„Wir haben gesehen, daß die Geschichte, die uns die Mediziner, Sozialwissenschaftler oder Historiker als die unsere aufschwätzen wollten, lückenhaft ist – oder jedenfalls nicht so, wie wir sie uns selbst erarbeiten könnten und sollten.“1 In einem „Aufruf zur Mitarbeit“, publiziert in „Krankenpflege im Nationalsozialismus“ von 1985, forderte Hilde Steppe eine Pflegegeschichtsschreibung durch Pflegende. Der Aufruf bezog sich zwar im Prinzip auf die gesamte Geschichte der Krankenpflege, doch war es der Impuls zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Berufsgruppe, der in den 1980er-Jahren erstmals „unterschiedliche an der Geschichte der Pflege interessierte Personen zusammengebracht“ habe, wie Pierre Pfütsch in seiner Einleitung zum Sammelband festhält. Insofern sei die Pflegegeschichte in Deutschland „ohne die thematische Beschäftigung mit der Pflege im Nationalsozialismus überhaupt nicht denkbar“, und diese wiederum nicht ohne die Arbeit(en) von Hilde Steppe (S. 9).
Der vorliegende Band, erschienen fast 40 Jahre nach Steppes Aufruf, gibt somit Anlass zu der Frage, wer eigentlich heute zur Pflegegeschichte (im Nationalsozialismus) schreibt. Handelt es sich tatsächlich noch um eine „Geschichte von unten“, eine „Auseinandersetzung von Berufsangehörigen mit ihrer eigenen Geschichte“ (S. 10)? Hat sich nicht längst in Deutschland eine professionelle Pflegegeschichtsschreibung etabliert, auch wenn die Pflegegeschichte nicht wie die Medizingeschichte als Fach institutionalisiert ist? Und widmen sich die in der „Fachgesellschaft Pflegegeschichte (GAHN)“ organisierten Personen, meist Historiker:innen mit mehr oder weniger engem Bezug zur Tätigkeit in der Pflege, auch heute noch häufig dem Nationalsozialismus? Immerhin war es diese Fachgesellschaft, die die dem Band zugrundeliegende Tagung im Jahr 2021 in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein veranstaltet hat, nicht zuletzt, um die „Entwicklungen seit Hilde Steppe zusammenzutragen“ (S. 18).
Pfütsch verweist in der Einleitung darauf, dass in der Pflegegeschichte – bei aller Bemühung um Abgrenzung – „gerade für die Zeit des Nationalsozialismus für viele historische Fragestellungen die Medizingeschichte essentiell“ sei (S. 12). Viel mehr jedoch springt beim Blick auf die Beitragenden ins Auge, wie interdisziplinär der Band gestaltet ist – ein Autor:innenverzeichnis mit den zugehörigen Disziplinen hätte diesen Eindruck noch stärker hervorheben können. Tatsächlich ist nur eine Autorin, die Historikerin Annett Büttner, eine „klassische“ Pflegehistorikerin. Sie hat lange Zeit das Archiv der Kaiserswerther Diakonie betreut und steuerte gleich zwei profunde Beiträge zur Pflegegeschichte dieser bedeutsamen evangelischen Einrichtung im Nationalsozialismus bei. Aus der institutionalisierten Medizingeschichte stammt der Beitrag von Wiebke Lisner, Marion Voggenreiter ist der Erlanger Medizingeschichte als freie Autorin assoziiert. Petra Betzien wurde mit ihrer grundlegenden Dissertation zu Krankenschwestern in Frauenkonzentrationslagern im Fach Geschichte promoviert, ist allerdings im öffentlichen Gesundheitswesen tätig. Aus der Pflege kommen Stefan Kiefer und Katharina Genz, letztere ist allerdings am Institut für Pflegepädagogik der Universität zu Kiel tätig und arbeitet an einer historischen Dissertation. Doktorandinnen der Geschichte oder Geschichtsdidaktik sind auch Elena M. Kiesel und Sophia König. Irina Rebrova ist Historikerin, Anne D. Peiter Dozentin der Germanistik und Beate Mitzscherlich Professorin für Pädagogische Psychologie und Ethik im Gesundheitswesen mit langjähriger Erfahrung in der Pflegeforschung. Der Herausgeber, der die Einleitung verfasste, ist Historiker und steht ohnehin für eine integrierte Geschichte der Gesundheitsberufe, die enge Disziplingrenzen überwindet.
Von dieser disziplinären Vielfalt profitiert der Band ganz erheblich, denn so kann er die im Titel angekündigten neuen Perspektiven einlösen. Zunächst breitet der Herausgeber einleitend mit einer systematischen Darstellung des relevanten Themenspektrums die Hintergrundfolie aus, vor der die Einzelbeiträge eingeordnet werden können. Zur Organisation der Pflege hatte bereits Steppe herausgearbeitet, wie sehr der Berufsstand von einer Vereinheitlichung durch das „Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege“ von 1938 profitierte, ähnlich wie die Hebammen vom Reichshebammengesetz aus dem gleichen Jahr. Die Vereinheitlichung der Berufsverbände kann daher durchaus als eine (Selbst-)Gleichschaltung bezeichnet werden. In Konkurrenz zur konfessionellen Pflege wurde die Gemeindepflege ausgebaut und vorzugsweise mit Mitgliedern der 1934 gegründeten NS-Schwesternschaft besetzt, da man sich eine gesundheitspolitische Beeinflussung der Bevölkerung insbesondere von dieser Berufsgruppe erwartete, unter anderem in Bezug auf das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Neben der für das NS-Regime bedeutsamen Kriegskrankenpflege nennt Pfütsch die Themenkomplexe der Pflege in Konzentrationslagern und der Beteiligung der Pflegenden an den Patient:innenmorden, bezüglich derer Hilde Steppe in ihren Schriften den Gehorsam gegenüber Ärzt:innen als wesentliches Moment hervorgehoben hatte.
Das Thema der Organisation der Pflege wird im vorliegenden Band um die (hier ausschließlich evangelische) konfessionelle Perspektive erweitert. Die drei Beiträge von Elena M. Kiesel und Annett Büttner fokussieren auf ein zum großen Teil kooperatives Verhältnis zwischen dem NS-Regime und der Diakonie, von dem beide Seiten im Sinne von „Ressourcen füreinander“2 (vermeintlich) profitierten. Dabei werden alternative Handlungsmöglichkeiten und somit Spielräume sichtbar. In ihrem zweiten Beitrag zeichnet Annett Büttner die Lebensgeschichte zweier Diakonissen aus jüdischer Familie nach. Die Schwestern Aufricht wurden zwar ins Mutterhaus zurückgerufen, von dort aber gleichwohl nach Theresienstadt deportiert. Ernestine Aufricht starb in Auschwitz, Johanne Aufricht kehrte nach Kaiserswerth zurück. Büttner fasst zusammen, dass Fürsorge für „Judenchristen“ (zum Christentum konvertierte ehemals jüdische Personen) innerhalb der Diakonie, „wenn überhaupt, zu spät, halbherzig und unsystematisch“ erfolgte. Dass es „auch andere Handlungsoptionen gegeben hätte“, zeige „beispielsweise die weitaus erfolgreichere katholische Auswandererfürsorge“ (S. 103) – hier bestünde mit einem Vergleich eine neue Forschungsperspektive.
Im Abschnitt „Pflege und ‚Euthanasie‘“ schildert zunächst Marion Voggenreiter den Umgang des Pflegepersonals mit den zentralen Patient:innenmorden der „Aktion T4“ und der dezentralen „Euthanasie“ am Beispiel Erlangens. Mit dem titelgebenden Zitat „Ich habe nicht gewusst, wohin die Kranken mit den Transporten verlegt worden sind“ stellt sie indirekt das Narrativ infrage, die Morde seien eine rein ärztliche Angelegenheit gewesen. Im Fazit kommt sie auf das Mitwissen des Pflegepersonals zurück und hebt hervor, dass im Gegensatz zu anderen Anstalten aus Erlangen keine Versetzungsgesuche „zur Vermeidung einer Beteiligung an den Krankenmorden von Seiten der Pflegekräfte“ (S. 141) bekannt seien. Katharina Genz konzentriert sich anschließend auf direkte Täterschaft von Krankenschwestern in der Kinder-„Euthanasie“ am Beispiel der beiden Hamburger „Kinderfachabteilungen“ Langenhorn und Rothenburgsort sowie der entsprechenden Abteilung in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt. Sie zeichnet im Detail nach, was im Großen längst bekannt ist: Die aktive Kooperation der Pflege mit den ärztlichen Täter:innen.
Eine überraschende Perspektive liefert Stefan Kiefer mit seiner Neuinterpretation der zuvor meist unkritisch überlieferten Widerstandsgeschichte der Wieslocher Pflegerin Amalie Widman. Deren Bericht, sie sei 1940 aus Verbundenheit mit und Nächstenliebe zu ihren Patient:innen nach Grafeneck gefahren, um sich dort nach deren Schicksal zu erkundigen, glaubten unmittelbar nach Kriegsende sogar Leo Alexander und Alice von Platen-Hallermund. Mit seiner konsequenten Quellenkritik und Kontextualisierung zeigt Stefan Kiefer auf, dass es sich bei der Erzählung von der Fahrt nach Grafeneck am ehesten um ein Narrativ handelt, das sowohl Widmann selbst als auch die an den Patient:innenmorden beteiligten Ärzte schützen sollte.
Auch Irina Rebrovas Beitrag „Gehilfen oder Opfer? Die Rolle des lokalen Pflegepersonals im Zuge der NS-Verbrechen gegen Menschen mit Behinderungen in den besetzten Gebieten Russlands“ gehört zum Themenkomplex „Pflege und ‚Euthanasie‘“ (auch wenn er sich unter der Überschrift „Pflege in Lagern“ findet), stellt sie doch Patient:innenmorde in psychiatrischen Einrichtungen im Gebiet Kursk und im Gebiet Twer dar, beide im westlichen Russland gelegen. Besonderes Augenmerk legt Rebrova auf den Umgang mit den Morden in der Nachkriegszeit. Offiziell wurde eine Version vertreten, nach der die Verbrechen ausschließlich der deutschen Besatzung angelastet wurden. Das medizinische (d.h. sowohl das ärztliche als auch das pflegerische) Personal erschien in dieser Sichtweise als Opfer neben den Ermordeten. Eine zweite Version sei viele Jahre vor der Öffentlichkeit verborgen geblieben, nämlich Ermittlungen gegen Personal wegen Mittäterschaft, die als „Verrat am Vaterland“ verfolgt wurde. Erst in jüngerer Zeit sei diese Perspektive vermehrt an das Tageslicht gekommen. Weitere Forschung sei notwendig, so Rebrova. Möglich dürfte sie allerdings derzeit leider kaum sein.
Den Themenschwerpunkt „Pflege in Lagern“ repräsentiert allein Petra Betzien mit einer zusammenfassenden Darstellung zentraler Erkenntnisse aus ihrem 2018 erschienenen Buch „Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager“. Das Thema „Hebammen im Nationalsozialismus“ ist mit zwei Beiträgen vertreten, zu Recht, da erst in der NS-Zeit eine vollständige Abgrenzung dieser Berufsgruppe von der Pflege erfolgte. Ausführlich stellt Sophia König die Beteiligung von Hebammen an der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik im „Altreich“ am Beispiel der Stadt Leipzig dar. Wiebke Lisner fokussiert in gewohnter Präzision die Zuspitzung dieser Politik im „Volkstumskampf“ der besetzten Gebiete am Beispiel des Warthegaus.
„Neue Quellen“ erschließen zwei weitere Beiträge insofern, als sie autobiographische Quellen pflegehistorisch auswerten. Anne D. Peiter bezieht sich auf Quellen von Überlebenden des Vernichtungslagers Treblinka. Dort überlebten bekanntlich (meist nur vorübergehend) ausschließlich diejenigen, die zur Mitarbeit am Vernichtungsprozess gezwungen wurden, was die wenigen Zeugnisse von Überlebenden besonders wertvoll macht. Zur Erhaltung der Arbeitskraft gab es eine wenn auch äußerst rudimentäre medizinische Versorgung, bei der pflegerische und ärztliche Aspekte kaum voneinander unterschieden werden können. Beate Mitzscherlich analysiert mit dem Roman „Eine Handvoll Erbarmen“ der früheren Krankenschwester Herta Grandt eine literarische Quelle mit autobiographischem Hintergrund. Tatsächlich sagt der 1964 publizierte Text, wie die Autorin hervorhebt, eher etwas über Verarbeitungsprozesse der Nachkriegszeit aus als über die historischen Zusammenhänge der geschilderten Patient:innenmorde.
Der lesenswerte Sammelband entspricht insgesamt sicherlich nicht Hilde Steppes Vorstellung einer Pflegegeschichte aus der Profession selbst. Doch gerade die Überwindung disziplinärer Grenzen kommt einer Erweiterung pfleghistorischer Perspektiven zugute, nicht zuletzt in einer Betonung von Handlungsspielräumen statt Abhängigkeit und Gehorsam im Kontext der Medizinverbrechen im Nationalsozialismus.
Anmerkungen:
1 Gesundheitsladen Berlin (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus. Versuch einer kritischen Aufarbeitung, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1985, S. 118.
2 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51.