Der von Richard Kühl, Daniela Link und Lisa Heiberger herausgegebene Band „Sexualitäten und Geschlechter – Historische Perspektiven im Wandel“ erscheint zu einer Zeit, in der die Kategorie Geschlecht beziehungsweise „Gender“ erneut zum Kampfbegriff geworden ist. In Hessen und Bayern ist trans⁎ inklusives Gendern inzwischen in staatlichen Institutionen verboten (wenn auch in der universitären Forschung weiterhin von der Wissenschaftsfreiheit beschützt). Angegriffen werden damit Grundrechte queerer Menschen in diesem Land, aber auch die Daseinsberechtigung wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit queeren Identitäten und queerer Geschichte – und somit leistet das vorliegende Werk allein mit seiner Existenz einen wichtigen Beitrag zum Diskurs.
Basierend auf einer interdisziplinären Ringvorlesung zu „Sexualitäten und Geschlechter“ im Sommersemester 2022 an der Universität Düsseldorf bringen die Herausgeber:innen Richard Kühl, Daniela Link und Lisa Heiberger 13 sehr heterogene Kapitel zusammen. Von einem Beitrag zur Ideengeschichte des Begriffs „Gender“ (von Antonia Wegner), über ein spannendes Kapitel zu Cross-Dressing und Travestie im Ersten Weltkrieg (Julia B. Köhne und Britta Lange) bis hin zu einer Diskussion von Repräsentation von Menschen mit Autismus in Film und Fernsehen (Daniela Link) wird hier ein extrem großes Themenspektrum abgebildet. An dieser Stelle findet sich leider auch direkt der Hauptpunkt meiner Kritik, in der zugegebenermaßen auch viel Systemkritik an der deutschen Wissenschaft steckt: Wäre es eventuell sinnvoll gewesen, diese Inhalte entweder in gänzlich anderer Form (etwa als Zeitschriftenartikel) zu publizieren, oder zumindest etwas selektiver und vor allem intensiver zu redigieren?
Ohne Frage haben alle diese Beiträge Interessantes und Wichtiges zu erzählen, und tun dies meist auch gut lesbar, aber der Gesamteindruck des Bandes bleibt leider durchwachsen, da der rote Faden nur wenig erkennbar ist. Zu oft lesen sich außerdem die Kapitel noch wie die Vorlesungen, die sie nun schließlich einmal waren, da ein Vortrag und ein Aufsatz nun einmal nicht dieselbe Textform sind (oder sein sollen). Besonders auffällig ist da auch eine teils oberflächliche Auseinandersetzung mit Fachliteratur besonders aus dem englischsprachigen Raum. Darin zeigt sich ein durchaus systemisches Problem, das in der deutschen Geschichtswissenschaft an verschiedenen Stellen zu beobachten ist. Steff Kunz betont in seinem Beitrag (zurecht!), dass Queer History nach wie vor im deutschen Wissenschaftsbetrieb marginalisiert ist, „auch wenn in den letzten Jahren immer mehr Publikationen zu diesem Thema erscheinen“ (S. 258). Kunz erwähnt dann kursorisch Anna Hájkovas Arbeiten und zitiert unter anderem im eigenen Aufsatz auch neuere wichtige Publikationen von Jennifer Evans und Laurie Marhoefer, um nur zwei Namen zu nennen. Aber generell ist hier die Crux: Es fehlt im Gesamteindruck dieses Sammelbandes viel an neuerer Fachliteratur aus der queeren und der Sexualgeschichte, die sowohl in und außerhalb Deutschlands – auf Deutsch wie auf Englisch – zu diesen Themen erschienen sind. Queere Geschichte mag an deutschen Universitäten weiterhin marginalisiert sein, aber solang die transatlantische Fachliteratur nur einseitig rezipiert wird, riskiert man einen Zirkelschluss.
Besonders verwirrt dies, da der vorliegende Band generell bilingual angelegt ist: Es wurden auch komplett englischsprachige Beiträge publiziert und jedes (auch deutschsprachige) Kapitel nur mit einem rein englischen Abstract versehen. Generell ist diese sprachliche Vermittlungsarbeit zu begrüßen, aber nach welchen Kriterien hier jeweils die Publikationssprache gewählt wurde, erschließt sich der Leser:in nicht ganz.
Auch merkt man es dem Band an mancher Stelle an, dass er in recht strammen Tempo publiziert und eventuell auch von Verlagsseite nicht gründlich genug redigiert wurde, seien es Tippfehler oder falsch formatierte Links in Fußnoten. All das, möchte ich noch einmal betonen, ließe sich mit mehr Zeit und einigen Runden von Feedback sowie Redaktionen vermeiden – aber genau diese Zeit fehlt uns oft im heutigen Wissenschaftsbetrieb; auch Fachverlage haben zunehmend weniger Ressourcen. Das ist eben im vorliegenden Fall besonders schade, weil viele Kapitel so wichtige sowie spannende Themen aushandeln und auch einigen Early-Career-Autor:innen Platz eingeräumt wurde.
Gleichwohl möchte ich nach aller Kritik noch einmal betonen, dass die Kapitel einen durchaus wichtigen Beitrag zur queeren Geschichte, Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte leisten. Besonders hervorzuheben ist beispielsweise Lisa Heibergers Beitrag zu bisexuellen Frauen anhand der bekannten Zeitschrift „Die Freundin“. Wie Heiberger auch argumentiert, bleiben bisexuelle Menschen oft unsichtbar oder tokenisiert, selbst innerhalb der queeren Community – durch ihre Studie wird klar, dass dies bereits vor über einem Jahrhundert der Fall war. Bisexueller Geschichte wird hier also genauso wie trans⁎ Geschichte Raum gegeben. So haben die Herausgeber:innen unter anderem einen annotierten Auszug aus den Memoiren von Gerd Katter – einem trans⁎ Mann, der Patient im berühmten Institut für Sexualwissenschaft war – abgedruckt. Erfrischenderweise bleiben jedoch nicht zu viele der Beiträge in dieser viel bearbeiteten Zeit der Weimarer Republik verhaftet: So gibt es beispielsweise mit dem Kapitel zum Thema Anti-Baby-Pille von Kris Vera Hartmann, das der Leitfrage „Macht die Pille frei?“ nachgeht, unter anderem auch spannende Ausflüge in die Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre. Auch spannend ist die Analyse des 1981 in den USA erschienenen „Wellness Workbook“ im Beitrag von Anna Michaelis, die interessante Kontexte aufzeigt.
Besonders überzeugt hat mich der hochaktuelle Beitrag von Katrin M. Kämpf zur Instrumentalisierung von Pädophilie in queerfeindlichen Diskursen in Deutschland am Beispiel der in München kontrovers diskutierten Drag-Lesung im Juni 2023. Womit sich auch der Kreis zu meiner einleitenden Bemerkung zur brisanten Lage der Thematik schließt. Es sind gerade diese Beiträge, die für sich stehend spannendes Material auch für Unterrichtsstunden geben sollten – in mein eigenes Seminar zur „History of Sexuality“, dass ich an der Universität Kassel schon mehrmals gegeben habe, werden sie sicher Einzug finden.
Daher möchte ich schlussendlich eine Empfehlung aussprechen, da besonders für die Lehre und Vermittlungsarbeit sehr viel Potenzial in diesem Band steckt. Und dank der sowohl englisch- als auch deutschsprachigen Texte sollte es bei entsprechender Werbung auch möglich sein, diese Forschung über die Landesgrenzen hinaus zu tragen. Während mein Gesamteindruck aufgrund der Publikationsform daher durchwachsen bleibt, habe ich dennoch keinen Zweifel daran, dass die Forschung bei Kolleg:innen aus der Geschichts- wie Kulturwissenschaft Anklang finden wird – und finden sollte.