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Titel
Blicke auf die koloniale Schweiz. Ein Forschungsbericht


Autor(en)
Kreis, Georg
Erschienen
Zürich 2023: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Konrad J. Kuhn, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Geschichtswissenschaftliche Forschung und gesellschaftliche Debatten sind bekanntermaßen eng verknüpft. Die „koloniale Schweiz“, geprägt durch den vielzitierten „Kolonialismus ohne Kolonien“, ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie sich Fragen vor dem Hintergrund einer sich verändernden „gesellschaftlichen Grundeinstellung“ (S. 11) immer wieder neu stellen. Georg Kreis rekonstruiert in seiner Studie im bilanzierend-systematisierenden Modus die diesbezügliche Entwicklung, die relevante Literatur und den aktuellen Wissensstand entlang von zehn Kapiteln mit jeweils durchaus kleinteiliger Präzision. Dabei bezieht er sich oft auf ältere Texte und differenziert zugleich aktuell relevante Berührungspunkte von Kolonialismus und dem Raum des heutigen Staates Schweiz.

Indem Kreis danach fragt, „wann und warum und zu welchem Zweck es in der geschichtswissenschaftlichen Literatur zur vermehrten Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit gekommen ist“ (S. 16), nimmt er jene transnationale Konjunktur seit den 2010er-Jahren in den Blick, die den Fokus neu auf globale Verflechtungen richtet. Verbunden sei dies, so argumentiert der Autor, mit einem generellen Wandel der Erinnerungskultur seit den 1990er-Jahren und der damit einhergehenden Hinwendung zu Opfergeschichten.

Das erste Kapitel zielt darauf, jene „politischen Gegebenheiten und Intentionen“ (S. 18) zu identifizieren, die zu einer wissenschaftlichen Neubewertung von Kolonialismus und zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber Rassismus geführt haben. Das zweite und ausführlichste Kapitel thematisiert dann die seit den 1960er-Jahren erschienenen Arbeiten, die koloniale Bezüge der Schweiz durchaus angesprochen haben, dafür aber insgesamt wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfuhren. Greifbar wird einerseits eine wirtschaftshistorische und sich letztlich globalgeschichtlich ausweitende Fokussierung, sowie andererseits die Bearbeitung der eher kulturhistorischen Frage nach der Verflochtenheit der Schweiz mit der kolonialen Welt. Indem der Autor die Publikationslandschaft mittels kurzer Inhaltsangaben und Einordnungen chronologisch durchschreitet, kritisiert er zugleich auch die Proklamation eines unerforschten Themenfelds als wissenschaftspolitische Strategie. Mit dem „schweizerischen Ideenkolonialismus“ befasst sich das zwar historisch weiter zurückgreifende, aber gleichwohl sehr knappe Folgekapitel, das nach ideologischen, philosophischen und religiösen Legitimierungen fragt.

Im vierten Teil stehen die Wirtschaftsbeziehungen und damit die Frage nach dem Zusammenhang von Reichtum und Kolonialismus im Zentrum, bevor dann die Siedlungskolonisation sowie Auswanderungsbewegungen nach „Übersee“ und die sogenannten „Auslandschweizer“ interessieren. Das sechste Kapitel widmet sich mit der Frage nach der schweizerischen Beteiligung an Sklaverei jenem Zugang, der früh daran mitwirkte, das Thema der „kolonialen Schweiz“ gesellschaftlich wie politisch debattier- und verstehbar werden zu lassen. Leider sind die Ausführungen im siebten Teil zu stark auf die Missionstätigkeit der zweifellos wichtigen, aber eben nicht einzigen Basler Mission beschränkt, während etwa die damals im katholischen Milieu der Innerschweiz tiefgreifend wirkenden Missionsgesellschaften nicht angesprochen werden. Das Kapitel zu den Solddiensten wiederum zeigt eindrücklich, welche neuen Fragen sich an ein klassisches Thema der schweizerischen Historiografie stellen lassen, wenn postkolonial informierte Perspektiven eingebracht werden. Der neunte Abschnitt nimmt die offizielle Schweiz als kolonialen Akteur in den Blick. Das letzte Kapitel zeichnet unter der Perspektive der „postkolonial sensibilisierten Schweiz“ verschiedene rezente geschichtspolitische Debatten nach, wobei deutlich wird, dass diesbezüglich vieles tiefgreifend in Bewegung geraten ist, gerade auch durch sich neu artikulierende Akteur:innen, die vehement eine Auseinandersetzung mit lange undiskutierten Zeugnissen der „Rückwirkungen des Kolonialismus auf die Schweiz“ einfordern, etwa im Bereich von Häuser- und Straßennamen, Bezeichnungen von Süßspeisen, Blicktraditionen in Filmen oder im Kontext von Provenienzforschung und Restitutionsprozessen.

Es ist das Verdienst der Studie, daran zu erinnern, dass in der schweizerischen Geschichtswissenschaft (unter Einbezug mehrerer Landessprachen) eine kritische Beschäftigung mit kolonialen Fragen bereits vor dem aktuellen Boom existierte. So ist es denn auch überaus lohnend, den Verlauf der Debatten und Themen dieser „Aufmerksamkeitskonjunktur“ nachzuverfolgen, was durch die bewusste Großschreibung der vorgestellten Autor:innen erleichtert wird, auch wenn die Auswahl nicht in jedem Fall nachvollziehbar ist.1 Eine Stärke liegt zudem in der immer wieder durchscheinenden Parallelsetzung von Themen der „kolonialen Schweiz“ mit dem Umgang mit der NS-Vergangenheit und den Beziehungen der Schweiz zum Apartheid-Regime. Der Einbezug des engen und machtvollen Verhältnisses Schweiz – Südafrika hätte allerdings nicht nur aufgrund des Wissensstandes des als Leiter des 2005 abgeschlossenen Nationalen Forschungsprogramms "Beziehungen Schweiz – Südafrika" wirkenden Autors durchaus noch expliziter gemacht werden können.2 Es wäre nämlich insgesamt wertvoll gewesen, an diesem Beispiel über grundsätzliche Fragen von „Komplizenschaft“, sich daraus ergebender Verantwortung und nicht zuletzt über ein bis heute wirksames Verschweigen nachzudenken.

Das Buch ist leider zu wenig strukturiert, stellenweise gar redundant und bleibt zudem immer wieder im Ungenauen. Das zeigt sich auch an einigen sprachlichen und formalen Unsorgfältigkeiten, etwa in verschiedenen Tippfehlern, an Grafiken ohne Legenden oder undatierten Verweisen auf Wikipedia-Einträge. Auch sind manche Argumente unausgeführt und die bisweilen latente Kritik an postkolonialen Debatten ist oft zu wenig theoretisch unterfüttert (worauf bereits Claire Louise Blaser in ihrer klugen Besprechung in Didactica Historica hingewiesen hat3). Letztlich bleibt damit das die Studie durchziehende Unbehagen gegenüber einem die kulturelle Dimension der wechselseitigen Verflechtungen thematisierenden und diskursiv-kritisch wie theoriegeleitet arbeitenden Postkolonialismus durchweg diffus.

Insgesamt verharrt das Buch im etwas sprunghaften Zugang eines additiven „Forschungsstandes“, der unausgesprochen davon ausgeht, Themen gelte es zu entdecken und dann auf- und damit irgendwie immer auch etwas wegzuarbeiten. Das ist selbstredend kein Argument gegen den dargestellten Inhalt des offen als solchen benannten „Forschungsberichts“, sondern berührt vielmehr die sich bei der Lektüre einstellende Frage nach den Beweggründen des Autors, das vorliegende Buch zu schreiben. Geht es um einen Bedarf nach einer Bilanz der Debatte, um eine breitere Popularisierung der bisher gewonnenen Erkenntnisse zu den „schweizerischen Kolonialbeziehungen“ oder geht es auch um eine persönliche Selbstbefragung? Hinweise in Richtung Letzteres liefert das interessante Nachwort, in dem Georg Kreis seine autobiografischen Bezüge zur Thematik offenlegt. Dabei skizziert der Autor gleichsam im Vorbeigehen ein bemerkenswert ehrliches Porträt einer Generation, die nicht nur ganz selbstverständlich in einem eurozentrischen Überlegenheitsgestus sozialisiert wurde, sondern in ihrer (hier: akademischen) Berufsbiografie auch vielfältige Gelegenheiten erhielt, neue Perspektiven zu entwickeln – nicht zuletzt im Kontext geschichtspolitischer Debatten. Solche reflexiven Selbstbefragungen verweisen auf die nach wie vor viel zu selten thematisierten Wirkweisen „kolonialen Denkens“ gerade in der Schweiz. Erst kürzlich hat der Schriftsteller Martin R. Dean anhand seiner eigenen Biografie gezeigt, welche komplexen Geschichten jenseits von hegemonialen und eben meist „weißen“ Erzählungen in den Blick kommen könnten.4

Die aktuell feststellbare breite und öffentliche Auseinandersetzung mit einer neu und global gedachten „Schweizergeschichte“, wie sie sich gegenwärtig in verschiedenen Zusammenhängen entwickelt, ist jedenfalls tiefgreifend. So bleibt es auch das Verdienst dieser zügig geschriebenen Studie, an die für gesellschaftliche Veränderungen notwendige enge Verknüpfung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft nicht nur zu erinnern, sondern auch die für vielfältige Formate der Wissensvermittlung (etwa in neuen Stadtrundgängen oder aktuellen Museumsausstellungen) notwendige Literatur gebündelt vorzulegen. Dahinter kann nun definitiv niemand mehr zurück.

Anmerkungen:
1 Wobei auch der schreibende Rezensent Erwähnung findet, wie im Sinne der Transparenz offengelegt werden soll.
2 Vgl. dazu Georg Kreis, Die Schweiz und Südafrika 1948–1994. Schlussbericht des im Auftrag des Bundesrates durchgeführten NFP 42+, Bern 2005.
3 Claire Louise Blaser, Rezension zu: Georg Kreis, Blicke auf die koloniale Schweiz. Ein Forschungsbericht, in: Didactica Historica 10 (2024), S. 213–214, https://www.alphil.com/pdf/032_Blaser.pdf (10.12.2024).
4 Martin R. Dean, Tabak und Schokolade, Zürich 2024. Vgl. auch ders., Mein Geschichtslehrer und ich waren der Meinung, dass die Schweiz nichts zum Kolonialismus beigetragen hat, in: Das Magazin, 27.10.2023.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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