Französische Geschichtswissenschaft und französische Geschichtsschreibung stehen schon länger nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit deutscher Historikerinnen und Historiker. Das demonstriert auch der Rezensionsteil von H-Soz-Kult, wo nur sporadisch französische Publikationen besprochen werden. Das hat nicht nur mit – mangelnden – Sprachkenntnissen und der Durchsetzung des Englischen auch als geistes- und kulturwissenschaftlicher Lingua franca zu tun, sondern auch, so will es scheinen, mit einem nachlassenden wechselseitigen Interesse. Gewiss, Institutionen wie das Deutsche Historische Institut in Paris oder das Centre Marc Bloch in Berlin pflegen Austausch, Dialog und Kooperation, und hinzu treten bilaterale Forschungsprojekte. Diese aber repräsentieren keine breite Dynamik. Für die Entwicklung der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland verheißt das allen Beschwörungen der deutsch-französischen Freundschaft zum Trotze nichts Gutes.
Wie sehr der Blick auf die französische Geschichtswissenschaft und gerade auch ihre disziplinäre oder teildisziplinäre Selbstverständigung lohnt, zeigt das jüngste Buch von Laurence Badel, die an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne) den Lehrstuhl für die Geschichte der internationalen Beziehungen innehat und auch Präsidentin der stark französisch (und italienisch) geprägten Commission for the History of International Relations (CHIR) im Welthistorikerverband ist. 2021 hat Badel eine Geschichte der europäischen Diplomatie(n) veröffentlicht, ein innovatives Unterfangen, das sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass es die Thematik in eine genuin europäische Perspektive stellt, ohne dabei die Fundamentalprozesse der Nationalisierung und der Nationalstaatsbildung zu marginalisieren.1 Ein ähnlicher Ansatz charakterisiert auch ihr neuestes Buch. Darin korreliert sie die europäische Geschichtsschreibung zur Geschichte internationaler Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert mit der europäischen Geschichte.
Im ersten Kapitel zur Genese der Teildisziplin wird deutlich, dass diese nicht immer teildisziplinär bescheiden daherkam, sondern oftmals mit einem hegemonialen Anspruch. Die nicht nur deutsche Idee vom „Primat der Außenpolitik“ ist dafür ein gutes Beispiel. Im zweiten Kapitel folgen Bezugnahmen auf andere, verwandte oder benachbarte Forschungsfelder (zum Beispiel die transnationale oder die Globalgeschichte), nicht bestimmt von Abgrenzungsabsichten, sondern eher von der Idee, trotz aller Unterschiede auch gemeinsame Interessen erkennbar werden zu lassen. Auch die Beschäftigung mit (teil-)disziplinären Bezeichnungen wie der im deutschen Sprachraum heute wichtigen Internationalen Geschichte oder der eher anglo-amerikanischen Diplomatic History hebt eher auf Verbindendes denn auf Trennendes ab, das gleichwohl benannt wird. Das dritte Kapitel führt in analytische und narrative Leitkategorien ein: Zeit und Zeitlichkeit, Raum, Ordnung, System, Staat oder Macht, bevor sich das vierte Kapitel der Rolle des Individuums beziehungsweise individueller Akteure zuwendet. Hier geht es gerade nicht, zumindest nicht primär, um die Figur des „Großen Mannes“, sondern um Rollen, Funktionen, Aufgaben und ihre Träger. Wo die Geschichte internationaler Beziehungen stattfindet, fragt Badel im fünften Kapitel, womit sie einen eher engen, zwischen-staatlichen Begriff des Internationalen nicht zuletzt kulturgeschichtlich deutlich ausweitet. Abschließend geht es um die Semantik und vor allem die Metaphorik des Internationalen und der internationalen Beziehungen, um Begriffs- und Beschreibungssprache.
Jenseits seiner einzelnen Kapitel ist das Buch von der These geleitet, dass historische Forschung und Historiographie sich stets in der Auseinandersetzung mit ihrer Zeit entwickeln und verändern, dass also die jeweilige Zeit, die jeweiligen Wahrnehmungen der Gegenwart auf Prämissen, Grundüberzeugungen, Interessen und Konzepte des Faches einwirken. Das klingt auf den ersten Blick wenig überraschend, wird aber interessant angesichts der dem Buch zugrunde liegenden europäischen Perspektive. Diese hält die Verfasserin nicht davon ab, nationalhistoriographische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, denn auf kaum einem anderen Feld wurde die Geschichtsschreibung so massiv von Idee und Realität der Nationalstaatlichkeit geprägt wie auf dem Feld der internationalen Politik. Naturgemäß liegt hier ein gewisser Akzent auf der französischen Historiographie: von deren Ranke-Rezeption im 19. Jahrhundert bis zu wichtigen Vertretern der französischen Geschichte der internationalen Beziehungen wie Pierre Renouvin oder Jean-Baptiste Duroselle. Aber insgesamt wird deutlich: Die Existenz der europäischen Nationalstaaten und eines sich immer stärker ins Globale erweiternden europäischen Staatensystems konstituierte den zentralen Gegenstandsbereich der Forschung. Das schließt europäische Grundgemeinsamkeiten nicht aus, wie Badel beispielsweise an der Herausbildung der Analysekategorien des Staatensystems oder der Ordnung darlegt, die auch durch gemeinsame europäische Erfahrungen bestimmt waren, nicht zuletzt durch die Erfahrung des Krieges und die Herausforderung des Friedens. Diesen Analyse- und Reflexionsstrang führt sie fort bis zur „Zeitenwende“ – Badel verwendet das deutsche Wort –, hütet sich aber vor der Versuchung in die wohlfeilen Forderungen nach einer realpolitischen, geopolitischen oder gar kriegszentrierten Wende der Internationalen Geschichte einzustimmen.
Das Buch ist europäisch beziehungsweise von Europa aus gedacht; die Geschichte der internationalen Beziehungen (als Untersuchungsfeld wie als historische Teildisziplin) ist – zunächst – eine europäische, eine westliche beziehungsweise nördliche, in der die europäischen Staaten sowie die USA und ihre Gesellschaften im Zentrum stehen. Von Welt- oder Globalgeschichte grenzt Badel die Geschichte der internationalen Beziehungen deutlich ab. Dafür gibt es gute Argumente, die auch dadurch an Plausibilität gewinnen, dass sie sich nicht mit einem Dominanzanspruch verbinden. Der Preis dafür ist vermutlich, dass sich das Buch nur vergleichsweise knapp mit der Frage auseinandersetzt, was denn ein post- oder dekolonialer Blick auf die und für die Geschichte der internationalen Beziehungen bedeutet. Denn für einen solchen Blick ist nicht nur die Globalgeschichte zuständig.
Weil Badel im Kern einen historiographiegeschichtlichen Ansatz als Methode wählt, zeichnet sich ihr Buch auch dadurch aus, dass es eine immense Fülle an Literatur (bis ins 18. Jahrhundert zurückreichend) erfasst und analysiert. Auf breiter Basis stellt sie die Geschichte der Fachdebatten dar. Dadurch gelingt es ihr, die Zeitgebundenheit der Ansätze, Kategorien und Konzepte zu demonstrieren und zugleich herauszuarbeiten, in welchem Maße die nationalen, nationalstaatlichen Historiographien miteinander verknüpft waren und sich kontinuierlich aufeinander bezogen. Das überwölbte und untergrub zugleich die historiographische Nationalisierung und trug zu ihrer Europäisierung (als Transnationalisierung) bei. Und dennoch war auch die Geschichte der internationalen Beziehungen spätestens seit dem 19. Jahrhundert Geschichte im Dienste nationaler Staaten und der Nationalisierung ihrer Politik. Diese Spannung durchzieht die Darstellung. Es ist die gleiche Spannung, die auch seit Ende des Zweiten Weltkriegs die europäische Integration charakterisiert. Bis heute ist diese bestimmt von europäischer Gemeinsamkeit und Europäisierung einerseits und (Re-)Nationalisierung beziehungsweise Selbstbehauptung des Nationalen (beispielsweise in der Denkfigur der Souveränität) andererseits. Selbst die Auseinandersetzung mit jüngeren Entwicklungen der Teildisziplin lässt klar hervortreten, dass bestimmte Analysekategorien, beispielsweise im Kontext des cultural turn, zwar einerseits geeignet sind, den nationalen, nationalstaatlichen und nationalhistorischen Denkrahmen zu überwinden, dass sie andererseits aber auch die Durchsetzung und Persistenz des nationalen Paradigmas erklären helfen. Gerade diese Perspektive macht – neben vielen Einzelbeobachtungen – das Buch zu einer wichtigen und lohnenden Lektüre. Es wäre zu hoffen, dass es auch hierzulande wahrgenommen wird. Die Voraussetzungen dafür sind leider nicht so gut.
Anmerkung:
1 Laurence Badel, Diplomaties européennes. XIXe-XXIe siècle, Paris 2021.