H. Williams (Hrsg.): Tolkien and the Classical World

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Title
Tolkien and the Classical World.


Editor(s)
Williams, Hamish
Series
Cormarë
Published
Extent
XXVI, 414 S.
Price
€ 41,43
Reviewed for H-Soz-Kult by
Simon Lentzsch, Forschungszentrum Europa, Universität Trier

Auch über 50 Jahre nach dem Tod John Ronald Reuel Tolkiens und 70 Jahre nach der Veröffentlichung seines literarischen Hauptwerkes, des „Lord of the Rings“, werden Leben und Werk Tolkiens intensiv rezipiert. Tolkiens jüngster Sohn und Nachlassverwalter, Christopher Tolkien (1924–2020), machte es sich zur Lebensaufgabe, die Fragment gebliebenen Schriften seines Vaters zu ordnen und zu publizieren (woraus rund 20 weitere Bücher hervorgingen), und spätestens mit dem immensen Erfolg der Filmtrilogie Peter Jacksons (2001–2003) setzte eine intensive Auswertung von Tolkiens Stoffen in Filmen, Streaming-Serien und Computerspielen ein. Dieses umfangreiche Œuvre sowie die hierauf bezogenen Werke bieten eine breite Grundlage für Studien zu Tolkiens Werk und seiner Rezeption, die unter anderem in der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift „Tolkien Studies“ (seit 2004) sowie den Publikationen der verschiedenen internationalen Tolkiengesellschaften organisiert werden. Dabei bildet die Suche nach den historischen und mythischen Quellen und Inspirationen, auf die Tolkien bei der Schöpfung seiner fiktionalen Welt zurückgriff, einen wichtigen Zweig dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk. In diesem Zusammenhang standen zunächst vor allem Ereignisse, Stoffe und Motive aus dem europäischen Mittelalter sowie der nordischen Mythologie im Zentrum des Interesses, in den letzten Jahren wurde sich indes auch verstärkt den Quellen Tolkiens in der griechischen und römischen Antike zugewandt.1

Der hier zu besprechende von Hamish Williams herausgegebene Band fügt sich in diesen Bereich der Tolkien-Studien ein und versammelt fünfzehn Beiträge, die aus verschiedenen Blickwinkeln heraus der Frage nach Bezügen auf die „Classical World“ in Tolkiens Werk nachgehen. An eine programmatische Einleitung des Herausgebers, in der wissenschaftlicher Kontext und Ziele des Bandes dargelegt werden (S. XI-XXVI), schließt ebenfalls Williams eine informative Darstellung zu Tolkiens altphilologischer Ausbildung an Schule und Universität an (S. 3–36). Zwar galt das Hauptinteresse des Studenten und Forschers Tolkien schon bald mehr den germanischen und keltischen Sprachen, doch hinterließ die frühere ‚klassische‘ Ausbildung eine selbstverständliche und souveräne Kenntnis griechischer und römischer Geschichte und Literatur. Anschließend geht Ross Clare (S. 37–68) der Frage nach, inwieweit die Geschichte Athens im 5. Jahrhundert sowie diejenige des Imperium Romanum Einfluss auf die Konzeption der Geschichte des Inselreiches Númenor gehabt haben könnten.

Im zweiten Abschnitt des Bandes schließen sich vier Kapitel an, die sich auf Vorbilder für Tolkiens Werke in der griechischen Mythologie konzentrieren. Giuseppe Pezzini analysiert die Darstellung der gottgleichen Valar insbesondere im „Silmarillion“ und vergleicht diese mit dem Auftreten von Gottheiten im griechischen und lateinischen Epos (S. 73–103). Hierbei arbeitet er einige Ähnlichkeiten in Bezug auf Auftreten und Kommunikation mit Elben und Menschen heraus, weist jedoch auch auf Unterschiede hin, die vor allem in der generell fürsorglichen Zugewandtheit der Valar den Sterblichen gegenüber lägen. Benjamin Eldon Stevens untersucht, inwiefern sich Einflüsse antiker Berichte von „Reisen in die Unterwelt“ (katabasis) sowie Begegnungen mit den Geistern Verstorbener bei Tolkien finden lassen (S. 105–130). In diesem Zusammenhang weist er auf das tolkiensche Konzept der „Eucatastrophe“ hin, das – gespeist von Tolkiens katholischem Glauben – in Tod und Jenseits Hoffnung betont, wo dies in antiken Mythen in der Regel nicht der Fall ist. Austin Freemann beschäftigt sich mit Konzepten von pietas bei Tolkien (S. 131–163). Auch Freemann konstatiert eine deutliche Inspiration durch antike Texte, die jedoch durch Einflüsse nordischer Mythologie und – noch mehr – christliche Tugendvorstellungen überlagert seien. Peter Astrup Sund schließt den Abschnitt mit einer Analyse der Parallelen zwischen dem Orpheus und Eurydike-Mythos sowie der Geschichte von Beren und Lúthien, die Tolkien in mehreren Werken schildert (S. 165–189). Sund arbeitet dabei nachantike Bearbeitungen des klassischen Mythos als wichtige Inspiration heraus und weist zudem auf die biographischen Verbindungen zu Tolkien und seiner Frau Edith hin.

Der dritte Teil widmet sich in drei Beiträgen den Einflüssen griechischer Philosophie auf Tolkien, wobei vor allem Schriften Platons und Aristoteles als Quelle ausgemacht werden. So hebt Michael Kleu (S. 193–215) hervor, wie Platons Atlantisbericht als Vorbild für die Geschichte um Aufstieg und Fall Númenors diente, weist indes auch auf Einflüsse aus der Bibel sowie aus dem Sagenkreis um König Arthus hin. Mit den Ringen der Macht wählt Łukasz Neubauer für die Mythologie Tolkiens zentrale Artefakte als Untersuchungsgegenstand und überprüft, inwiefern sich hier Anleihen an die ebenfalls u.a. bei Platon überlieferte Erzählung vom Ring des Gyges finden lassen (S. 217–246). Er macht vor allem die Macht, den Träger unsichtbar werden zu lassen, jedoch auch den moralisch korrumpierenden Einfluss des Rings als Parallelen aus. Julian Eilmann wiederum sucht in der aus dem Nachlass herausgegebenen Erzählung Tolkiens „The Children of Húrin“ nach den Einflüssen der Tragödientheorie des Aristoteles (S. 247–268) und attestiert der Handlung eine Reihe von auch durch Aristoteles genannten Elementen.

Im vierten Abschnitt behandeln drei Aufsätze die Rezeption der Nachbarn von Griechen und Römern in Tolkiens Werken. Philip Burton erinnert an Tolkiens Expertise für indoeuropäische Linguistik und hebt hervor, dass auch die Namen von Pflanzen- und Tierarten in Tolkiens Kosmos nicht zufällig gewählt, sondern sorgfältig und unter Berücksichtigung auch anderer Sprachen als des Lateinischen und Altgriechischen kreiert wurden (S. 273–304). Einen Vergleich zwischen der Geschichte der „Völkerwanderung“ und den u.a. im „Silmarillion“ beschriebenen Migrationsbewegungen der Edain führt Richard Gallant durch (S. 305–327). Auch wenn unklar bleibt, inwiefern Tolkien diese bewusst anlegte, arbeitet Gallant eine Reihe von Parallelen heraus, von denen der von ihm identifizierte Prozess der „Noldorization“ der Edain (in Parallele zur „Romanisierung“ germanischer Verbände in der Spätphase des Imperium Romanum) interessante Perspektiven eröffnet. In gewisser Weise an diese Untersuchung anschließend vergleicht Juliette Harrisson die Geschichte des späten weströmischen Reiches und der Germanen mit derjenigen Gondors und Rohans in „The Lord of the Rings“ (S. 329–348). Während sich strukturelle Parallelen kaum verkennen ließen, arbeiteten Rohan und Gondor schließlich eng zusammen und führen das Reich von Gondor, im Gegensatz zum weströmischen Imperium, einem Happy End entgegen.

In einem kurzen fünften Teil weist zunächst Alley Marie Jordan auf Anleihen von Hirtenlyrik und der Idealisierung ländlicher Idylle in der Darstellung des Shire in „The Lord of the Rings“ hin (S. 353–363), bevor Oleksandra Filonenko und Vitalii Shchepanski Überlegungen zum möglichen Einfluss und zu Unterschieden antiker Musikkonzepte auf die in Tolkiens Werken überaus präsenten Gesänge und Liedtexte anstellen (S. 365–374).

Graham Shipley fasst die Themen des Bandes schließlich in einem resümierenden Nachwort zusammen und konstatiert, dass neben den vielleicht offensichtlicheren Einflüssen aus Mittelalter und nordischer Mythologie auch Geschichte und Literatur der Antike eine bedeutende Rolle als Inspiration für Tolkiens umfangreiche und bis heute populäre Weltenschöpfung spielen (S. 379–394). Ein Index (Namen, Orte, Sachen; S. 399–414) erleichtert den gezielten Zugriff auf einzelne Themen.

Wie diese Übersicht wohl bereits deutlich macht, werden in einigen Beiträgen in philologisch sorgfältig durchgeführter Analyse tatsächlich recht enge Anleihen Tolkiens bei antiken Texten nachgewiesen, in anderen erscheinen die Parallelen oder Ähnlichkeiten eher lose geknüpft. Dies liegt sicher auch daran, dass sich Figuren, Orte oder Ereignisse in Tolkiens Werken selten einmal tatsächlich lediglich auf eine Quelle zurückverfolgen lassen, sondern die Verknüpfung verschiedener Einflüsse, die zu einer literarischen Weltenschöpfung verbunden wurden, eher die Regel zu sein scheint. In dieser Mischung indes, dies macht der Band eindrucksvoll deutlich, lassen sich Verweise und Bezüge auf Geschichte und Mythen von Griechen, Römern und Germanen immer wieder gut erkennen. Für die Beschäftigung mit diesem Zweig der Antikenrezeption sowohl in der Forschung als auch in der Lehre bieten sich hier jedenfalls zahlreiche instruktive Beispiele.

Anmerkung:
1 Siehe etwa einige Beiträge in Brett M. Rogers / Benjamin Eldon Stevens (Hrsg.), Classical Traditions in Modern Fantasy, Oxford 2017; Michael Kleu (Hrsg.), Antikenrezeption in der Fantasy, Essen 2020, sowie die sich an ein breiteres Publikum wendende, zugleich sehr informative Darstellung von John Garth, The Worlds of J.R.R. Tolkien. The Places that inspired Middle-Earth, London 2020.

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