Unternehmerfamilien wecken innerhalb der historischen Forschung erst seit jüngerer Zeit ein erhöhtes, die Teildisziplinen übergreifendes Interesse. Die damit verbundene größere thematische Bandbreite kommt etwa in der Schriftenreihe zur Familie Thyssen im 20. Jahrhundert zum Ausdruck: So findet sich unter den zehn familien-, kultur- und unternehmensgeschichtlichen Bänden auch eine Arbeit von Johannes Gramlich zu den Thyssens als Kunstsammler.1 Ines Heisigs publizierte Saarbrücker Dissertation über die Unternehmerfamilie Heyl im deutschen Kaiserreich nimmt diese thematische Vielfalt auf. Allerdings sieht die Autorin im Kunstsammeln nur einen kleinen Ausschnitt der Aktivitäten im Bereich der Kulturförderung, welche die Familie vor und nach ihrer Erhebung in den Adelsstand betrieb. Heisigs Hauptanliegen ist es zu zeigen, dass die Unternehmerfamilie Kulturförderung „als Distinktionsmittel und Bestandteil einer vielseitigen Strategie nutzte, um sich in die kaiserzeitliche Elite zu integrieren und etablieren, in der weiterhin aristokratische Leitbilder dominierten“ (S. 31). Hierbei spielte das mittelstädtische Milieu – konkret Worms im damaligen Herzogtum Hessen – eine entscheidende Rolle.
Heisigs Arbeit gliedert sich in insgesamt fünf Kapitel. In der Einleitung – dem ersten Kapitel – plädiert die Autorin dafür, Kulturförderung im wilhelminischen Kaiserreich nicht als spezifisch „bürgerlich“, sondern als „Kernbestandteil einer strategischen Prestigepolitik“ (S. 4) zu verorten, einem Feld, auf dem Adel und Wirtschaftsbürgertum kooperierten. Die von Gramlich postulierte These einer bürgerlichen Neudeutung der Kunst lehnt sie ab und geht stattdessen von einem „rationalen und selbstbewussten Aufbau von Adelsnähe“ aus (S. 11). In methodischer Hinsicht folgt Heisig unter anderem den Kapitalsorten Bourdieus und fragt, inwieweit es der Familie gelang, „eine Gegengabe für ihre Geschenke“ (S. 22) zu erhalten.
Bevor sie sich dem Schauplatz Worms widmet, stellt die Autorin im zweiten Kapitel am Beispiel der europäischen Metropolen Paris, London, Mailand, Rom und nicht zuletzt Berlin das Mäzenatentum und Kunstsammeln „als adlig-bürgerliche Elitenpraxis“ (S. 33) vor. Auf diesem internationalen Parkett bewegte sich die Familie Heyl mit wachsender Zielsicherheit und verstand es augenscheinlich, ihr gewonnenes Erfahrungswissen mit dem in der rheinischen Provinz Machbaren abzugleichen.
Im dritten Kapitel arbeitet Heisig überzeugend die Sogwirkung ökonomischen Kapitals heraus, ohne die das Volumen der Heylschen Kulturförderung nicht vorstellbar gewesen wäre. So schuf Johann Cornelius Heyl III. durch die Gründung einer Lederfabrik Mitte der 1830er-Jahre in Worms und die Produktion des international begehrten Lackleders einen prosperierenden Betrieb, der bereits Ende der 1860er-Jahre mehr als 1.000 Beschäftigte zählte. Die Fabrik mehrte nicht nur den Wohlstand der Familie, sondern erleichterte auch die Ansiedlung weiterer Lederfabriken in Stadt und Region. Der von Heisig aufgestellte Betriebsgrößenvergleich der Jahre 1875 bis 1895 (vgl. S. 97) hätte die stürmische Entwicklung des Heylschen Unternehmens noch etwas anschaulicher gemacht, wenn auch überregionale Beispiele einbezogen worden wären. Schließlich zählten neben Worms auch Offenbach sowie Mülheim an der Ruhr zu Hochburgen der deutschen Lederindustrie. Mülheim rühmte sich Mitte der 1920er-Jahre, Deutschlands Lederstadt Nummer 1 zu sein, allerdings arbeiteten die etwa fünfzig dortigen Gerbereien zumeist mit einer wesentlich geringeren Belegschaft.
Die Dynamiken in der Kulturförderung sind eng mit der Enkelgeneration des Gründers verbunden. Cornelius Wilhelm Heyl, ab 1862 Führungsfigur des Unternehmens und zugleich als Nationalliberaler vielerorts politisch aktiv, unterstützte zunächst ausschließlich auf der innerbetrieblichen Ebene Bildungs- und Kulturangebote wie Büchereien und Gesangsvereine. Seine Frau Sophie, die aus einer Privatbankiersfamilie stammte, engagierte sich als unter anderem Gründerin von Frauenvereinen und inventarisierte die stetig wachsende Kunstsammlung. Freilich sollten die geschaffenen Einrichtungen – der Systemlogik des Kaiserreichs entsprechend – die Beschäftigten von der Sozialdemokratie und die Frauen der Gesellschaft von emanzipatorischen Bestrebungen fernhalten.
Das vierte Kapitel widmet sich dann in unterschiedlicher Ausführlichkeit den Feldern der Kulturförderung, auf denen die Familie in mehr als einhundert Projekten in den öffentlichen Raum hineinwirkte: die Unterstützung kirchlicher Projekte und Stiftungen, der Ausbau der städtischen Infrastruktur, der Einsatz für Denkmalinitiativen, die Initiierung von Musik- und Theaterveranstaltungen sowie die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Ein wirkmächtiges Beispiel für das Engagement der Heyls, das Heisig als „Spektakel“ (S. 257) bezeichnet, wird gleich zu Beginn geliefert: Als ein Rheinhochwasser zur Jahreswende 1882/83 in Worms und Umgebung das Hab und Gut eines Teils der Bevölkerung vernichtet hatte, organisierte die Familie eine Benefizveranstaltung der besonderen Art. Sie inszenierte ein „Lebendes Bild“ aus dem Nibelungenzyklus des Historienmalers Peter von Cornelius. Sophie Heyl persönlich trat als Königstochter Kriemhild auf, während der Wormser Kreisrat Maximilian von Gagern die Heldenfigur Siegfried verkörperte. Anschließend lud man zum Empfang in den Heylshof. Nach Einschätzung Heisigs sollte diese Aufführung nicht nur die Wohltätigkeit der Heyls und deren Anerkennung durch den Adel unterstreichen, sondern auch die „Geschichtslosigkeit der Unternehmerfamilie“ (S. 259) kaschieren. Zwar schreibt sich das Historische in diesem Familientypus mit jeder vollzogenen Nachfolge fort. Doch offenbar strebten die Heyls nach anderen Zeithorizonten, die ihnen ein dynastisches, das heißt idealerweise bis in das Mittelalter zurückgehendes Gepräge bescheren sollten. 1886 verlieh ihnen Großherzog Ludwig IV. von Hessen dann tatsächlich den Freifrauen- und Freiherren-Titel „von Heyl“. Das sogleich beauftragte Familienwappen diente später auch als Vorlage für das Firmenlogo. Das Verhalten der Unternehmerfamilie im Umfeld der Naturkatastrophe kann insofern als finaler Nobilitierungsbeschleuniger gesehen werden. Ebenso gelang die Umwandlung des investierten ökonomischen Kapitals in soziales und symbolisches Kapital. Dennoch, so betont Heisig, war diese Entwicklung „nur möglich, weil sich die nobilitierte Generation auf die Leistungen und vielseitigen Etablierungsstrategien von mindestens drei Vorgängergenerationen stützen konnte“ (S. 390).
Ines Heisigs Arbeit zeichnet sich durch ihre Thesenstärke (einschließlich ihrer vehementen Ablehnung der Feudalisierungsthese) und die Vielfalt des verarbeiteten Quellenmaterials aus. Hierzu zählt auch eine aktualisierende Kommentierung des Inventars Sophie Heyls zur Kunstsammlung, die im Anhang des Buchs zu finden ist. Dank der Detailtreue liegt ein tiefenscharfes Bild einer nach Worms zugewanderten Aufsteigerfamilie vor, die gerade auch nach der lang ersehnten Nobilitierung mit Hingabe um den Erhalt ihres Statusgewinns rang. Denn die Satirepresse im Kaiserreich überzog die Familienoberhäupter mit Hohn und Spott. Sophie von Heyl selbst sah in lokalen Adelsanwärtern, noch dazu aus der Lederindustrie, eine, wie sie 1890 ihrem Mann schrieb, „ekelhafte Concurrenz – der wir aber noch viel ekelhafter sind – das ist wenigstens famos“ (S. 207).
Bisweilen beeinträchtigen Redundanzen – insbesondere bei biografischen Informationen – den Lesefluss. So weist die Autorin an zwei Stellen in Kapitel 3 (S. 82, 129) nahezu wortgleich darauf hin, dass Cornelius Wilhelm Heyl seinen ersten Vornamen als junger Mann von seinem früh verstorbenen älteren Bruder übernahm, um damit auch namentlich seinen Anspruch zur Fortführung der Dynastie zu unterstreichen. Da Heisig das Kapitel 3 mit Kurzporträts der vier Generationen einleitet und später ausführlich auf die Biografie von Cornelius Wilhelm Heyl eingeht, hätte sich hier eine Verschlankung angeboten. Gleichwohl ist der Vorgang bemerkenswert: Denn durch die Namensänderung sollte auch das Bekenntnis der noch bürgerlichen Familie zum adeligen Nachfolgeprinzip der Primogenitur sichtbar hervortreten.
Zweifellos waren die (von) Heyls nicht die einzige Unternehmerfamilie des wilhelminischen Kaiserreichs, die mithilfe von Wohltätigkeit, Kulturförderung, „herrschaftlichen“ Wohnsitzen, der dynastischen Namensgebung ihrer Nachkommen und anderer Instrumente den Weg in die aristokratisch geprägte „gute Gesellschaft“ suchten. Allerdings beeindrucken die gut dokumentierte Systematik, Persistenz und auch Penetranz, mit der die Familie dieses Ziel über Jahrzehnte verfolgte. Im abschließenden fünften Kapitel – der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse – wirbt Heisig dafür, dass künftige Arbeiten anhand eines internationalen Vergleichssamples „sozialer Aufsteiger“ weitere Eigenheiten der wirtschaftsbürgerlich-adeligen Kulturförderung im 19. Jahrhundert herausarbeiten könnten. Möglicherweise ließen sich diesem Sample dann auch Beispiele altadliger Unternehmerfamilien gegenüberstellen. Hier wäre zu prüfen, inwieweit Kulturförderung ohne das Sehnen nach Statusgewinn vor beziehungsweise ohne das Sorgen um Statusverlust nach der Nobilitierung womöglich anders aussah. In jedem Fall wird die Arbeit von Ines Heisig der künftigen Adels-, Bürgertums-, Eliten- und Mäzenatentumsforschung wichtige Denkanstöße geben.
Anmerkung:
1 Johannes Gramlich, Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900–1970), Paderborn 2015.