Seit Theodor Mommsen kann es als ein Gemeinplatz der historischen Forschung gelten, dass sich Theoderich der Große an der Spitze bedeutender Teile der weströmischen Welt als römischer Herrscher gerierte bzw. darstellen ließ. Das hier zu besprechende Buch will diese Annahme abseits der ,großen Weltpolitik‘ und der rechtlichen Stellung Theoderichs im bzw. gegenüber dem Imperium Romanum durch eine systematische Betrachtung der ,alltäglichen‘ Regierungsgeschäfte Theoderichs untermauern.
Zielsetzung der Autorin ist es zu prüfen, ob und inwiefern der Regierungsstil Theoderichs dem der römischen Kaiser des 5. Jh. ähnelte. Hierfür stützt sie sich auf das von Fergus Millar vornehmlich an der klassischen Kaiserzeit entwickelte1 und von Sebastian Schmidt-Hofner auf die Spätantike übertragene und ausdifferenzierte ,Petition-Response‘-Modell.2 Millar attestierte den römischen Kaisern einen vorwiegend reagierenden statt gestaltenden Regierungsstil, beruhend auf der Beobachtung, dass politische Initiativen häufig nicht von den Kaisern ausgingen, sondern von deren Untertanen und Beamten, die ihre Anliegen durch Eingaben den Kaisern antrugen, die wiederum kasuistisch entschieden, anstatt allgemein verbindliche Regelungen zu treffen. Die Beschäftigung mit derlei Eingaben dürfte den Großteil auch der täglichen Regierungsarbeit Theoderichs beansprucht haben, so die plausible Annahme der Autorin. Daher fokussiert sie sich in ihrer Analyse auf die Variae, jene von Cassiodor, dem quaestor sacri palatii Theoderichs, zusammengestellte und überarbeitete Sammlung offizieller Schreiben, die am ostgotischen Königshof in Ravenna entstanden sind und die in ihrer Mehrzahl Ernennungsschreiben für Amtsträger und Antwortschreiben auf Anfragen seitens der Untertanen und Beamten (sog. Reskripte) bieten.
Gegliedert ist das Buch, neben einer Einleitung (Kap. 1), in vier Hauptkapitel, wobei ein jedes dieser vier Kapitel eine der religiösen und sozial-funktionalen Gruppen in den Blick nimmt, an welche die Reskripte Theoderichs überwiegend gerichtet und mit denen für die Herrschaft Theoderichs wichtige Teile der Gesellschaft des ostgotischen Italiens beschrieben sind: jüdische Gemeinden (Kap. 2), christlich-religiöse Amts- und Würdenträger (Kap. 3), zivile (Kap. 4) und militärische Eliten (Kap. 5). Abschließend erfolgt eine vergleichende Bewertung Theoderichs mit Kaiser Justinian I. (Kap. 6).
In ihrer detaillierten Analyse gelingen der Autorin eine Fülle interessanter Detailbeobachtungen, mit denen sie zur Neubewertung so mancher Kontroverse der Forschung mit Blick auf die Herrschaft Theoderichs anregen wird. So stünden beispielsweise Theoderichs Reaktionen auf Eingaben jüdischer Gemeinden, gemessen an den Bestimmungen des Codex Theodosianus, im Einklang mit der kaiserlichen Rechtsprechung des 5. Jh. und seien keineswegs von einem etwaigen, für die damalige Zeit geradezu aufgeklärten Verständnis von religiöser ,Toleranz‘ oder ,Religionsfreiheit‘ geleitet gewesen, das mitunter in anachronistischer Weise an die ,Religionspolitik‘ Theoderichs herangetragen wurde. Ostentative Gesetzestreue und Nichteinmischung in innerkirchliche Belange und theologische Fragen bestimmten auch des Königs öffentliche Position mit Blick auf Gesuche seitens des christlichen Klerus. Dieses von der Autorin als „respektvolle Koexistenz“ (S. 72) verschiedener religiöser und konfessioneller Gruppen bezeichnete Prinzip bewertet sie als einen für die Politik Theoderichs charakteristischen Zug, mit dem er sich von anderen zeitgenössischen Herrschern wie dem homöischen Westgotenkönig Eurich und dessen Politik einer „aggressiven Missionierung“ (S. 71) abhebe, womit die Autorin allerdings die Neubewertung ignoriert, welche die Politik Eurichs in der Forschung seit Längerem erfahren hat.3 Hinter Theoderichs kompromissbereiter ,Religionspolitik‘ vermutet die Autorin politisches Kalkül: Zum einen habe Theoderich verhindern wollen, dass konfessionelle Unterschiede oder sein homöische Bekenntnis zum Gegenstand von Auseinandersetzungen würden, zum anderen habe er sich der Unterstützung der katholischen Bischöfe versichern wollen, welche oftmals den städtischen Eliten angehörten und ein erhebliches Maß sozialer und religiöser Autorität besaßen. Eine ,städtische Bischofsherrschaft‘, wonach die Bischöfe italischer Gemeinden durch die Ausweitung ihrer Zuständigkeiten über den traditionellen karitativen Bereich hinaus an die Stelle allmählich zerfallender munizipaler Magistraturen getreten waren, wie es die Forschung für das spätantik-frühmittelalterliche Gallien angenommen habe, lasse sich hingegen nicht beobachten, so die Autorin. Im Gegenteil: Theoderich adressierte weiterhin die Institutionen und Träger kommunaler Selbstverwaltung, was für deren Fortbestand im ostgotischen Italien spreche. In ihrem Vergleich Italiens mit Gallien scheint der Autorin allerdings entgangen zu sein, dass die jüngere Forschung für letzteres das Phänomen einer bischöflichen ,Stadtherrschaft‘ mittlerweile in Teilen relativiert hat und die Kontinuität römischer Verwaltungsstrukturen betont.4 Auch in Gallien waren Institutionen kommunaler Selbstverwaltung intakt geblieben und existierten munizipale Eliten weiter, wie nicht zuletzt die von Theoderich an entsprechende Empfänger in Gallien adressierten Reskripte belegen, die Walter zitiert.
Den zivilen Eliten als Trägern der Administration ist das vierte und mit Abstand umfangreichste Kapitel gewidmet (S. 109–220). Im Umgang mit diesen Eliten – im Fokus des Kapitels stehen ausschließlich Senat und Senatsaristokratie – zeige sich ebenfalls ein Beharren Theoderichs auf kaiserlichem Recht und ein Festhalten an althergebrachten Traditionen und tradierten senatorischen Privilegien. Dies könne kaum überraschen, war Theoderich doch auf die Unterstützung des Senats angewiesen. Obschon ohne wirkliche politische Kompetenzen, war der Senat Träger von Kontinuität und Quelle von Legitimität, in dem die einflussreichsten und ökonomisch potentesten Familien Italiens saßen. Theoderichs ,Personalpolitik‘ trage ,konservative‘ Züge, hätten doch bei der Besetzung hoher Ämter, neben Herkunft und Bildung, vor allem Befähigung, Erfahrung und bewiesene Loyalität der Kandidaten den Ausschlag gegeben, wie Walter anhand der Ernennungsschreiben ausgewählter Amtsträger deutlich macht. Der These Christoph Schäfers, wonach sich im ostgotischen Italien zwei senatorische Fraktionen – alteingesessene, stadtrömische, nach Ostrom hin orientierte Familien einerseits, norditalische, ,progotischen‘ Aufsteiger, die im Dienst Theoderichs Karriere gemacht hatten, andererseits – ablehnend gegenüberstanden5, erteilt sie unter anderem in Ermangelung prosopographischer Daten eine Absage.
Erweist sich Theoderich in seiner ,Religions-‘ und ‚Personalpolitik‘ als ,konservativ‘, wie die Autorin überzeugend darlegen kann, so trage seine Politik im Bereich des Militärwesens aktive, geradezu ,innovative‘ Züge. Sein ,Flottenbauprogramm‘ sowie umfangreichere Baumaßnahmen, mit denen die Wehrhaftigkeit Italiens erhöht werden sollte, zeugen nach Ansicht Walters von Theoderichs Gestaltungswillen und seinem Bewusstsein für die Herausforderungen der Zeit. Allerdings dürfte die ,Arbeitsteilung‘, nach der die Römer für die zivile, die Goten für die militärische Administration verantwortlich waren, nicht dem ,innovativen‘ Genius Theoderichs entsprungen sein, wie Walter mutmaßt (S. 295), sondern Bestimmung jenes Vertrages mit Konstantinopel gewesen sein, der die rechtliche Stellung Theoderichs im Westen der römischen Welt regelte.6
Die Autorin attestiert Theoderich einen „dezidiert römischen Regierungsstil“ (S. 294), worin sie eine bewusste Selbstbeschränkung Theoderichs, sich in seinem herrscherlichen Handeln in die Tradition der römischen Kaiser zu stellen, vermutet, hätte ihm als homöischem Gotenkönig mit ,barbarischem‘ Kriegerverband doch auch die Alternative offen gestanden, römische Traditionen zu verwerfen. Vor diesem Hintergrund sei Theoderichs ,römischer‘ Regierungsstil als eine Art ,Gesellschaftsvertrag‘ mit seinen römischen Untertanen zu sehen, der ihm die Herrschaft in Italien ermöglichte. Von der Autorin unberücksichtigt bleibt jedoch, dass Theoderich während eines langjährigen Aufenthaltes in Konstantinopel am Kaiserhof aufgewachsen und erzogen worden ist, eine Erfahrung, die ihn lebenslang geprägt haben dürfte. Ferner war Theoderich römischer Bürger, römischer Offizier und Konsul; sein Kriegerverband hatte sich auf römischem Boden formiert. Insofern stellt sich die Frage: Welche Alternativen zu einem ,römischen Regierungsstil‘ besaß Theoderich tatsächlich?
Walters Buch bietet zwar kein grundstürzendes, neues Bild Theoderichs des Großen, was auch nicht in der Absicht der Autorin lag, räumt jedoch mit einigen verbreiteten Irrtümern hinsichtlich der Herrschaft Theoderichs auf und kann durch eine gründliche, systematische Analyse der ,Innenpolitik‘ Theoderichs des Großen mit Blick auf dessen Regierungsstil vieles überzeugend bestätigen und untermauern, was bisher mitunter lediglich vermutet worden ist. In diesem Sinne trägt das Buch zu einem besseren Verständnis der Herrschaft Theoderichs des Großen bei. Auf das Fehlen neuerer Forschungsliteratur und Quelleneditionen sowie auf kleinere handwerkliche Mängel, die vornehmlich Buchsatz und Index betreffen, wurde bereits an anderer Stelle verwiesen7, sodass dies hier nicht noch einmal zu geschehen braucht.
Anmerkungen:
1 Fergus Millar, The Emperor in the Roman World (31 BC–AD 337), London 1977.
2 Sebastian Schmidt-Hofner, Reagieren und Gestalten. Der Regierungsstil des spätrömischen Kaisers am Beispiel der Gesetzgebung Valentinians I. (Vestigia 58), München 2008, kondensiert S. 16–18, S. 337–339.
3 Knut Schäferdiek, Die Kirche in den Reichen der Westgoten und Suewen bis zur Errichtung der westgotischen katholischen Staatskirche (Arbeiten zur Kirchengeschichte 39), Berlin 1967, S. 27–31.
4 Steffen Diefenbach, „Bischofsherrschaft“. Zur Transformation der politischen Kultur im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien, in: ders. / Gernot Michael Müller (Hrsg.), Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region (Millennium-Studien 43), Berlin 2013, S. 91–152, insb. S. 97–100.
5 Christoph Schäfer, Der weströmische Senat als Träger antiker Kontinuität unter den Ostgotenkönigen (490–540 n. Chr.), St. Katharinen 1991.
6 Jan Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae. The Emperor Anastasius I’s Gothic Policy (491–518) (Publikacje Instytutu Historii UAM 1), 2. Aufl., Poznań 1996 (1. Aufl. 1994), S. 110f.
7 Stefan Krautschick, Rezension zu: Sabina Walter, Der Regierungsstil Theoderichs des Großen im Spiegel der „Varien“. Stuttgart 2023 (Roma Aeterna 13), in: Plekos 26, 2024, S. 15–22, https://www.plekos.uni-muenchen.de/2024/r-walter.pdf (11.10.2024); Massimiliano Vitiello, Rezension zu: Sabina Walter, Der Regierungsstil Theoderichs des Großen im Spiegel der "Varien", Stuttgart 2023, in: Sehepunkte 23 (2023), Nr. 12, https://www.sehepunkte.de/2023/12/38494.html (11.10.2024).