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Titel
Gender and Protest. On the Historical and Contemporary Interrelation of Two Social Phenomena


Herausgeber
Jacob, Frank; Mohammed, Jowan A.
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 257 S.
Preis
€ 84,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Helfert, Department of History/Department of Gender Studies, Central European University

Der vorliegende Sammelband versteht die beiden titelgebenden Begriffe sowohl als soziale Phänomene wie auch als „powerful historical determinants“ (S. 1) und macht sich daran, verschiedene vergeschlechtlichte Protestformationen sowie ihre zeitgenössische und historiographische Rezeption zu untersuchen. Die beiden Herausgeber berufen sich in ihrer Einleitung, in der sie das Verhältnis von gender und Protest reflektieren, vor allem auf Theoretiker:innen wie Judith Butler oder Jacques Rancière und rezente Forschungen zu sozialen und revolutionären Bewegungen sowie Transformationsperioden. Die Breite und Aktualität des Forschungsfelds zu gender und Protest zeigt sich nicht nur in der Einleitung, sondern auch in den Beiträgen des Sammelbands, die einen großen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart schlagen und sich geographisch in Europa und Nordamerika verorten.

Die elf chronologisch angeordneten Beiträge untersuchen so unterschiedliche Aspekte wie individuelle Akte von Protest: Frauen in Rollen, die den geschlechtsnormativen Vorstellungen oder ihren sozialen Positionen entgegenstehen und dabei auch die intimen Grenzen von Geschlechter- und Liebesnormen austesteten oder überschritten. Die meisten Beiträge befassen sich aber mit verschiedenen kollektiven Formen von öffentlichem Protest, der Organisierung in Bewegungen bis hin zur Teilnahme an kollektiver Gewalt. Zudem thematisieren einige der Beiträge explizit oder implizit männlich gegenderten Protest. Obwohl nicht in der Einleitung reflektiert, lassen sich drei Cluster an Beiträgen definieren.

Erstens befasst sich eine Reihe an Beiträgen mit der literarischen Darstellung von kriegerischen oder protestierenden Frauen, lotet den symbolischen, narrativen und historischen Gehalt dieser Quellen aus und fordert dazu auf, diese kritisch und oftmals gegen den Strich zu lesen. Sabine Müller bietet in ihrem Beitrag eine kritische Lektüre der Schilderung der politischen bzw. kriegerischen Tätigkeiten der Herrscherin Tomyris während der Persischen Kriege von den beiden antiken Autoren Herodot und Polyainos. Sie untersucht darin, welchen Handlungsspielraum die beiden Autoren weiblichen Mitgliedern der herrschenden Elite zustanden und wie diese in die allgemeine Deutung der Ereignisse integriert wurden. Müller kommt zu dem Schluss, dass trotz der männlichen Kodierung von Krieg und Gewalt in der griechischen und römischen Antike Frauen der Elite (in diesem Fall stellvertretend für männliche Angehörige) unwidersprochen ihren Platz als Kriegsführerinnen einnahmen. Ähnlich gelagert sind die Fallbeispiele von skandinavischen, adligen Frauen (Inga von Varteig und Ingebjørg Håkonsdatter) aus dem Hochmittelalter, die an der Spitze von Revolten standen. Beñat Elortza Larrea kommt allerdings zum Schluss, dass deren Rollen in den untersuchten, vor allem literarischen, Quellen in genre-typischer Gestaltung verhaftet blieben und durch andere Quellen nicht bestätigt wurden. Elortza Larrea schließt daraus, dass die Darstellungen der Frauen als „Fehlinterpretationen“ verstanden werden müssen, die politische ebenso wie narrative Gründe haben. Auch der Aufsatz von Sigrun Borgen Wik stellt einen literarischen Text ins Zentrum der Analyse und postuliert die dargestellten protestierenden unfreien und dienenden Frauen als – wenn auch nicht in der Intention der Texte selber – „symbols of protest“ (S. 43).

Ein zweiter Schwerpunkt widmet sich Akteurinnen in anarchistischen, sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen und frauenbewegten Zusammenhängen. Die beiden Beiträge der Herausgeber vermögen es, neue Perspektiven auf bekannte Fälle zu werfen. So lotet etwa Frank Jacob am Beispiel der bekannten Anarchistin Emma Goldman die Rezeption von radikalen Frauen um 1900 aus. Die an Goldman sichtbare Transgression der dichotomen Geschlechterrollen durch ihr öffentliches Auftreten und ihre vertretenen Inhalte erregte Faszination, ihre Kritik an der Unterdrückung von Frauen unter anderem durch die Institution der Ehe vielerorts eher Ablehnung und Furcht. In seiner Analyse hebt Jacob hervor, dass es die Kombination der radikalen anarchistischen und feministischen Ansichten mit Goldmans Geschlechtszugehörigkeit und -performanz war, die sie für die Öffentlichkeit (und die polizeilichen Behörden) besonders gefährlich machte. Nicht zuletzt wurde Anarchismus als „gendered crime“ aufgefasst, der durch Goldmans „seductive spell“ Anhänger zu terroristischen Taten verleitete (S. 99 f.). Jowan A. Mohammed untersucht die Rolle von Bildung in revolutionären Protestbewegungen des Ersten Weltkriegs am Beispiel New Yorks. Er unterstreicht darin nicht nur die Straße als Ort der politischen Öffentlichkeit, den Frauen für ihren Protest nutzten, sondern auch die Bedeutung von gewerkschaftlichen Organisationen für die Schulung von Protestformen und -strategien seit dem 19. Jahrhundert. Der innovative Beitrag des Artikels liegt in der Betonung von Bildung als Schlüssel von revolutionärem Protest und zwar von „protest as a means for education and educational means as a form of protest formation“ (S. 120). Beschäftigt sich Mohammed mit einer weiblich gegenderten Protestformation im Ersten Weltkrieg, untersucht Steiner Aas die gegenderte Radikalisierung der männlichen Arbeiterschaft in einer Minenstadt im Norden Norwegens. Unter Eindruck der Russischen Revolution protestierten vor allem junge Männer, teils gewaltvoll, gegen den Militärdienst. In seiner Untersuchung der Rolle von Frauen im österreichischen Februaraufstand 1934 gegen den austrofaschistischen Ständestaat zeigt Florian Wenninger die vielen sichtbaren und unsichtbaren Formen von weiblichen Handlungen auf. Damit steht nicht nur ein wichtiger Aspekt der Ereignisse im Februar 1934 und des Endes der Ersten Republik in Österreich im Fokus, sein Beitrag beschäftigt sich auch mit der Frage von Militanz von jungen Frauen, die klandestine Tätigkeiten übernahmen. Wenninger erinnert daran: „Collective violence is a process based on the division of labor, in which only minority directly attempts to injure or kill opponents or damage their infrastructure” (S. 163). Jana Günther unternimmt eine historisch kontextualisierte und konzeptionell gesättigte Bestimmung von Protest und kollektiver Identität vor dem Hintergrund des feministischen Aktivismus in Zeiten von #metoo. Sie beschäftigt sich mit dem Potential und Entstehen von Identitätspolitiken, symbolischer Inszenierung von Bewegungsinhalten und dem Ort von body politics in den Frauenbewegungen der letzten 200 Jahre. Günther versteht „body politics as embodiment of resistance“ (S. 213) und führt dies von der Französischen Revolution über die britischen Suffragettenbewegung, der Politisierung des Körpers in den 1970er Jahren bis hin zu Pussy Riot und FEMEN aus.

Drittens kommen auch Protestbewegungen zur Sprache, die auf die (Neu-)Aushandlungen von Geschlechterregimen in der Moderne reagierten. Martin Göllnitz’ Beitrag untersucht die Form männlicher Gewalt und Militanz in der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA). Er beschreibt die SA als homosozialen Männerraum, der auf militärischem Symbolismus, Kameradschaft und einer ideologischen Gemengelage von Antisemitismus, Antikommunismus und Antiliberalismus beruhte und damit für desillusionierte junge Männer, vor allem ehemalige Soldaten und Arbeitslose, attraktiv war. Er übt dabei Kritik an der These des homosexuellen Männerbunds und unterstreicht die Remaskulinisierung des politischen Raums als Ziel der SA, die explizit Politik mit Gewalt und männlicher Geschlechtsidentität verknüpfte. Der auch von Jana Günther angesprochene antifeministische Backlash der letzten Jahrzehnte wird im letzten Beitrag des Bandes von Heike Mißler in einer Fallstudie zu Abtreibungsgegnerinnen in Deutschland untersucht. Das Projekt erforschte eine Gruppe von Abtreibungsgegner:innen in Saarbrücken, ihre Motivationen, Argumente und Netzwerke. Obwohl sich Abtreibung als single-issue präsentiert, konnte die Forschungsgruppe herausarbeiten, dass Aktivismus gegen die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs mehr beinhaltet als dieses Anliegen. Abtreibungsgegner:innen und andere rechts(radikale) oder fundamental-religiöse Gruppen kooperierten und hatten oftmals thematische und/oder personelle Überschneidungen. Die Gegnerschaft zum Schwangerschaftsabbruch sowie der gemeinsame „Anti-Genderismus“ fungierten dabei als „gateway for possible cooperation“ (S. 225).

Ein Beitrag, der sich nicht leicht in die drei Cluster zuordnen lässt, sei hier hervorgehoben, da er durch seine Quellenkritik und der Interpretation des Geheimnisses als Proteststrategie zur Reflexion einlädt. Mariela Fargas Peñarrochas beleuchtet auf Basis von Briefen und gerichtlichen Unterlagen eine Form des intimen und geheimen Protests in Barcelona des 17. Jahrhunderts: das Ringen darum, selbst über die Auswahl des Ehemanns – und damit die Zukunft – zu bestimmen. Geheimnis und Schweigen entpuppen sich als Strategie von Frauen der Oberschicht, sich in der neu entstehenden Privatheit der Familie einen Ort der prekären Autonomie, der Selbstbehauptung, zu schaffen.

Im Bewusstsein, dass das Buch als Ergebnis eines Workshops wie viele Sammelbände einen durchaus disparaten Charakter hat, drücken die Herausgeber die Hoffnung aus, eine weitergehende kritische Beschäftigung mit dem Wechselverhältnis von Protest und Geschlecht anzustoßen. Wünschenswert wäre eine systematischere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Protestformationen und ihrem Zusammenhang mit unterschiedlichen Geschlechterregimen in der Einleitung gewesen. Dennoch ist es den Herausgebern gelungen, einen Band zusammenzustellen, der an dem Thema Interessierten viel Anregendes zu bieten hat.

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