Mit der globalen Pandemie ist das gesellschaftliche und öffentliche Bewusstsein für die Organisation von Care-Arbeit und die damit verbundenen Herausforderungen deutlich gewachsen. Während zunächst die medizinische Versorgung im Vordergrund stand, wurde schnell deutlich, dass auch die Betreuung von Kindern in schulischen und vorschulischen Einrichtungen ein wesentlicher Anker für das Funktionieren der Gesellschaft ist. Die Teilhabe der Eltern am Erwerbsleben hängt davon ebenso ab wie die Bildungs- und Erwerbsbiografien der nachwachsenden Generationen. Die anhaltend schwierige Situation der Einrichtungen der frühen Bildung in Deutschland zeigt jedoch, dass die historisch gewachsenen Strukturen den Anforderungen der Gegenwart kaum noch gerecht werden können.1
Der von Dorena Caroli herausgegebene Band „History of Early Education Institutions in Europe“ widmet sich diesen Aspekten und stellt einen wichtigen historischen Beitrag zur Geschichte der europäischen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder dar. Der Band ist geprägt von den Entstehungsbedingungen während der Pandemie und dem wachsenden Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung frühkindlicher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen. Er versammelt Beiträge, die politische Rahmenbedingungen, Professionalisierungsprogramme und die umstrittene Verortung der Kinderkrippen zwischen Bildung und Betreuung in nationalen Kinderbetreuungssystemen darstellen. Dabei verbindet alle Beiträge die Einsicht, dass seit dem Zweiten Weltkrieg die zentrale Herausforderung in dem gleichzeitigen Ausbau von Betreuungskapazitäten und der Bereitstellung qualifizierter Betreuungsangebote in adäquaten Räumlichkeiten darstellt. Die 13 Beiträge widmen sich der theoretischen Entwicklung der Frühpädagogik, der institutionellen Organisation und den sozio-politischen Rahmenbedingungen von Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. Pointiert lässt sich das gemeinsame Forschungsinteresse der Beiträge so formulieren: Welche Kinder wurden wo, von wem und wie betreut und wer bezahlte dafür?
Die Studien wurden überwiegend regional gebündelt, sodass neben dem Vergleich nationaler Entwicklungen auch die Möglichkeit besteht, regionale Cluster wie die skandinavischen Länder oder die frankophonen Länder zu betrachten. Während in anderen Sammelwerken zur europäischen Geschichte häufig west- und nordeuropäische Fallbeispiele dominieren, versammelt die Herausgeberin in diesem Band ein ausgeglichenes und vielstimmiges Bild inklusive Beispiele aus Süd- und Osteuropa.
Im Folgenden werde ich einzelne Beiträge näher vorstellen, die für den Band insofern exemplarisch sind, als sie die nationalgeschichtliche Darstellung repräsentieren mit den genannten thematischen Schwerpunkten – der theoretischen Entwicklung innerhalb der nationalen bildungswissenschaftlichen Disziplinen und der institutionellen Entwicklung im Bereich der frühen Bildung. Claudine Marissal zeichnet in ihrem französischsprachigen Beitrag die Entwicklung des Fürsorgewesens in Belgien nach. Hier dominierten lange Zeit katholische Organisationen die private und als karitativ verstandene Kleinkinderbetreuung. Betreuungsplätze waren jenen Kindern vorbehalten, deren Mütter aus wirtschaftlichen Gründen „gezwungen“ waren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Erzieherinnen und Pflegerinnen konzentrierten sich auf hygienische Tätigkeiten und verstanden die Arbeit am Kleinkind als Pflege. Marissal zeigt, dass die Rezeption pädagogischer und theoretischer Neuerungen und Reformen, zum Beispiel von Emmi Pikler, bereits in den 1970er-Jahren einsetzte, der institutionelle Wandel in der Kinderbetreuung jedoch erst in den 2000er-Jahren erfolgte. Trotz entsprechender Impulse aus der Frauenbewegung und unter dem Eindruck eines breiteren gesellschaftlichen Wandels in den 1970er- und 1980er-Jahren erweisen sich die rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als bemerkenswert zäh. Im politischen Kontext des Kalten Krieges gerieten Innovationen im Bereich der frühkindlichen Bildung schnell unter Kommunismusverdacht.
Die Herausgeberin Dorena Caroli untersucht in ihrem Beitrag anhand von Dokumenten aus russischen Archiven die pädagogisch-psychologische Entwicklung in der Sowjetunion. Sie stellt die wesentlichen Veränderungen in den theoretischen Programmen seit der Revolutionszeit und deren institutionelle Umsetzung dar. Der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen in den 1920er-Jahren stieß bald auf wirtschaftliche und personelle Probleme, denen man unter anderem durch die Zusammenlegung von Kindergärten und Kinderkrippen zu begegnen versuchte. Gerade diese Zusammenlegungen machten jedoch die verzögerten sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der in Krippen betreuten Kinder deutlich. Die Zuordnung zum Gesundheits- und Sozialsystem führte vor allem in den Krippen zu einer Betonung hygienischer Praktiken und zu einem Mangel an pädagogischer Auseinandersetzung und Förderung. Caroli rekonstruiert die Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg, diesen Mangel durch Professionalisierungsmaßnahmen zu beheben. Dies war nicht zuletzt dadurch bestimmt, dass die curriculare Zuständigkeit für die Krippen zunehmend an das Bildungswesen ging und die Gesundheitsministerien und Ärzte in der Sowjetunion nur noch die hygienische Aufsicht führten. Auch theoretisch knüpften Forscherinnen wie Nina M. Aksarina, S.V. Iakowlew oder Revekka Fridman in der späten Stalinzeit und in der post-stalinistischen Sowjetunion langsam an pädologische Forschungen der 1920er- und 1930er-Jahre an, doch dauerte es noch bis in die 1980er-Jahre, bis eine offene Rezeption der Arbeiten von Alexei Leontjew und Lew Wygotsky in der Sowjetunion einsetzte.
Betrachtet man nicht einzelne Beiträge, sondern den gesamten Band, so wird der komparative Mehrwert deutlich, der sich aus dem gleichgerichteten Forschungsinteresse ergibt. Immer wieder zeigen sich Gemeinsamkeiten und Überschneidungen in den jeweiligen nationalstaatlichen Entwicklungen. Erzieher:innen, Wissenschaftler:innen und Organisator:innen in den Ministerien standen trotz disparater Gesellschaftssysteme und unterschiedlicher Zuständigkeiten vor ähnlichen Herausforderungen und entwickelten analoge Lösungsansätze. Deutlich wird dies unter anderem am Beispiel der beiden deutschen Staaten, deren Betreuungssysteme zumeist als grundsätzlich gegensätzlich skizziert werden. Diana Franke-Meyer zeichnet deren Entwicklung von 1945 bis in die 2000er-Jahre nach. Der ausgeprägte Familismus der Bundesrepublik ist ebenso in Spanien und Portugal zu erkennen, wo ebenfalls erst in den 1980er-Jahren eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der frühkindlichen Bildung einsetzte und Einrichtungen der Kleinkindbetreuung lange Zeit nur aus sozial- und familienpolitischer Perspektive betrachtet wurden. Auch die Tendenz in der DDR hatte Parallelen in verschiedenen, nicht nur mittel- und osteuropäischen Staaten. So zeigt die Darstellung der französischen Geschichte durch Catherine Bouve, dass sich mit dem Ausbau der Kapazitäten auch dort die Frage nach einer guten und ausreichenden Bildung der Kinder in den Krippen stellte, um Defiziten in der Sprachentwicklung oder gar Krankheiten wie Hospitalismus vorzubeugen.
Insgesamt versammelt der Band zahlreiche prägnante und inhaltlich reichhaltige Einblicke in die nationalen Betreuungsstrukturen und ihre Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur bildungshistorischen Erforschung der frühen Kindheit in Europa. Die Autorinnen heben dabei die 1970er- und 1980er-Jahre als Jahrzehnte hervor, in denen im historischen Rückblick häufig ein Umdenken und strukturelle Weichenstellungen zu verzeichnen waren, auch wenn der große Kapazitätsausbau außerhalb Osteuropas erst in den 1990er-Jahren erfolgte. Die Beiträge verweisen in diesem Zusammenhang häufig auf übergeordnete europäische und gesellschaftliche Entwicklungen, wie den sozioökonomischen Strukturwandel und die politischen Frauenbewegungen als Ursachen und Auslöser dieser Veränderungen, gehen aber kaum auf diese übergeordneten Prozesse ein. Die Herausgeberin hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass es häufig gerade nicht transnationale Verknüpfungen, sondern nationalstaatliche Prozesse waren, die die Transformationen im Bereich der frühkindlichen Bildung maßgeblich bestimmt haben.2
Gerade die vergleichende Perspektive, die sich aus der Zusammenstellung des Bandes ergibt, wirft jedoch die Frage auf, welche Rolle europäische beziehungsweise globale Strukturveränderungen oder transnationale theoretische und politische Bezüge in den skizzierten Geschichten der Frühpädagogik gespielt haben. Auch wenn die Betreuungssysteme deutlich von nationalen sozial-, bildungs- und familienpolitischen Fragestellungen bestimmt sind, regt der Überblick des vorliegenden Bandes dazu an, die Rolle der europäischen Arbeitsmarktpolitik, der bildungspolitischen Kampagnen der OECD oder des wissenschaftlichen Austausches der WHO und anderer supranationaler Organisationen zu untersuchen, wie dies unter anderem Michel Christian in einem Aufsatz anregt.3
Anmerkungen:
1 Gerhard Brand, Verband Bildung und Erziehung. „Notstand an Kitas“. VBE, 09.02.2023. https://www.vbe.de/presse/pressedienste/pressedienste-2023/notstand-an-kitas (23.05.2024).
2 Dorena Caroli. Day Nurseries in Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries. The Challenge of the Transnational Approach in the History of Education: Concepts and Perspectives, in: Eckhardt Fuchs / Eugenia Roldán Vera (Hrsg.), Global Histories of Education, Cham 2019, S. 94.
3 Michel Christian, Entre Vienne, Londres et Berlin-Est. Eva Schmidt-Kolmer et la genèse transnationale des crèches est-allemandes, in: Recherches en éducation, Nr. 50 (2023).