wurden, verweist der vorliegende Band in einigen Beiträgen vor allem auf Fragen der inneren Urbanisierung und mithin auf die Frage nach einer Ermöglichungsstruktur, die Groß-Berlin nach dem Ende der (preußischen) Monarchie und ihres herrschaftssichernden Kommunalsystems bereitstellte. Manche der Beiträge betonen, wie die Reformagenda des späten Kaiserreichs unter veränderten politischen Bedingungen in der Fläche ausgeweitet werden konnte und letztlich so etwas wie eine „soziale Stadt“ entstehen konnte. Dabei wären die soziale Heterogenität der Berliner Agglomeration und die damit verbundenen unterschiedlichen Kommunalpolitiken als eigener Fokus wünschenswert gewesen. Andere Beiträge wiederum zeigen, dass die Entwicklung von einer diversen und zunehmend urbanisierten Städteagglomeration zur Vorstellung einer steuerbaren Entwicklung ein internationales Phänomen war. Allein die von Michael C. Bienert vorgenommene Analyse der internationalen kommunalwissenschaftlichen Literatur in den Berliner Verwaltungsbüchereien verweist auf die kulturelle Komplexität des nicht allein auf ein Gesetz und seine politischen Verhandlungen hin reduzierbaren Ereignisses.

Solcherart übergreifende Fragen werden in einzelnen, jedoch nicht allen Beiträgen adressiert. Die Herausgeber:innen hätten diese Perspektiven womöglich stärker bündeln können, insbesondere was die Aktualität der Groß-Berlin-Bildung 1920 angeht. Auch wäre es wünschenswert gewesen, die in den vergangenen Jahrzehnten entstandene umfangreiche Literatur zu resümieren und einzuordnen. Auf dieser Grundlage hätten sich Redundanzen vermeiden, vor allem aber neu erschlossene Quellen und veränderte Forschungsfragen klarer herausstellen lassen. Die Lektüre der Beiträge ist gleichwohl lohnend, weil mögliche Themen vertiefender historischer Forschung gleichsam unter der Hand mitgeliefert werden und zugleich die Aktualität von Problemfeldern, die vor 100 Jahren angegangen wurden, offensichtlich wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Harald Bodenschatz u.a. (Hrsg.), 100 Jahre Gross-Berlin, 5 Bde., Berlin 2017–2022; Andreas Ludwig / Gernot Schaulinski, Metropole Berlin. Traum und Realität 1920/2020, Berlin 2020; Ausstellung „Chaos & Aufbruch. 100 Jahre Groß-Berlin“ im Stadtmuseum Berlin, 2020/21.
2 Vgl. u.a. Otto Büsch, Entstehung und Leistung der ersten Berliner Demokratie. Das neue Groß-Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik, in: ders. / Wolfgang Haus (Hrsg.), Berlin als Hauptstadt der Berliner Demokratie 1919–1933, Berlin 1987, S. 5–156; Felix Escher, Berlin und sein Umland. Zur Genese der Berliner Stadtlandschaft bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1985.

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