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Titel
Sexismus im Betrieb. Geschlecht und Herrschaft in der DDR-Industrie


Autor(en)
Voigtländer, Henrike
Reihe
Kommunismus und Gesellschaft
Erschienen
Berlin 2023: Ch.Links Verlag
Anzahl Seiten
471 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Eger, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Jährlich wiederkehrend zum Internationalen Frauentag am 8. März bemüht sich die deutsche Medienlandschaft um wissenschaftliche Stellungnahmen zum Stand der Gleichberechtigung.1 Bezugnehmend auf das Erbe der DDR verkürzt sich die politisch aufgeladene Diskussion allzu häufig auf die Frage, ob ehemalige DDR-Bürgerinnen emanzipierter waren als westdeutsche Frauen. Bei der Bejahung wird der Zusammenhang zwischen der frühen ökonomischen Unabhängigkeit der lohnarbeitenden Frauen in der DDR mit einer dort gegebenen sexuellen Freizügigkeit hergestellt. Demnach habe es in der DDR unter anderem Sexismus als Ausdruck patriarchaler Geschlechterverhältnisse nicht gegeben.2 Mehrheitlich Forscherinnen bemühen sich seit den 1990er-Jahren in Untersuchungen zu Frauen(leit)bildern, -politik, -erwerbstätigkeit3 und -bewegungen4 sowie Sexualität5 in der DDR, diese Verkürzung auszudifferenzieren und mit erfahrungsgeschichtlichen Auswertungen zu harmonisieren. Allerdings verblieb das Thema Sexismus in der DDR ein Forschungsdesiderat, das nur als Nebenaspekt in bisherigen Publikationen abgehandelt wurde.6

In ihrer Dissertation widmet sich Henrike Voigtländer der „Untersuchung von sexualisierten und vergeschlechtlichen Praktiken und […] wie durch diese Behandlungsweisen patriarchale Herrschaft, kurz Sexismus, in DDR-Industriebetrieben legitimiert und verfestigt“ wurden (S. 10). Spezifischer definiert sie Sexismus als „Instrumentarium der Machtherstellung und -absicherung [...], welches patriarchale Herrschaft durch die Ideologie einer Ungleichheit der Gesellschaft, ihrer Festschreibung und Hierarchisierung legitimiert“ (S. 37). Dessen Wirkweisen will sie möglichst allumfänglich auf der strukturellen, institutionellen, kulturell-epistemischen und individuell-personalen Ebene fokussieren. Dafür wählt Voigtländer einen geschlechter- und sexualitätsgeschichtlichen Ansatz, bei dem sie Frauen und Männer als betriebliche Akteur:innen fasst, die „maßgeblich auf Geschlecht basierte informelle Herrschaftsmechanismen und von Sexualität beeinflusste Praktiken im Betrieb prägten“ (S. 23). Dabei begreift sie den Betrieb als verdichteten Sozialraum der DDR, der als „Produzent von Herrschaft in Bezug auf Geschlecht und Sexualität“ agiert (S. 23f.). Der Zugriff über eine Mikrogeschichte der zwei Großbetriebe VEB Carl Zeiss Jena und VEB Leuna Werke „Walter Ulbricht“ dient hierbei der breiteren gesellschaftlichen Kontextualisierung von Arbeit und Geschlecht in der DDR. Die Auswahl begründet sich an dem beinahe ausgewogenen Geschlechterverhältnis in den Betrieben sowie den aufgefundenen Quellen. Sowohl Eingaben von Beschäftigten sowie Antworten und Notizen zum weiteren Verlauf, wie auch Betriebszeitungen, Spielfilme, Belletristik als auch Protokolle und Berichte der SED-Kreisleitungen, der Frauen- und Konfliktkommissionen, des Betriebsschutzes sowie des Ministeriums für Staatssicherheit finden Eingang in die Analyse. Ergänzend nutzt Voigtländer Quellen aus dem Wolfener VEB Fotochemisches Kombinat, dem Glühlampenwerk Kombinat VEB NARVA „Rosa Luxemburg“ und dem Zeitungsvertriebsamt in Ost-Berlin. Ebenso führte Voigtländer Interviews mit ehemaligen Beschäftigten. Als Betrachtungszeitraum wählt sie das Jahr 1965 (Einführung des Familiengesetzbuches) bis zum Ende des Bestehens der DDR 1990.

Ihre Arbeit gliedert sie nicht chronologisch, sondern systematisch in vier Hauptkapitel. Das erste beleuchtet den systemspezifischen Rahmen in Form von offiziellen Frauenförderungsmaßnahmen und deren Rezeption im Betriebsalltag sowie der Bedeutung von Netzwerken und den Ausschlussmechanismen, die Frauen von höchsten Ämtern und Positionen größtenteils exkludierten. Im anschließenden Hauptkapitel werden Betriebe als Räume untersucht, in denen Beschäftigte auf verschiedene Art und Weise sexuelle Beziehungen auslebten. Sie fragt auch danach, warum und wie Betriebs- und Parteileitungen unterschiedliche Paarbeziehungen zu steuern versuchten. Das anschließende Kapitel beleuchtet sexualisierte Gewalt und den Umgang damit in DDR-Industriebetrieben. Im letzten Hauptkapitel widmet sich Voigtländer der Frage, wie Sexualität im Betriebsalltag die Funktion einer medialen und kulturellen Unterhaltung einnahm. Geschlossen wird die Untersuchung von einem Fazit.

Die große Stärke von Voigtländers Untersuchung sind die verschiedenen Tiefenbohrungen und ausführlichen Fallrekonstruktionen. Stets bleiben ihre Schlussfolgerungen nachvollziehbar und ermöglichen Voigtländer, umfassende Aussagen zum Thema Sexismus in DDR-Industriebetrieben zu tätigen. Dies beginnt damit, dass sie ihr Fazit mit der Aussage eröffnet: „Gleichberechtigung existierte in Industriebetrieben der DDR nicht einfach“ (S. 415), sondern dass an der Implementierung von Frauenförderungsmaßnahmen fortwährend gearbeitet und diese gegen Widerstände durchgesetzt werden mussten. Problematisch blieb dabei das von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich ausgeprägte Engagement der jeweiligen General- und Betriebsleitungen sowie der Frauenkommissionen, die von der SED delegierten frauenpolitischen Aufgaben gegenüber einer antagonistischen, traditionell männlich geprägten Belegschaft einzufordern. Zwar war es Betriebsangehörigen möglich, sich auf das Postulat der Gleichberechtigung zu berufen, dennoch waren vor allem Frauen immer wieder mit vielfältigen Formen von Sexismus im Betriebsalltag konfrontiert. Sei es, dass Kolleg:innen sie anfeindeten oder ihnen die Arbeit erschwerten, sie nicht für Leitungspositionen in Erwägung gezogen wurden oder sie sogar sexualisierte Gewalt erfuhren.

Besonders hervorzuheben ist Voigtländers Bemühen, darzustellen, dass die Ausübung patriarchaler Gewalt sich nicht nur auf betriebliche oder parteiliche Akteure beschränkte. „Auch das soziale Umfeld, also die Kolleg:innen oder Genoss:innen, prägten Herrschaftsmechanismen, unter denen Frauen, aber auch solche Personengruppen leiden konnten, die nicht dem Ideal der weißen heteronormativen Mehrheitsgesellschaft entsprachen.“ (S. 415) Hinter dieser Aussage verbirgt sich ein weiteres Verdienst der Analyse von Voigtländer: die Differenzkategorien Geschlecht und Sexualität nicht ausschließlich, sondern im Zusammenspiel mit Heteronormativität und Rassismus zu denken.

Insgesamt gelingt Voigtländer die Zusammenführung zweier bis dato häufig getrennt voneinander verhandelter Forschungsfelder: die Frauen(arbeits)politik und -erwerbstätigkeit sowie Sexualität in der DDR. Ebenso bietet ihr Ansatz, die DDR nicht als defizitäres „Anderes“ zur BRD zu konzipieren, sondern stärker im Kontext anderer sozialistischer und postsozialistischer Staaten in Mittel- und Osteuropa zu setzen, anschlussfähige Ergebnisse. Voigtländers konzises Fazit – „Die Frauenförderungspolitik der DDR machte also die Gesellschaft und allen voran die Männer nicht weniger sexistisch.“ (S. 415) – bietet Anknüpfungspunkte für künftige Untersuchungen zum Thema Sexismus in der DDR.

Anmerkungen:
1 Julia Heundorf, Frauen und Männer. Fünf Mythen über Gleichberechtigung, in: mdr, https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/gendern-frauenquote-sexuelle-belaestigung-mythen-100.html (30.04.2024).
2 So kritisiert es Jessica Bock, Emanzipierter, selbstbewusster, freizügiger oder: Die ewig Andere? Betrachtungen zur Sexualität und Sexualisierung der „Ostfrau“, in: Gerbergasse 18 (2020) 9, S. 27–32, hier S. 28.
3 Gunilla-Friederike Budde, Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Göttingen 2003; Grit Bühler, Mythos Gleichberechtigung in der DDR. Politische Partizipation von Frauen am Beispiel des Demokratischen Frauenbunds Deutschland, Frankfurt am Main 1997; Anna Kaminsky, Frauen in der DDR, 2., erw. Aufl., Berlin 2020.
4 Jessica Bock, Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980–2000 (= Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands, Bd. 6), Halle (Saale) 2020.
5 Jennifer Evans, Decriminalization, Seduction, and "Unnatural Desire" in East Germany, in: Feminist Studies 36 (2010) 3, S. 553–577; Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005; Josie McLellan, Love in the Time of Communism. Intimacy and Sexuality in the GDR, Cambridge 2011.
6 Eine Überblicksdarstellung bietet Susan Arndt, Sexismus. Geschichte einer Unterdrückung, München 2020.

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