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Titel
Zuflucht auf Zeit. Juden aus Deutschland in den Niederlanden 1933–1945


Autor(en)
Kausch, Christine
Erschienen
Göttingen 2024: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
529 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Pohl-Schneeberger, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte München

Jenseits der populären Biographie von Anne Frank gab es eine Vielzahl weiterer deutscher Jüdinnen und Juden, die seit 1933 in das Nachbarland Niederlande flüchteten. Eine „Zuflucht auf Zeit“, so der treffende Titel des Buches von Christine Kausch, wurde das Land für diese Menschen – und zwar aus unterschiedlichen Gründen und Perspektiven: Während einige auf eine baldige Rückkehr in ein vom NS-Regime befreites Deutschland spekulierten, bemühten sich andere um Fluchtmöglichkeiten ins entfernte Ausland. Für diejenigen, die sich eine längerfristige Perspektive im Land versprachen, zerschlugen sich die Hoffnungen seit Beginn der deutschen Besatzung im Mai 1940. Eine letzte Rettung boten Verstecke im Untergrund oder eine (vorläufige) Freistellung von den Deportationen. Für mehr als einhunderttausend Jüdinnen und Juden endete die Zuflucht mit ihrer Internierung und der Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager – nur etwa fünftausend von ihnen kehrten lebend zurück.

Wie Beate Meyer konstatiert, hat sich die Holocaust-Forschung seit den 1980er-Jahren verstärkt den Aktionsräumen von Jüdinnen und Juden zugewandt.1 Derweil stellt Kausch fest, dass jüdische Flüchtlinge bis heute nur als „Randfiguren“ (S. 19) beachtet wurden. Und so rückt sie die Schicksale der deutschen Juden in den Niederlanden zwischen 1933 und 1945 in den Mittelpunkt ihrer Studie und nimmt, orientiert an Saul Friedländers Ansatz der „integrierten Geschichte“, die rahmengebenden und einflussnehmenden Verhaltensweisen der Umgebung (niederländische Regierung, deutsche Besatzungsherrschaft, nichtjüdische und jüdische Bevölkerung) ebenfalls in ihre Analyse auf. Unter Einbeziehung der Selbstzeugnisse von rund dreihundert Personen sowie der einschlägigen Forschungsliteratur fragt Kausch erstens nach den „individuellen und kollektiven Erfahrungswelten“ der Flüchtlinge mitsamt aller relevanten Einflussfaktoren (S. 12) und zweitens nach den „Reaktionsmustern und Handlungsstrategien“ (S. 13), die sie im Angesicht ihrer Fluchtperspektiven, ihres Exilalltags und ihrer Bedrohungslage ausgestalteten. Untergliedert ist die Studie in zwei Teile mit insgesamt acht Kapiteln: Während der erste Part (Kapitel 2 bis 5) das Leben der Flüchtlinge bis zum deutschen Überfall 1940 thematisiert, widmet sich der zweite Teil (Kapitel 6 bis 8) der Zeitphase unter nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft, die schließlich zur ultimativen Lebensgefahr für die dort lebenden Juden wurde.

Auf dieser Zeitachse beschreibt Kausch die Niederlande als Zufluchtsort (Kapitel 2), der jedoch in Wirklichkeit weniger liberal als von vielen Flüchtlingen erhofft war: Aus Sorge um die ohnehin angeschlagene Wirtschaft und freilich auch geleitet von – mindestens latenten – antisemitischen und deutschfeindlichen Ressentiments, setzte die niederländische Regierung eine restriktive Flüchtlingspolitik um. Dass die soziale (Nicht-)Eingliederung der Emigranten (Kapitel 3) auf Schwierigkeiten stieß, ist zu erahnen. Angesichts des traumatischen Verlusts der Heimat und der unklaren Zukunft hatten viele weder Kraft noch Möglichkeiten, sich in die neue Umgebung zu integrieren. In der niederländischen Mehrheitsgesellschaft mischten sich unter die dominierende Indifferenz gegenüber den Flüchtlingen auch antijüdische Einstellungen. Dass Antisemitismus in den Niederlanden „gemäßigter und Anfang der Dreißigerjahre weder politisch verankert noch [...] innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses eine größere Rolle“ spielte (S. 91), mag sicher zutreffen. Aber trug die „versäulte“ niederländische Gesellschaft, in der Juden keine eigene „Säule“ besaßen und sich unter Assimilierungsdruck bestenfalls einer anderen zuordnen konnten, nicht zu einer (erzwungenen) Unsichtbarkeit genuin jüdischer Identitäten bei? Auch wenn Fragen nach dem Einfluss antijüdischer Denkmuster auf diese sozio-politischen Dynamiken weiterhin diskutabel bleiben, verdeutlicht die Studie die Vielschichtigkeit möglicher Antworten. Denn neben Desinteresse und Ablehnung wussten Betroffene auch von Zuspruch und Hilfsbereitschaft zu berichten.

Trotz aller Widrigkeiten bemühten sich viele deutsche Juden um Arbeit (Kapitel 4), aber Zugangsbeschränkungen, fehlendes Eigenkapital und mangelnde Marktkenntnisse schränkten die Möglichkeiten ein. Auch die Flüchtlingspolitik wurde verschärft: Ab 1938 errichtete die niederländische Regierung Flüchtlingslager (Kapitel 5) für illegale, legale und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sorgfältig widmet sich Kausch diesem in der Forschung bislang nur rudimentär bearbeiteten Thema. Sie kommt zu der Einschätzung, dass die teils strenge Isolation und Überwachung mit der ordnungspolitischen Absicht der Regierung zu begründen sei, die Flüchtlingsbewegung „unter Kontrolle“ zu bringen. Hinzu sei eine „rigide Einstellung“ gegenüber Flüchtlingen gekommen, die mit einer „gewissen Stigmatisierung und Kriminalisierung“ einhergegangen sei (S. 276). Zugleich könne man, so Kausch, der Regierung einen „gewissen Entwicklungs- und Lernprozess“ nachweisen, denn mehrfach führten Proteste internierter Flüchtlinge zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation in den Lagern.

Als Ende der Zuflucht (Kapitel 6) betitelt Christine Kausch den deutschen Überfall im Frühjahr 1940. Eine Flucht ins Ausland war kaum noch möglich, und die Bemühungen richteten sich fortan vor allem auf Handlungsstrategien zum (Über-)Leben unter deutscher Gewaltherrschaft. Kausch fragt in diesem sowie in den letzten beiden Kapiteln zur Zeit vor Beginn der Deportationen (Kapitel 7) und während ihrer Durchführung (Kapitel 8) nach Unterschieden im Verhalten und in der Verfolgung von deutschen und niederländischen Juden. Die letztlich höhere Überlebensquote deutscher gegenüber niederländischen Juden erklärt Kausch anhand einer Kombination verschiedener Faktoren: Aufgrund ihrer frühen Gewalterfahrungen unter dem NS-Regime hatten deutsche Juden die drohenden Gefahren eher erkannt und frühzeitig Rettungsoptionen wie etwa Untertauchmöglichkeiten eruiert und Hilfsnetzwerke etabliert. Letztlich – und hier führt Kausch die Erfahrungswelten beider Gruppen wieder zusammen – hatten verfolgte Juden fortlaufend ihre Lage einzuschätzen, Optionen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Passive Opfer waren sie nicht.

Behandelten schließlich auch die NS-Verfolgungsbehörden deutsche und niederländische Juden unterschiedlich? Entgegen bisherigen Forschungsannahmen erkennt Kausch hier „teils gravierende Unterschiede“ (S. 314). Als Flüchtlinge und Ausländer waren deutsche Juden bereits vor der Besatzung frühzeitig registriert worden. Diese Informationen ausnutzend, nahmen die NS-Instanzen deutsche Juden auch aus einem weiteren Grund priorisiert ins Visier: Aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit (beziehungsweise ab November 1941 erzwungenen Staatenlosigkeit) standen sie nicht unter dem diplomatischen Schutz eines anderen Landes. Im Gegensatz dazu wurden niederländische Juden aus Rücksicht auf die Schutzmacht Schweden sowie wegen grundsätzlicher staats- und vermögensrechtlicher Bedenken vorerst zurückhaltender verfolgt. Auch wenn diese Unterscheidung in der Praxis schließlich weitgehend aufgelöst wurde, durchzogen Staatsangehörigkeitsfragen sämtliche Ebenen der Verfolgung bis hinein in die Konzentrationslager: Kausch weiß von den Geschwistern Hanna und Ruth Kalter zu berichten, die durch die Beschaffung schwedischer Ausweispapiere vor ihrer Deportation gerettet wurden und Anfang 1943 aus Westerbork nach Schweden ausreisen durften.2 Bezieht man weitere Fälle ein, werden die Spezifika solcher Einzelfälle deutlich: Im selben Zeitraum wurden die beiden minderjährigen Juden Heinz und Alexander Bondy im Konzentrationslager Theresienstadt interniert, und obwohl auch sie über ihre Familie schwedische Pässe erhielten, wurde ihre Ausreise von denselben deutschen Behörden abgewiesen.3 Warum? Offensichtlich vertrauten die NS-Akteure der Täuschungskulisse Westerbork als „normalem“ Zwischenlager für vermeintliche Zwangsarbeitslager in Osteuropa mehr als dem ebenfalls verharmlosend präparierten Lager Theresienstadt: Ein zentrales Argument bei solchen Vorgängen war, ob die Freizulassenden etwaige „Greuelpropaganda“ im Ausland verbreiten würden.

Anhand dieses spezifischen Aspekts wird beispielhaft sichtbar, dass Kauschs Studie neue Erkenntnisse bereithält, die sogleich für weitere Forschungsfragen nutzbar gemacht werden könnten. Dazu gehört auch – und dies ist explizit kein Kritikpunkt am vorliegenden Buch – eine vertiefte Analyse der Entscheidungsstrukturen deutscher Verfolgungsinstanzen, zu denen es weiterhin offene Fragen gibt.4

Christine Kausch gelingt es, auf fünfhundert Buchseiten eine ebenso profunde wie eindrückliche Gesamtdarstellung zur Geschichte der deutschen Juden in den Niederlanden zwischen 1933 und 1945 vorzulegen. Durch die Verflechtung zahlreicher Selbstzeugnisse mit der Forschungsliteratur entsteht ein reichhaltiges Panorama, das die Wahrnehmungsräume und Reaktionen der jüdischen Flüchtlinge differenziert abbildet und sie zugleich mit den unterschiedlichen Bezugsrahmen verknüpft. In der Analyse jener Reziprozität zwischen jüdischen Handlungsweisen, dem Verhalten der einheimischen Bevölkerung, der niederländischen „willfährigen Verwaltung“5 sowie der nationalsozialistischen Politik und Praxis der Judenverfolgung liegt ein substanzieller Erkenntnisgewinn. Der Blick in die mehr als zweitausend Fußnoten offenbart hierbei die Quellendichte und Qualität der Studie. An mancher Stelle hätte man sich sogar eine stärkere Sichtbarkeit der Primärquellen im Haupttext gewünscht, vermitteln doch ihre Aussagen einen unmittelbaren Eindruck der Lebens- und Gefühlswelten dieser Menschen. Stilistisch hätte eine etwas weiter ausgreifende Überarbeitung – unter anderem eine Reduzierung der allzu häufigen Querverweise auf andere Kapitel – den Lesefluss der ursprünglich als Dissertation verfassten Monographie abgerundet. Solche Kleinigkeiten können den positiven Gesamteindruck und die inhaltliche Qualität jedoch in keiner Weise trüben.

Anmerkungen:
1 Beate Meyer, Nicht nur Objekte staatlichen Handelns: Juden im Deutschen Reich und Westeuropa, in: Frank Bajohr / Andrea Löw (Hrsg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main 2015, S. 213–236, hier insbes. S. 217.
2 In den behördlichen Akten wird zudem Siegfried Kalter als Bruder von Hanna und Ruth aufgeführt. Er soll, folgt man den überlieferten Vorgängen, gemeinsam mit seinen Schwestern ausgereist sein. Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), RZ 214/99440.
3 Zu diesem Fall siehe ebenfalls: PA AA, RZ 214/99440. Die Brüder sollten schließlich ins Geisellager Bergen-Belsen überführt werden, um im Falle einer späteren Ausreise ihre in Theresienstadt erlebten „Eindrücke zu verwischen“. Das tatsächliche Schicksal der beiden ist nicht abschließend geklärt, aber vermutlich starben sie vor 1945 in Theresienstadt. Siehe ebd.
4 Erwähnt sei beispielsweise die parallele Befehlsstruktur von Hanns Albin Rauter: Als Generalkommissar für das Sicherheitswesen war er einerseits Reichskommissar Seyß-Inquart unmittelbar untergeordnet, in seiner Funktion als Höherer SS- und Polizeiführer Nordwest (der Oberabschnitt war auf Verwaltungsebene der SS sogar dem Deutschen Reich angegliedert) jedoch Reichsführer-SS Heinrich Himmler direkt unterstellt.
5 Leni Yahil, Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden, München 1998, S. 250.