Ein Buch, das seine Hauptthese derart selbstbewusst im Titel trägt, wird mit dem Verdacht konfrontiert sein, eine heroische Meistererzählung zu verbreiten – erst recht, wenn der Titel zudem offensichtlich auf gegenwärtige Ereignisse Bezug nimmt. Doch Anna Veronika Wendland ist nicht nur eine der profiliertesten Ukraine-Kennerinnen im deutschsprachigen Raum, sie hat auch selbst in ihrem ersten Buch eine historische Entwicklung behandelt, die simplen nationalen Teleologien widerspricht: Die russophile Bewegung im habsburgischen Galizien des 19. Jahrhunderts trat nämlich gerade nicht für eine nationale Befreiung der Ukraine vom russischen Nachbarn ein, sondern für eine Vereinigung im Imperium.1 Wendland ist sich also sehr wohl bewusst, dass sie mit dem Begriff des Befreiungskriegs eine normative Setzung wagt, die nicht allen Komplexitäten der ukrainischen Geschichte gerecht wird. Trotzdem, so argumentiert sie, sei der Begriff geeignet, um die Agency der ukrainischen Bevölkerung sichtbar zu machen; dies im Gegensatz zu passiven Stellvertreterkriegs- und Opfernarrativen.
Wendlands historischer Essay nimmt somit unter den immer noch recht wenigen deutschsprachigen Überblicksdarstellungen zur ukrainischen Geschichte eine Sonderstellung ein. Stärker als das Standardwerk von Andreas Kappeler, aber auch die Arbeiten von Kerstin Jobst und Frank Golczewski sowie die jüngst übersetzte Darstellung von Serhii Plokhy ordnet Wendland ihre Erzählung einer These unter.2 Diese These – dass die ukrainische Nationsbildung von Episoden brutaler Massengewalt entscheidend geprägt worden sei – überzeugt insbesondere im Hinblick auf drei Epochen: die Kosakenkriege des 17. Jahrhunderts, die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und natürlich den russischen Angriffskrieg seit 2014.
Die erste Phase der ukrainischen Befreiungskriege verortet Wendland, darin der ukrainischen Geschichtsschreibung folgend, in den Versuchen kosakischer Anführer, einen eigenständigen Herrschaftsbereich zwischen den polnisch-litauischen, osmanischen und moskowitischen Hegemonialmächten zu errichten. Überzeugend arbeitet sie die großen Linien heraus, die jenen letztlich gescheiterten frühneuzeitlichen Staatsbildungsversuch mit späteren Anläufen verbinden: die multivektorale Außenpolitik, die sich mal an diese, mal an jene Großmacht anlehnte; die Verbindung ethnokultureller Ansprüche und konfessioneller Forderungen mit sozioökonomischen Gegensätzen; nicht zuletzt aber auch die letztlich erfolgreiche Integration und Assimilation einheimischer Würdenträger in die polnischen und russischen Adelsstrukturen. Der wiederholte „Elitenverlust“ unter imperialer Herrschaft ist für Wendland ein definierendes Charakteristikum der ukrainischen Geschichte.
Nach zwei verhältnismäßig friedlichen Jahrhunderten entluden sich die sozioethnischen Spannungen innerhalb der imperial beherrschten Ukraine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in enormer Gewalt. Die militärische Erfahrung von Millionen ukrainischer Bauern im Ersten Weltkrieg wirkte als Initialzündung. Innerhalb weniger Jahrzehnte versuchten sich Soldaten und nationalistische Politiker gleich zweimal an dem, was man in Anlehnung an Lenin als Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen nationalen Befreiungskrieg bezeichnen könnte.3 Wendland verschweigt nicht, dass darunter, wie schon in der Kosakenzeit, am meisten die jüdische Bevölkerung litt. Sowohl im postimperialen Bürgerkrieg als auch im 2. Weltkrieg blieb sie meist aus der zu befreienden Gemeinschaft ausgeschlossen und bekam den bisweilen eliminatorischen Furor der Aufständischen – und natürlich die viel systematischere genozidale Gewalt der Nazi-Besatzer – zu spüren. Anderthalb Millionen ukrainische Jüdinnen und Juden wurden im 2. Weltkrieg ermordet, aber auch etwa vier Millionen ethnisch ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten wurden Opfer des deutschen Vernichtungskriegs.
Die Zeit zwischen den Weltkriegen hat der Historiker Andrea Graziosi als „Great Soviet Peasant War“ bezeichnet4, und auch Wendland sieht in der gewaltsamen Unterwerfung des ukrainischen Bauerntums durch Getreiderequisition und Hunger einen letztlich genozidalen Versuch Stalins, die Ukrainer als vermeintlich besonders widerborstiges und dem Kommunismus gegenüber feindseliges Volk ein für alle Mal ruhigzustellen (S. 156). Von 1914 an erlebte die Ukraine also tatsächlich ein mehr als dreißigjähriges Gewaltkontinuum. Aus diesem Prozess ging die „Nation der Extreme“, so Wendland, zwar nicht unabhängig, aber doch als konsolidierte Einheit innerhalb des sowjetischen Herrschaftsverbands hervor.
Im besonders gelungenen 7. Kapitel legt Wendland dar, dass Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in einer Politik wurzelt, die schon seit den Neunzigerjahren Russlands hegemoniale Ansprüche im postsowjetischen Raum aggressiv durchzusetzen versucht. Geschah dies zunächst noch durch politischen und ökonomischen Druck, das Ausspielen diplomatischer Kontakte in den Westen und das Schüren von Ängsten zum Kontrollverlust über die in der Ukraine stationierten Atomwaffen, so griff Russland nach den Euromaidan-Protesten zu militärischen Mitteln. 2014 wurde die Aggression noch dünn verhüllt als das Werk unabhängig agierender örtlicher Separatisten dargestellt, ab 2022 geschah sie dann offen und begleitet von einer immer aggressiveren Propaganda, die unterdessen jegliche Legitimität der ukrainischen Staatlichkeit und kulturellen Eigenständigkeit verleugnet.
Die ukrainische Verteidigung beruht dagegen, so Wendland, auf einer genuinen gesellschaftlichen Mobilisierung, die im Wunsch gründet, die Hinterlassenschaften der Sowjetära – Passivität, Korruption, politische Blockade – hinter sich zu lassen. So klarsichtig und konzis wie in diesem Buch hat man die Entwicklungen noch selten nachlesen können, die schließlich zur militärischen Konfrontation mit dem russländischen Mafiastaat führten, einer Konfrontation, die aus ukrainischer Sicht tatsächlich als Befreiungskrieg zu werten ist. Wendlands Schlussfolgerung, der russisch-ukrainische Antagonismus lasse sich nur dadurch überwinden, dass die russländische Gesellschaft die Selbstbefreiung der Ukraine zum Anlass nimmt, die eigenen imperialen Ansprüche zu überwinden, ist zuzustimmen.
Doch wie erkenntnisbringend ist der Begriff des Befreiungskriegs im Hinblick auf die „langen Phasen des Friedens, der Koexistenz oder der Aushandlung widerstreitender Interessen“ (S. 23), wie sie die Ukraine etwa im langen 19. Jahrhundert und in den sowjetischen Nachkriegsjahrzehnten durchlebte? Wendland erkennt an, dass der sowjetische Wirtschaftsboom nach 1945 auch den Ukrainerinnen und Ukrainern große Vorteile brachte; innerhalb eines sowjetloyalen Rahmens konnten sie im Spätsozialismus sogar ihre nationalkulturellen Bedürfnisse zumindest teilweise befriedigen. Trotzdem war diese Phase auch nach dem Ende der erbitterten Kämpfe zwischen der Sowjetmacht und nationalistischen Partisanen in der Westukraine nicht gewaltfrei: Der Krieg in Afghanistan trug bekanntlich zur Destabilisierung der Sowjetunion entscheidend bei, und wie Wendland zeigt, wurde auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl als eine Art Krieg gegen einen unsichtbaren Feind wahrgenommen.
Was das 19. Jahrhundert betrifft, so ist die Bezeichnung der ukrainischen Nationalbewegung als Befreiungsbewegung sicherlich auch jenseits aller Idealisierungen berechtigt. Schließlich bezweckte sie nicht nur die national-kulturelle, sondern auch die sozioökonomische Emanzipation der Bauernschaft (und machte oft genug gemeinsame Sache mit der das gesamte Russländische Imperium umfassenden sozialistischen Bewegung). Auch in dieser vergleichsweise ruhigen Epoche kam es zu Gewalt, wie Wendland zeigt. Nebst der strengen Bestrafung ukrainischer Nationalisten im Russländischen Reich und den antisemitischen Pogromen von 1881 und 1905 sind hier besonders lokale Bauernaufstände zu nennen, die zwischen den Teilungen Polens und dem frühen 20. Jahrhundert sowohl das österreichische Galizien als auch die russländische Ukraine wiederholt erschütterten. Gleichwohl bleibt angesichts der Episodenhaftigkeit dieser Ereignisse etwas unklar, wie gut sich „Befreiungskrieg“ auch als Überbegriff für das ukrainische 19. Jahrhundert eignet und ob beispielsweise „Modernisierung“ den Charakter der Epoche nicht doch besser fasst.5
Trotz dieses Einwands ist Anna Veronika Wendlands Buch eine empfehlenswerte Lektüre: sowohl für Fachleute, die vom scharfen Blick der Autorin auf langfristige Entwicklungslinien profitieren werden, als auch für ein breiteres Publikum, das sich hier knapp und doch vertieft über die Ursprünge der gegenwärtigen Konfrontation der demokratischen Ukraine mit Putins imperialistischer Kleptokratie informieren kann.
Anmerkungen:
1 Anna Veronika Wendland, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Russland, 1848–1915, Wien 2001.
2 Frank Golczewski (Hrsg.), Geschichte der Ukraine, Göttingen 1993; Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994 (zuletzt 8. Auflage 2022); Kerstin Jobst, Geschichte der Ukraine, Stuttgart 2010 (zuletzt 3. Auflage 2022); Serhii Plokhy, Das Tor Europas. die Geschichte der Ukraine, Hamburg 2022.
3 Bei Lenin: "Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg". W.I. Lenin: Sozialismus und Krieg. Kapitel 1, in: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/kap1.htm (09.12.2023).
4 Andrea Graziosi, The Great Soviet Peasant War: Bolsheviks and Peasants, 1917–1933, Cambridge, MA 1996.
5 Wie jüngst von Serhiy Bilenky mit Nachdruck vertreten. Siehe Serhiy Bilenky, Laboratory of Modernity. Ukraine between Empire and Nation, 1772–1914, Montreal 2023.