M. Günnewig: Gestapoverbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges

Cover
Titel
„Die Betreffenden sind zu vernichten“. Gestapoverbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges


Autor(en)
Günnewig, Markus
Reihe
Gestapo – Herrschaft – Terror
Erschienen
Köln 2024: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Stolle, House of Competence, Karlsruher Institut für Technologie

Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) im Nationalsozialismus ist von der Geschichtswissenschaft hinreichend gut beforscht und erklärt – könnte man meinen, wenn man auf die zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema schaut. Zuletzt hatte die Gestapoforschung in den 1990er-Jahren Konjunktur, als verschiedene Studien die Vor- und Nachgeschichte dieser für den Terror des Nationalsozialismus (NS) zentralen Einrichtung in den Blick nahmen, vor allem aber die Funktion, Praxis und Effizienz der Verfolgungsmaßnahmen erklärten und in den Zusammenhang einer breiten Unterstützungsbereitschaft beziehungsweise Zuträgerschaft aus der Bevölkerung sowie anderer staatlicher und insbesondere polizeilicher Organisationseinheiten stellten. Zahlreiche lokal- und regionalgeschichtliche Studien kamen seither hinzu, präzisierten das Bild weiter und halten die Erinnerung an die begangenen Verbrechen wach. Nun legt Markus Günnewig eine Studie vor, die 2020 als Dissertationsschrift an der Universität Flensburg entstanden ist. Der Autor, Leiter der Gedenkstätte Steinwache in Dortmund, fokussiert darin die Rolle der Gestapo bei den sogenannten Endphasenverbrechen und moniert, dass die bisherige Forschung darüber nur ein unzureichendes Bild gezeichnet habe. Anstoß nimmt der Autor an dem weitverbreiteten Bild, dass ideologische Fanatiker gegen Ende des Krieges grausame Verbrechen begangen hätten, denen quasi jede und jeder zum Opfer fallen konnte. Er möchte an dieser Stelle neue Facetten einbringen. An der Intensivierung der Gewalt und dem Anstieg der Opferzahlen könne kein Zweifel bestehen, aber dennoch, so der Autor, müsse das bisherige Bild der letzten Kriegsmonate und der in diesem Zeitraum begangenen NS-Verbrechen an vielen Stellen präzisiert und teilweise korrigiert werden (S. 11).

Um sein Vorhaben zu realisieren, zieht Günnewig die Aktenbestände der Nachkriegsjustiz sowie die für das Ruhrgebiet überdurchschnittlich gut erhaltenden Restbestände von beteiligten Polizei-Institutionen (zum Beispiel Gestapoleitstellen, Höhere SS- und Polizeiführer) heran. Auf dieser Grundlage möchte der Autor – einem institutionengeschichtlichen Ansatz folgend – die „Gewaltgeschichte der Gestapo an der Heimatfront“ neu schreiben. Der Autor profitiert dabei von seiner guten Kenntnis des Forschungsstandes zur Gestapo sowie einem bemerkenswert großen Überblick über regionale Beispiele der Verfolgungspraxis. Allerdings bleibt seine Betrachtung vorwiegend auf die nominelle Gestapo beschränkt. Andere Gruppen, Organisationen und Personen, die unter dem Label „Gestapo“ agierten oder als solche wahrgenommen wurden, werden in Günnewigs Arbeit nicht systematisch berücksichtigt. Dadurch entsteht eine leichte Schieflage in der Argumentation, zumal der Autor selbst bemerkt, dass es hinsichtlich der Gewalt in den letzten Kriegsmonaten einer stärkeren Differenzierung der Tätergruppen bedarf. Diese Schieflage mag auch daraus resultieren, dass der Autor die „Endphasenverbrechen“ zeitlich weiter gefasst verstanden wissen möchte, wodurch die nominelle Gestapo unweigerlich als zentrale Instanz staatspolizeilicher Verfolgung in den Mittelpunkt rückt.

So holt Günnewig in seiner Abhandlung zunächst weit aus und beschreibt das Selbstverständnis der Gestapo zu Kriegsbeginn, um dann ausführlich die brutalen Verfolgungsmaßnahmen gegen die im Reich eingesetzten ausländischen Zwangsarbeiter darzustellen, ehe er dann die Situation gegen Kriegsende analysiert, als die alliierten Truppen immer weiter nach Deutschland vorrückten. Richtig ist, dass der Krieg durch die Bombardements deutscher Städte viel früher im Deutschen Reich ankam als gemeinhin gedacht. Die brutale rassistische Verfolgung von ausländischen Zwangsarbeitern durch massive Gewaltmaßnahmen ist indessen schon mehrfach in der Gestapoliteratur beschrieben worden. Günnewig legt in seiner Darstellung großen Wert auf eine genaue zeitliche Rekonstruktion und Untersuchung der örtlichen Akteure sowie deren Praktiken. Dementsprechend detailreich fällt die Darstellung aus, was von großem Fleiß zeugt, mitunter jedoch zulasten des Leseflusses geht. In den einzelnen Kapiteln, die den Gestapoeinsatz zwischen 1943 und 1945 strukturieren, hätte man sich durchaus eine kurze Zusammenfassung der (Zwischen-)Ergebnisse gewünscht. Um in der Vielzahl der Beispiele einen Überblick zu behalten, ist das Personen- und Ortsregister hilfreich. Es wird gerade jenen von Nutzen sein, die Günnewigs detailreiche Arbeit für lokalgeschichtliche Studien aufgreifen möchten.

Insgesamt bleibt Günnewig trotz seiner Kritik an bisherigen Studien innerhalb der etablierten Gestapoforschung und der dort beschriebenen zeitlichen wie zielgruppenspezifischen Einteilung der staatspolizeilichen Praxis. Dementsprechend muss auch das Bild, das die bisherige Forschung von der Praxis der Gestapo und der Gestapogewalt in der Kriegsendphase gezeichnet hat, nach Lektüre von Günnewigs Arbeit nicht neu angelegt werden. Gleichwohl kann Günnewig einige interessante Facetten ergänzen: etwa, dass die Grundlagen für die Gewalt gegen Ende der NS-Zeit spiegelbildlich zu denen von 1933 gesehen werden können. Hier wie dort ging es darum, Aufstände, Chaos und Widerstand mit allen Mitteln zu brechen. Freilich waren die Opferzahlen 1944/45 höher als zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, wie Günnewig deutlich macht. Denn in Kriegszeiten musste es darum gehen, eine Niederlage wie 1918 unbedingt zu vermeiden, die damals angeblich an der „Heimatfront“ erlitten worden war und in der Dolchstoß-Legende kolportiert wurde. So stellte Prävention durch brutale Abschreckung eine gelebte Verfolgungspraxis der Gestapo dar. Interessant sind auch Günnewigs Nuancierungen zum Kontrollverlust durch das Erleben der Flächenbombardements in deutschen Großstädten ab 1943. Immer wieder kann er zeigen, inwiefern dies zu einer Verschärfung und Brutalisierung der Verfolgungsmaßnahmen in den betreffenden Regionen führte. Je unübersichtlicher und chaotischer die Lage wurde, desto entschiedener versuchte man, die Kontrolle zu behalten. Günnewig beschreibt, wie Selbstbedeutsamkeitszuschreibungen und die Heroisierung von Gewalt die Sprache sowie das Handeln von leitenden Funktionären des Verfolgungsapparats prägten – auch ohne, dass es dafür notwendigerweise Erfahrungen im Vernichtungskrieg im Osten gebraucht hätte.

Dennoch – und dieser Punkt ist Günnewig besonders wichtig – waren die Überlebenschancen der Menschen beim Untergang des Deutschen Reiches größer als in den besetzten Gebieten in Osteuropa. Wurde dort ohne Erbarmen bis zuletzt gemordet, gab es im Reich – insbesondere beim Heranrücken der Front – durchaus Ausnahmen von der gewünschten Härte. Günnewig schreibt: „Entscheidend waren neben Zeitpunkt und Bedingungen die Persönlichkeit des Kommandierenden sowie vor allem das Bestehen einer Befehlskette.“ (S. 370) Hier reproduziert der Autor allerdings ein Deutungsmuster, das in den von ihm benutzten Quellen (Aussagen in Strafprozessen) angelegt wurde. Günnewig bemerkt weiter, dass die Sorgen eines großen Aufstandes oder sogar einer politischen Revolution keine reale Basis hatten. Die deutsche Bevölkerung war durch den Luftkrieg nicht aufständischer geworden; im Gegenteil: Auch Zivilisten beteiligten sich zuletzt an Mordaktionen. Von bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder sogar einem Vernichtungskrieg auf deutschem Boden könne daher nicht gesprochen werden. Opfer waren vor allem die rassistisch definierten Gruppen und eine „Minderheit derjenigen, die gegen Gesetze, Verordnungen oder Normen verstießen oder zumindest dessen verdächtigt wurden“ (S. 382). Genaue Opferzahlen kann auch Günnewig aus den Quellen nicht herleiten. Am Ende bleibt daher einmal mehr die nüchterne Erkenntnis, dass erst die totale Niederlage und die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten dem Terror ein Ende setzen konnten. Millionen Menschen erlebten dieses Ende jedoch nicht mehr.

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