Würde man sich auf eine rein werksimmanente Besprechung dieser Untersuchung von Ansgar Lauterbach beschränken, so käme man zweifellos zu einem rundweg positiven Urteil: Auf breiter Quellengrundlage werden politische Ziele und Methoden der Nationalliberalen Partei, die immer noch zu den eher vernachlässigten politischen Bewegungen des Kaiserreiches gehört, auf Reichsebene und in Preußen während der sogenannten „Liberalen Ära“ der 1870er-Jahre akribisch dargestellt und analysiert. Doch das Ganze hat eine Vorgeschichte, die die Sache in den Augen des Rezensenten etwas kompliziert macht: Bereits zur Jahrtausendwende hat Lauterbach eine seinerzeit durchaus beachtete Dissertation mit recht ähnlicher Thematik vorgelegt.1 Der Sichtweise seines „Doktorvaters“ Dieter Langewiesche, der hier ein lobendes Geleitwort beisteuert (S. 5f.), war sie naturgemäß eng verbunden.2
Warum sich Lauterbach zum selben Thema ein Vierteljahrhundert später nochmals so ausführlich äußert, ist nicht ganz leicht einzuschätzen. Das liegt am Verhältnis der beiden Publikationen zueinander: Weder handelt es sich um eine Art Neuauflage noch um ein völlig neues Werk. Gegen ersteres spricht, dass der Untersuchungszeitraum nun auf die 1870er-Jahre beschränkt ist und die nationalliberale Vorgeschichte seit der Spaltung der Fortschrittspartei am Ende des preußischen Verfassungskonflikts ebenso außenvor gelassen wird wie die spätere Aufsplitterung der Nationalliberalen 1879/80. Auch ist der formale Aufbau ein anderer, statt sieben Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln werden nun 18 Abschnitte sehr unterschiedlichen Umfangs dargeboten. Zudem wird des Öfteren auf die frühere Untersuchung verwiesen.
Man kann aber wohl auch nicht von einer völligen Neufassung sprechen: Die Forschungsliteratur ist aktualisiert worden, was sich jedoch mehr auf Veröffentlichungen allgemein zum Kaiserreich als speziell zur „Liberalen Ära“ und zum Nationalliberalismus bezieht. Verbreitert worden ist auch die Quellenbasis, vor allem um Material zum linken Parteiflügel und zum Agieren Bismarcks und der von ihm geführten Institutionen. Beides hat offenbar Einfluss auf die jetzige Sichtweise Lauterbachs. Die hauptsächliche Quellengrundlage bilden aber nach wie vor die Stenographischen Protokolle des Reichstags und die den Nationalliberalen nahestehende Presse, wenn auch verstärkt ergänzt um Archivalien, insbesondere Briefe der Akteure.
Auch der Aufbau der Darstellung orientiert sich nach einigen grundlegenden Reflexionen wiederum an der Chronologie und widmet sich dann „ereignisnah“ in 13 Abschnitten den Gesetzgebungsverfahren zwischen Kulturkampf und der finanz- und koalitionspolitischen Wende Bismarcks im Spätwinter 1878. Und wenn der Titel einen konzeptionellen Neuansatz in Aussicht stellt, so ist das doch nur die halbe Wahrheit: Die jetzt leitende Idee, dass die nationalliberale Strategie auf den gleichzeitig von den Verfassungsrechtlern, insbesondere Paul Laband propagierten Grundsatz vom „Vorrang der Rechtsfindung vor der Rechtssetzung“ (S. 22) zurückging, war früher auch schon angedacht worden.3 Dahinter stand Lauterbach zufolge das Ziel einer „stille[n] Parlamentarisierung, ohne das hergebrachte Modell der konstitutionellen Monarchie grundsätzlich in Frage zu stellen“ (S. 24). Daraus entwickelte sich folgende Strategie: „Die tiefgreifenden Änderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der nach-revolutionären Jahre in Deutschland – die Verfassungsrealitäten eben – sollten auf dem Wege der einfachen Gesetzgebung eingefangen und inhaltlich mit liberalen Schwerpunkten in der Verwaltungspraxis vorangetrieben werden.“ (S. 23) Ansatzpunkt dafür war die Reichspolitik, von der aus per Gesetzgebung und Ausbau der Reichsinstitutionen respektive Einsetzung von Reichsministern vor allem das antiliberale Bollwerk Preußen gewissermaßen von oben geknackt und zugleich der Einfluss des Reichstags gestärkt werden sollte (vgl. S. 92, 243 u. 256f.). Diese Strategie ist bekanntlich nicht aufgegangen, die endgültige Parlamentarisierung des Reiches und Preußens wurde bis weit in den Ersten Weltkrieg hinein aufgehalten.
Dass es dazu kam bzw. nicht kam, schreibt Lauterbach einerseits dem politischen Geschick und der Skrupellosigkeit Bismarcks zu, „diese[r] alles und alle überragende[n] Persönlichkeit“ (S. 252), die immer wieder die unterschiedlichen politischen Kräfte zu seinen Gunsten gegeneinander ausspielte. Aber er nimmt dafür auch große Teile der nationalliberalen Fraktion in Verantwortung. Hierin ist vielleicht die entscheidende Änderung zu früher zu sehen, eine gewisse interpretatorische Neuausrichtung. Insgesamt wird das Agieren der Nationalliberalen kritischer gesehen, weniger vom Ansatz, als von der Umsetzung her. Eine konsequente Verfolgung des Kurses der „stillen Parlamentarisierung“ – von Lauterbach früher in Anlehnung an die Fußball-Sprache „kontrollierte Offensive“ genannt4 – sieht er jetzt eigentlich nur auf Seiten des linken Parteiflügels, der sich vornehmlich aus Alt-Preußen konstituierte und die Erfahrungen des Verfassungskonflikt unmittelbar mitgemacht hatte (vgl. zum Beispiel S. 100f. u. 134f.). In diesem Zusammenhang kommt er auch zu einer etwas anderen Bewertung des „Kulturkampfes“, der sowohl die allgemeine Verrechtlichung wie gewünscht als auch die Einheitlichkeit der Partei gestärkt habe, wenn auch auf Kosten des Zugangs zu potentiellen Wählern (vgl. S. 62–68 u. 254f.).
Weniger gut kommen der rechte Flügel und insbesondere die Parteimitte weg. Gerade am Parteivorsitzenden Rudolf von Bennigsen wird in der entscheidenden Phase 1877/78 kaum ein gutes Haar gelassen (vgl. S. 222f., 228f. u. 251). Das erscheint nicht ganz gerechtfertigt, weil erstens auf Bennigsen bei den Verfassungsberatungen für die norddeutsche Bundesverfassung eine – hier ausgeklammerte – entscheidende Weichenstellung zurückging, die überhaupt erst die „kontrollierte Offensive“ ermöglichte.5 Zweitens verdrängt es auch etwas, dass Bennigsen als früherer Vorsitzender des Nationalvereins und dann der Nationalliberalen Partei sein vornehmstes Ziel in der Erhaltung der Parteieinheit sah. Das war angesichts von deren sozialer und geographischer Heterogenität – die auch Lauterbach konstatiert (S. 20 u. 46) – keine leichte Aufgabe, zumal die gemeinsame Linie dann auch zwecks Mehrheitsbildung nach links – zu den Fortschrittsliberalen – und/oder nach rechts – zu den Freikonservativen – anschlussfähig sein sollte. Dieser Hintergrund erklärt auch, warum Bennigsen in den Verhandlungen um seine Ministerkandidatur Ende 1877 die Einheit der Partei über seine persönliche Karriere stellte und sich eben nicht von Bismarck „herausloben“ ließ.
Die letztlich entscheidende, aber nicht zu beantwortende Frage ist, ob bei einer anderen „Performance“ aller Liberalen – die Nationalliberalen verfügten selbst auf dem Höhepunkt ihres politischen Erfolges über keine parlamentarische Mehrheit – eine andere Entwicklung zu erreichen gewesen wäre. Lauterbach sieht es jetzt offenbar so, davon zeugt das Urteil von der vertanen Chance am Schluss (S. 265), auch gerade im Vergleich zum eher positiven Fazit früher.6 Dagegen ließe sich nicht nur das kolossale Gegengewicht in der Person des Reichskanzlers einwenden, dem es vor allem um die Festigung der eigenen Machtposition ging, sondern auch die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen: Die Änderung der wirtschaftlichen Großwetterlage nach 1873 und die damit einhergehende zunehmende Kritik am Wirtschaftsliberalismus wird von Lauterbach selbst immer wieder betont, ebenso die Sprengkraft, die das gerade für die Nationalliberalen hatte (vgl. S. 120, 131ff. u. 228f.). Nicht thematisiert wird, dass die nationalliberale Präponderanz der 1870er-Jahre auf einer wackeligen (Wähler-)Basis beruhte: Deutschland hatte zwar seit 1867 bzw. 1871 ein demokratisches Wahlrecht, es wurde aber zunächst nur von der Hälfte der Wahlberechtigten ausgeübt. Die bald einsetzende Massenpolitisierung kam gerade nicht den Liberalen, sondern ihren Opponenten zugute.7 Schon Bismarck suchte dies erfolgreich zu instrumentalisieren. Insofern lag bereits – wie auch Lauterbach eingesteht (S. 252) – eine gewisse „Tragik“ über diesem Versuch, die Verfassungsgrundlagen stillschweigend in Richtung Freiheit und Partizipation zu ändern: War das überhaupt von einer Mehrheit der partizipationsberechtigten Bürger zu diesem Zeitpunkt gewollt?
Kurzum, Lauterbachs neuerliche Wortmeldung mit ihrer Akzentverschiebung regt zweifellos weiterhin zu Diskussionen um die Entwicklungsmöglichkeiten des Kaiserreiches und die Rolle des (National-)Liberalismus dabei an. Nicht nur deshalb ist es zu begrüßen, dass seine akribischen Analysen in abgewandelter Form wieder greifbar sind.
Anmerkungen:
1 Ansgar Lauterbach, Im Vorhof der Macht. Die nationalliberale Reichstagsfraktion in der Reichsgründungszeit (1866–1880), Frankfurt am Main 2000.
2 Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, Kap. IV,3.
3 Vgl. Lauterbach, Vorhof, S. 14f.
4 Ebd., Kap. 5.
5 Vgl. ebd. S. 96ff.
6 Vgl. ebd. S. 342f.
7 Vgl. dazu Langewiesche, Liberalismus, Kap. IV,2.