B. Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos

Titel
Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen


Autor(en)
Ortmeyer, Benjamin
Erschienen
Weinheim 2009: Beltz Verlag
Anzahl Seiten
606 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Matthias Blum, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin

Die anzuzeigende Publikation entspricht der an der Johann Wolfgang Goethe-Universität angenommenen Habilitationsschrift „Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“ des Autors und geht auf ein entsprechendes Forschungsprojekt an der Frankfurter Universität zurück (2006-2007). Dieses Projekt, das den Titel „ad fontes Dokumente 1933-1945“ trägt, beschäftigt sich mit Eduard Sprangers, Erich Wenigers, Herman Nohls und Peter Petersens Schriften und Artikeln in der NS-Zeit und dokumentiert deren entsprechende Publikationen in einer vierbändigen Ausgabe. Die Inhaltsverzeichnisse dieser von Ortmeyer herausgegebenen „Dokumentationen ad fontes 1933-45“ zu den jeweils vier genannten Erziehungswissenschaftlern sind der Publikation als Anhang hinzugefügt (S. 591ff.).

Intention der vorliegenden Arbeit ist es, die historiographische Auseinandersetzung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin mit der eigenen Geschichte während der NS-Zeit fortzuführen. Der Autor moniert vor dem Hintergrund der „in den letzten zwanzig Jahren über die Einordnung und Bewertung der wissenschaftlichen Tätigkeit führender Köpfe der Geisteswissenschaften in der Zeit des Nationalsozialismus“ geführten Debatte „das Fehlen allgemein zugänglicher Dokumente ihrer Tätigkeit aus der NS-Zeit“ (S. 5f.). Diese Forschungslücke möchte Ortmeyer schließen, indem er die Publikationen jener Erziehungswissenschaftler vorstellt, „die personell für eine Kontinuität zwischen der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der Bundesrepublik“ stehen und sowohl die geisteswissenschaftliche Pädagogik als auch die Reformpädagogik repräsentieren. Entsprechend rückt der Autor deshalb die Auseinandersetzung mit den oben genannten Wissenschaftlern in den Fokus seiner Arbeit und fragt nach Kontinuität und Diskontinuität ihrer Positionen, insbesondere hält er die Klärung der Frage nach einem inneren Zusammenhang zwischen Biographie und Werkanalyse für geboten. Als zentrale Aufgabe seiner Studie stellt Ortmeyer heraus, „auf der Quellenbasis der möglichst lückenlos erschlossenen Publikationen aus der NS-Zeit festzuhalten, auf welcher Grundlage und in welcher Hinsicht es inhaltlich zu Übereinstimmungen mit dem NS-Regime gekommen ist“ (S. 13).

Ortmeyer stellt mit Spranger, Nohl, Weniger und Petersen vier namenhafte Erziehungswissenschaftler ins Zentrum seiner Auseinandersetzung, die anders als etwa der NS-Ideologe und Pädagoge Ernst Krieck nicht in der NSDAP organisiert waren und auch nicht wie Alfred Baeumler an exponierter Stelle der NS-Pädagogik standen, sondern vielmehr als repräsentativ für die Spannbreite deutscher Pädagogik gelten können. Eduard Spranger (1882-1963) ist einer der prominentesten Vertreter der sogenannten geisteswissenschaftlichen Pädagogik, auf Herman Nohl (1879-1960) geht die Historiographie der pädagogischen Bewegung („Deutsche Bewegung“) zurück, Peter Petersen (1884-1952) steht für praktische Schulreformen („Kleiner Jena-Plan“) und Erich Weniger (1894-1961) gilt als Experte für Fragen der Didaktik, insbesondere der Geschichtsdidaktik.

Die Arbeit umfasst neben einer instruktiven Einleitung und einem ausführlichen Literaturverzeichnis – mit einem eigenen Überblick über die Schriften der vier Erziehungswissenschaftler von Februar 1933 bis Mai 1945 – drei große Teile; Teil A: Zur Problematik der vier Erziehungswissenschaftler, Teil B: Grundpositionen und Elemente der NS-Ideologie in den Publikationen der vier Erziehungswissenschaftler in der Zeitspanne 1933-1945, Teil C: Die Stellungnahmen der vier Erziehungswissenschaftler zur NS-Zeit nach 1945. Der Autor zeigt im Teil A anhand von vier Literaturberichten den jeweiligen Forschungsstand zu den Erziehungswissenschaftlern auf und schließt daran eine Einführung in ihre theoretischen Grundpositionen und Werke an. Indem er ferner auf zeitgenössische Kritiken am vorherrschenden Zeitgeist der Pädagogik in der Weimarer Republik hinweist und die grundsätzliche Frage einer zwangsläufigen Involvierung von Wissenschaftlern und Philosophen im NS-Staat stellt, schafft Ortmeyer einen Diskursrahmen für die Analyse der entsprechenden Veröffentlichungen der vier Erziehungswissenschaftler sowie ihres Engagements und öffentlichen Auftretens. Im Teil B stellt der Autor nicht nur ihre Publikationen in der NS-Zeit im Einzelnen vor, sondern bietet ebenfalls – gleichsam kontrastierend – sechs zeitgenössische Kritiken von Fritz Helling, Ludwig Marcuse, Isaac Leon Kandel, Albert Schreiner, Paul Oestreich und Thomas Mann. Mit seinem den Teil B abschließenden Kapitel „Zur inneren Logik der in der NS-Zeit vertretenen Positionen“, in dem Ortmeyer auf die notwendige Unterscheidung zwischen „dem bloßen Gebrauch von Begriffen des NS-Jargon und der direkten, aktiven Unterstützung von politischen Aktivitäten des NS-Staates zu bestimmten Zeitpunkten“ durch die vier Erziehungswissenschaftler hinweist (S. 323), bietet er einen weiteren Diskursrahmen für ihre Einordnung sowie für die Auseinandersetzung nach 1945. Bevor der Autor in Teil C die Positionen der vier Erziehungswissenschaftler zum NS-System nach 1945 vorstellt und diskutiert, gibt er zunächst einen Überblick über Entnazifizierung und Reeducation.

Im Ergebnis seiner Studie verdeutlicht Ortmeyer die „objektive Funktion des Wirkens der vier Erziehungswissenschaftler in der Zeitspanne von 1932/33 bis 1945“ dadurch, dass er die potentielle Sichtweise der Verfolgten des NS-Regimes auf diese vier Personen in den Fokus rückt: „Die Tatsache, dass die vier Erziehungswissenschaftler in unterschiedlichem Ausmaße Adolf Hitler, die SA und die HJ propagierten, Befürworter der NS-Zwangssterilisation waren, teils sogar die Volksverhetzung gegen Juden betrieben – all dies sind Fakten, die sich nicht als Bagatellen bezeichnen lassen. Viele vom NS-Regime vertriebene Emigranten und viele der Verfolgten in Deutschland wären, wenn sie solche Tiraden hätten lesen können, mit gutem Recht und wissenschaftlich begründet zu der Schlussfolgerung gekommen: Diese ‚Mandarine‘ schweigen nicht nur zu dieser Art von ‚deutscher Geistigkeit‘, sie machen auf ihre Weise bei der NS-Bewegung mit, sie wollen den ‚Nationalsozialismus‘ verbessern, sie wollen den Gesamterfolg des NS-Staats und machen dafür fundierte pädagogische Hilfsangebote. Menschen wie diese vier Erziehungswissenschaftler waren durch ihre Publikationen Teil des mörderischen NS-Systems.“ (S. 315) Entsprechend weist Ortmeyer den Hinweis, dass etwa Petersen nur aus politischen Gründen Loblieder auf Adolf Hitler verfasst hätte, zurück und zeigt stattdessen, dass dessen „Führerprinzip“ als ein Kernpunkt seiner Pädagogik durchaus Übereinstimmung mit dem NS-Führerprinzip gezeigt hätte (S. 296). Und die These von der sogenannten „Zwangsläufigkeit“, dass Begriffe und Positionen aus der Zeit heraus für Spranger, Nohl, Weniger und Petersen unvermeidlich gewesen wären, stellt der Autor ebenso entschieden in Abrede. „Spranger war nicht gezwungen, in Himmlers SS-Zeitung ‚Die deutsche Polizei‘ zu veröffentlichen. Es war nicht zwangsläufig, dass Nohl die Eugenetik-Gesetze rechtfertigte und zu begründen versuchte. Es gab keine zwingende Logik, dass Weniger Opfertod und ‚hermeneutischen‘ Gehorsam im NS-Krieg lobpreiste und theoretisch begründete und vom ‚Ausmerzen‘ sprach. Und auch Petersens Loblieder auf Eugenetik und Adolf Hitler als ‚Volkserzieher‘ waren nicht unvermeidlich.“ (S. 444)

Bereits das Forschungsprojekt „ad fontes“ hat mit der Dokumentation der Publikationen der vier Erziehungswissenschaftler deutlich gemacht, dass diese in der NS-Zeit publizierten Schriften weder quantitativ noch qualitativ in ihrer Bedeutung zu marginalisieren sind. Dass der NS-Staat und seine Ideologie durch die vier Erziehungswissenschaftler nicht nur positiv erwähnt wurde, sondern auch kontinuierlich öffentlich Unterstützung fand, wurde jedoch nicht, wie Ortmeyer im letzten Teil aufzeigt, selbstkritisch aufgearbeitet. Selbstkritik, wenn überhaupt, gab es nur in Ansätzen, stattdessen suchte man die NS-Zeit zu relativieren bzw. die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime abzuwehren, indem man die Notwendigkeit der Reeducation infrage stellte.

Ortmeyers Studie besticht durch ihre Anlage und ihren Materialreichtum. So verweist er auf Veröffentlichungen Petersens, die bisher bibliographisch nicht erfasst wurden wie die Aufsätze „Rassische Geschichtsbetrachtung“ (1940) und „Es gibt rassische Hochwertigkeit. Sie verpflichtet!“ (1941) in der Zeitschrift des Reichsarbeitsdienstes „Heimat und Arbeit“ (Abbildung der Auszüge zwischen den Seiten 302 und 303) sowie auf stark antisemtisch gefärbte Rezensionen (1933) in der Zeitschrift „Blut und Boden“. Die quellenkritische Sichtung der Publikationen der vier Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit unter dem Rückgriff auf die Originale zeigt, dass diese im Rahmen einer Wiederauflage etc. nach 1945 mitunter einschlägig verändert wurden, wenn eindeutige Bezüge auf das NS-Regime gegeben waren bzw. ihr Jargon entsprechend eindeutig war. Dies veranschaulicht Ortmeyer unter anderem im zweiten Teil seiner Studie, in dem er die Originalauszüge mit entsprechendem Druckbild bietet. In einer Synopse zu zentralen Veränderungen in der Schrift Herman Nohls „Charakter und Schicksal“ (1938) im Vergleich zur 3. Auflage (1947) verweist er auf eine Fotoseite, auf der im dritten Bild die Hakenkreuzfahnen schwenkende Hitlerjugend zu sehen ist, sowie eine kommentierende Textpassage, die beide dann in der 3. Auflage von 1947 entfernt wurden (Abbildung der Synopse zwischen den Seiten 239 und 240).

Ortmeyer ist eine detailreiche und instruktive historiographische Auseinandersetzung gelungen. Seine Arbeit zeigt mehr als deutlich, dass eine zeithistorische Relativierung und Exkulpation der Veröffentlichungen Sprangers, Nohls, Wenigers und Petersens in der NS-Zeit als Tribut an den zeitgeistbedingten NS-Jargon nicht mehr haltbar ist, sondern vielmehr jeglicher Grundlage entbehrt und damit als Apologie zu entlarven ist. Der vorliegenden Publikation gebührt ebenso wie den „ad-fontes-Dokumentationen“ ein fester Platz in der Geschichtsforschung der Pädagogik.

Dass die historiographische Auseinandersetzung um den bekannten Reformpädagogen Peter Petersen, dessen Jenaplan-Pädagogik auch heutzutage ein hoher Stellenwert für eine innovative Schulpraxis zugeschrieben wird, immer schon kontrovers verlaufen ist, zeigt die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Petersen und seinem Werk in Deutschland bis heute (vgl. die Arbeiten von Hein Retter, Tobias Rülcker, Torsten Schwan und andere). Angeregt durch die Arbeit Ortmeyers hat der kritische Diskurs um den Jenaer Reformpädagogen nun erneut Eingang in die öffentlichen Debatten gefunden, nicht zuletzt wird die Umbenennung von Peter-Petersen-Schulen und -Plätzen diskutiert (vgl. Frankfurter Rundschau online vom 06.07.2009; Thüringische Landeszeitung vom 12.09.2009, S. 4; Spiegel online vom 05.10.2009; die tageszeitung vom 05.10.2009, S. 15, in der Ortmeyer selbst einen Artikel verfasst hat). Was Ortmeyers historiographische Auseinandersetzung für die Rezeption der reformpädagogischen Überlegungen und Unterrichtsformen Petersens bedeutet, ob diese dadurch als historisch überholt und politisch diskreditiert einzuschätzen sind, mag jede Leserin und jeder Leser nach der Lektüre des anzuzeigenden Buches selbst entscheiden.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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