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Titel
Un-Friedensstaat DDR. Mobilmachung, Kriegsbereitschaft und Militarisierung zwischen 1970 und 1990


Autor(en)
Mühle, Johannes
Reihe
Krieg in der Geschichte
Erschienen
Paderborn 2024: Brill / Schöningh
Anzahl Seiten
XII, 502 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christian Th. Müller, Historisches Institut, Universität Potsdam

Das Mobilmachungssystem der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war bislang lediglich in groben Zügen bekannt. In der bisherigen Forschung zur Militärgeschichte der DDR wurden zwar immer wieder Einzelaspekte insbesondere der militärischen Mobilmachung thematisiert. Eine Gesamtdarstellung der letztlich alle gesellschaftlichen Bereiche tangierenden Vorbereitungen zur „Überführung des Landes“ (S. 196) in den Verteidigungszustand bildete jedoch auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR ein Desiderat. Johannes Mühle hat sich nun in seiner Mannheimer Dissertation dieser komplexen Herausforderung gestellt.

Seine Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Das Einleitungskapitel gibt zunächst einen knappen Überblick des Themenfeldes, der Literatur- und Quellenlage sowie des Aufbaus der Arbeit. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis: „Mobilmachung ist nie allein militärisch.“ (S. 1) Gleichzeitig erblickt Mühle im System der Mobilmachungsvorbereitungen „ein ideales Instrumentarium […], welches einen einzigartigen Zugang zur viel beschworenen, aber nie wirklich erfassten Militarisierung der DDR eröffnet“ (S. 2). Diese in einem quantitativen Ansatz zu vermessen, ist daher sein erklärtes Anliegen. Dazu widmet er mehr als die Hälfte der Einleitung der „Systematisierung des Militärischen in der DDR“ (S. 12). Ausgehend von den Begriffen Militarisierung und Militarismus diskutiert er kenntnisreich vor allem die Nachteile der bisherigen Kriterienkataloge, um schließlich einen eigenen 9-Punkte-Katalog zu formulieren. Allerdings wird nicht recht deutlich, warum dieser die Militarisierung in der DDR tatsächlich besser erfassen sollte. Überdies zeigt sich hier bereits ein grundlegendes Problem des quantitativen Ansatzes und der vorliegenden Arbeit insgesamt – das des Bewertungsmaßstabes. Ab wann ist ein Sicherheitsbedürfnis „übersteigert“ (S. 23) und was sind „die Maße des Vertretbaren“ (S. 24), wenn es um den Zugriff des Militärs auf gesellschaftliche Ressourcen geht?

Den inhaltlichen Schwerpunkt der Arbeit bilden die mit je etwa 180 Seiten sehr langen Kapitel 2 und 3, in denen Mühle zunächst die chronologische Entwicklung des Mobilmachungssystems darstellt, um dann die drei Hauptbereiche der Mobilmachungsplanung – militärische Mobilmachung, Sicherstellung der Operationsfreiheit sowie Vorbereitung von Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft – näher zu analysieren.

Wie Mühle am Anfang von Kapitel 2 betont, war das DDR-Mobilmachungssystem „auf permanente Weiterentwicklung und Perfektion ausgelegt“ (S. 31). Weitgehende Kontinuität herrschte demgegenüber bei der von der Sowjetunion übernommenen Bedrohungsperzeption und deren ideologischen Grundlagen in Lenins Imperialismustheorie. Die Szenarien für einen möglichen Krieg zwischen NATO und Warschauer Vertragsorganisation (WVO) gingen daher stets von einem Angriff der NATO aus, welcher umgehend mit einer massiven Gegenoffensive beantwortet werden sollte. Angesichts der sich um 1980 immer deutlicher abzeichnenden technologischen Überlegenheit der NATO wurden deren Erfolgschancen jedoch zusehends zweifelhaft. Die Folge war der sukzessive Übergang zu auch operativ-taktisch defensiven Konzepten, welcher seinen Abschluss in der weitgehend defensiven Militärdoktrin von 1987 fand.

Das Territorium der DDR als Frontstaat zur NATO fungierte dabei als Aufmarsch- und seit 1980 zunehmend als potentielles Kampfgebiet. Daraus ergaben sich die beiden Kernaufgaben des Mobilmachungssystems – das Aufbringen von Truppenkontingenten sowie die Bereitstellung von Ressourcen für die Sicherstellung der Operations- und Bewegungsfreiheit der Vereinten Streitkräfte (VSK) der WVO (S. 55).

Die Geschichte des DDR-Mobilmachungssystems gliedert Mühle in drei Phasen (S. 57f.). Der Aufbau erster grundlegender Strukturen erstreckte sich über die gesamten 1950er- und 1960er-Jahre und fand seinen formalen Abschluss mit der 1969 erlassenen Mobilmachungsordnung des Ministeriums für Nationale Verteidigung (S. 82). Die Jahre 1970 bis 1977 waren dann vor allem durch die Überprüfung und Überarbeitung des bestehenden Systems geprägt. So wurde 1972/73 das „System zur Gesamtführung der DDR im Verteidigungszustand“ überarbeitet (S. 134), 1975 der Mobilmachungsordnung für die Streitkräfte die „Mobilmachungssicherstellungsanordnung“ für die zivilen Verwaltungen und die Wirtschaft an die Seite gestellt (S. 144), während der 1977 nach jahrelanger Vorbereitung an mehr als 400.000 Reservisten ausgegebene „Einberufungsbefehl M“ die offene Mobilmachung deutlich vereinfachte (S. 151–153). In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren richtete sich das Augenmerk primär auf die Mobilmachung des zivilen Bereiches im Rahmen eines umfassenden gesamtstaatlichen Mobilmachungssystems. Die Anfang der 1980er-Jahre beginnende dritte Phase ist schließlich durch die „immer weitreichendere Einbeziehung des zivilen Bereichs sowie durch die fortschreitende Verfeinerung und angestrebte Flexibilität des Systems“ (S. 58) gekennzeichnet.

In Kapitel 3 werden die drei Kernbereiche der Mobilmachungsvorbereitung näher untersucht. Hier erhält man zunächst detaillierte Informationen über die Arbeit der Wehrkreiskommandos, Einberufungsmodi und immer wieder auftretende Probleme.

Bemerkenswert sind aber vor allem die umfangreichen Vorbereitungen zur Sicherstellung der Operationsfreiheit, die im Wechselspiel mit den Übungsserien für Staats- und Parteifunktionäre „MEILENSTEIN“ und „MEISTERSCHAFT“ sukzessive erweitert wurden. Die zugrunde gelegten Szenarien trugen geradezu apokalyptische Züge. So rechnete „MEISTERSCHAFT 87“ auch ohne Kernwaffeneinsatz bis zum 10. Kriegstag mit 500.000 Toten, dem großflächigen Zusammenbruch der Lebensmittel- und Energieversorgung sowie der Zerstörung von 80 Prozent der Eisenbahn- und 40 Prozent der Straßenbrücken (S. 246). Um unter diesen Bedingungen die geforderte Operationsfreiheit der VSK auch nur ansatzweise sichern zu können, wurde unter anderem auf die Dopplung der Verkehrsinfrastruktur gesetzt. Dazu wurden seit den 1960er-Jahren Umfahrungen, Rochadestrecken und vor allem Brückendoublierungen vorbereitet. Stand 1988 waren für Oder/Neiße sechs und für die Elbe drei Brücken vorbereitet, die aus eingelagertem Material binnen weniger Tage errichtet werden sollten (S. 252). Für die Zeit, in welcher die Brücken nicht zur Verfügung stehen würden, wurden Fähren und Zeitweilige Umladeräume (ZUR) vorbereitet (S. 263). Besondere Bedeutung kam dabei den zivilen Spezialformationen (ZSF) zu, welche auf Basis ziviler Betriebe für Logistik- und Bauaufgaben vorgesehen waren.

Die Vorbereitung von Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zielte bei den zivilen Funktionären zunächst einmal auf die „Anerziehung von kriegsbezogenem Denken und Handeln“ (S. 339). Hinzu kamen materielle und administrative Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung der Führungsfähigkeit unter Kriegsbedingungen sowie die „Berechnungs- bzw. B-Arbeit“ (S. 322) nebst Erstellung von „B-Plänen“ und Einlagerung von Materialreserven, mit welcher die Material- und Arbeitskräftebewirtschaftung für den Kriegsfall vorbereitet wurde.

Schließlich betrachtet Mühle im 36 Seiten starken Kapitel 4 am Beispiel des Bezirks Frankfurt/Oder und des Kreises Fürstenwalde noch einmal die konkreten Planungen sowie die damit verbundenen Belastungen für Gesellschaft und Wirtschaft in einem spezifischen Gebiet der DDR.

Die 39-seitigen Schlussbetrachtungen nutzt Mühle vor allem für ein „Vermessen des Militärischen“ (S. 430) in der DDR. Während sein qualitativer Befund, wonach der Einfluss militärischer Aspekte weit in den zivilen Bereich hineinreichte und im Zuge der Mobilmachungsvorbereitungen die „Ressorthoheiten ziviler Ministerien und vergleichbarer Verwaltungsinstitutionen […] nachhaltig durch militärische Agenturen geschwächt“ wurden (S. 436), ohne weiteres plausibel ist, hängt Mühles quantitative Beweisführung seltsam in der Luft. Obwohl er selbst explizit darauf verweist, dass es für die Quantifizierung des Militärischen keine bestimmten Skalenwerte gebe, die vorliegenden Zahlenangaben aus der DDR mit den gängigen Rankings der Friedensforschungsinstitute nicht kompatibel seien und er auch nicht die Gegebenheiten in anderen Staaten – etwa der Bundesrepublik Deutschland – als „Gegenproben“ heranziehen könne (S. 437), referiert Mühle noch einmal auf fast 20 Seiten das zum großen Teil bereits bekannte Zahlenmaterial. Allein, es fehlt ein überzeugender Bewertungsmaßstab. Es mag ja sein, dass das Sicherheitsbedürfnis der SED-Führung übersteigert und ihr Zugriff auf zivile Ressourcen in Vorbereitung auf die Fährnisse eines Krieges zwischen NATO und WVO „die Maße des Vertretbaren“ (S. 24) überschritten hat. Allerdings stellt sich dann auch die Frage, wie eine angemessene Vorbereitung auf die wahrscheinlichen Kriegsszenarien hätte aussehen sollen. Die von Mühle aus den Mobilmachungsvorbereitungen abgeleitete Charakterisierung der DDR als „Un-Friedensstaat“ erscheint so eher als bemühte Polemik, als dass sie wirklich zu überzeugen vermag.

Insgesamt hinterlässt die vorliegende Arbeit einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen handelt es sich unstrittig um eine verdienstvolle Pionierarbeit, welche das Mobilmachungssystem der DDR in seiner ganzen Komplexität und gesamtgesellschaftlichen Dimension erstmals in den Blick nimmt. Dabei bietet sie nicht nur detaillierte Einblicke, sondern räumt auch mit einigen Mythen auf. So wurden zwar für die Aufstellung der am Ende fünf Mobilmachungsdivisionen lediglich 48 Stunden benötigt. Bis diese aber tatsächlich einsatzbereit waren, bedurfte es noch mehrtägiger Übungen, um die notwendige Geschlossenheit der Einheiten herzustellen (S. 113). Zum anderen weist die Arbeit deutliche Schwächen auf. Mühle tut sich mit der Komplexität seines Forschungsgegenstandes erkennbar schwer. Die gewählte Gliederung bedingt vermeidbare Redundanzen und erschwert eine stringente sowie übersichtliche Darstellung. Reserven gibt es auch bei der sprachlichen Gestaltung. Hier ist vor allem der sperrige, nicht selten bis an die Grenzen des grammatikalisch Möglichen gehende Satzbau zu nennen. Mitunter fragt man sich, ob Mühle auch tatsächlich meint, was er schreibt. Da werden ideologische Muster von SED-Funktionären „rezitiert“ (S. 46) oder die Sowjetunion beendet den „Kriegszustand[es] mit der DDR“ (S. 67). Ein gründliches Lektorat hätte sich jedenfalls gelohnt.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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