Der neunte Band der kompakten, von Elena Dagrada herausgegebenen Taschenbuchreihe „Cinema / Origini“ zu Wegmarken der Filmgeschichte ist der italienischen Verfilmung von Dantes „Inferno“ aus dem Jahr 1911 gewidmet. Mit 1.400 Metern Länge und einer Projektionsdauer von rund 75 Minuten ist „Inferno“ der erste Langfilm aus italienischer Produktion. Er wurde ab 1. März 1911 mit Unterstützung der Dante-Gesellschaften im In- und Ausland erfolgreich aufgeführt – vorzugsweise in Theatern und Varietétheatern. Die Produktionskosten betrugen 100.000 Lire, ein ungewöhnlicher Aufwand, der das bürgerliche Theaterpublikum überzeugen sollte, das zu Film und Kino noch skeptisch bis feindlich eingestellt war. Mit geringen Auslassungen setzten die beiden Regisseure von „Inferno“ die ersten 34 Gesänge von Dantes „Divina Commedia“ werkgetreu ins Bild, nach den von Gustave Doré 1861 geschaffenen Holzstichen, die seinerzeit die maßgeblichen Buchillustrationen zur „Göttlichen Komödie“ waren. In ihrer Filmkritik von „Inferno“ bezeichnete die einflussreiche neapolitanische Schriftstellerin Matilde Serao die Holzstiche von Doré als den „besten grafischen Kommentar“ zu Dantes „Divino Poema“ (göttlichem Gedicht). Sie sah die Leistung von „Inferno“ vor allem darin, auf der Leinwand „das Werk Dorés wiedererstehen zu lassen“ (S. 84–85).
Die in der Hölle gequälten Sünder und Sünderinnen werden teils gänzlich nackt gezeigt. Dies war in der damaligen Kinematographie völlig unüblich, ließ sich aber durch Dantes fraglos hohe Kunst und die Vorlagen von Doré legitimieren. „Inferno“ meldete damit selbst Kunstanspruch an – sozusagen auf Augenhöhe mit der künstlerisch anerkannten Nacktheit in den Bildenden Künsten. Obwohl sie in der Hölle ihre 'gerechte Strafe' erlitten, konnten die gequälten Leiber trotzdem als obszön empfunden werden. Auf die zeitgenössische Rezeption dieser Ambiguität geht der Band nicht ein.
Ausführlich erläutert der Autor die nationalistische Stoßrichtung von „Inferno“: In Italien gilt Dante spätestens seit den Kriegen gegen die habsburgische Herrschaft als pater patriae. Als emblematisches Schlussbild des Films war das Dante-Denkmal im seinerzeit österreichischen Trient eindeutig zu verstehen und bekam vom bürgerlichen Publikum der ersten groß angekündigten Aufführungen den beabsichtigten Sonderapplaus – als politischer Appell für den Irredentismus, die Forderung nach Eingemeindung der italienischsprachigen Gebiete der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ins Königreich Italien. „Inferno“ wurde im Herbst 1914 erneut in den italienischen Verleih gebracht und musste deswegen der inzwischen installierten Filmzensurbehörde vorgelegt werden, welche die Entfernung des Schlussbilds verfügte – aus Rücksicht auf das noch bestehende Bündnis Italiens mit Österreich-Ungarn. Zensur und Aufführungen von „Inferno“ 1911 in Österreich-Ungarn und Deutschland behandelt der Autor leider nicht.
Der in Neapel ansässige Filmverleiher Gustavo Lombardo hatte bereits im Herbst 1910 gegen einen nicht bekannten Betrag die Weltrechte an dem Film „Inferno“ gekauft. Er vergab exklusive Lizenzen an Filmverleiher im In- und Ausland, wobei er für Italien erstmals ein System regionaler Verleihbezirke installierte, und hat angeblich zumindest auf dem italienischen Heimatmarkt unglaublich hohe Summen erlöst. So soll der Verleih Filoteo Alberini & C. die Monopolrechte für die Region Rom für sage und schreibe 30.000 Lire gekauft haben – laut Lombardos hauseigener Branchenzeitschrift Lux. Da sich die Fertigstellung von „Inferno“ verzögerte, nutzte Lombardo die Zeit für eine nie dagewesene Werbekampagne und verbreitete Vorschusslorbeeren ohnegleichen.
Dass „Inferno“ mit Verzögerung herauskam, war vor allem den aufwändigen Trickaufnahmen geschuldet, die spezielle Bühnenvorrichtungen erforderten. Ausgeführt in der Kurzfilmtradition der französischen féeries, die in großer Zahl vor allem von Georges Méliès sowie von Pathé und Gaumont inszeniert wurden, waren sie dem Stoff und den Vorlagen von Doré angemessen. Allerdings hatte sich das Attraktionskino der Bühnen- und Filmtricks 1911 bereits überlebt: Die italienische Langfilmproduktion war in den Folgejahren dominiert von der ersten Welle so genannter Sandalenfilme, welche literarisch bearbeitete Begebenheiten aus der griechischen und vor allem römischen Antike mit monumentaler Architektur, Massenszenen und archäologisch verbürgten Interieurs, Kleidern und Frisuren als kinematographische Attraktionen wieder aufleben ließen.
Giovanni Lasi präsentiert „Inferno“ zurecht als ein hybrides Opus: Auf der einen Seite war dieser erste italienische Langfilm ästhetisch veraltet, auf der anderen Seite leitete er in Italien durch die ungewöhnliche Länge und den innovativen Vertrieb im Monopolverleih den Medienumbruch von den abwechslungsreichen Kurzfilmprogrammen zur Programmdominanz des langen Spielfilms ein. Im Hinblick auf den nationalistischen Zeitgeist des italienischen Irredentismus war diese Verfilmung des bekannten Hauptwerks des mittelalterlichen Dichters politisch hochaktuell. Wer sich mit dem Film „Inferno“ auseinandersetzen möchte, ist auf die 2007 restaurierte Fassung der Cineteca di Bologna verwiesen. Wer zu der inzwischen vergriffenen italienischen DVD keinen Zugang hat, muss sich mit englischen Versionen auf YouTube begnügen.