Eine interdisziplinäre Perspektive auf den Nationalsozialismus (NS) und seine Nachgeschichte kann die historische Forschung bereichern. In diesen Kontext ist die Dissertation von Maria Anna Willer einzuordnen, die einen ethnologisch-anthropologischen Ansatz verfolgt. Um es vorwegzunehmen, dies ist im vorliegenden Fall nach Ansicht der Rezensentin nicht gelungen.
Im Werk geht es – anders als der Titel suggeriert – vor allem um die Verfolgung von Minderheiten, die anhand von Spruchkammerunterlagen und Entschädigungsakten untersucht wird. Dass diese Akten erst nach 1945 und mit unterschiedlichen Zielrichtungen entstanden, wird von Maria Anna Willer nicht problematisiert. Ergänzt werden die Quellen durch zeitgenössische Zeitzeugeninterviews (S. 42). Im Wesentlichen ist das Werk an den Fallbeispielen der Verfolgung entlang strukturiert, die Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, politische Gegner, Widerstandskämpfer, Opfer des Patientenmordes und der Zwangssterilisierung betreffen, ebenso Missliebige und Unangepasste, die in die Mühlen der Vernichtung des NS-Regimes gerieten. Ein Kapitel zur „Ausgrenzung“ auf Verwaltungs- und Dorfebene leitet diesen Teil ein. Im nächsten Kapitel werden anhand der sogenannten „Arisierung“ und der sozialen Kontrolle viele allgemein anerkannte Tatsachen über die NS-Diktatur ausgebreitet, deren Bezug zum eigentlichen Thema von geringer Bedeutung ist. Der bürokratische Umgang mit der Haft im Konzentrationslager (KZ) und Tod (S. 139) war kein Spezifikum der Kommunalverwaltung im Priental. Das größte Kapitel thematisiert die oben erwähnte Verfolgung der Minderheiten im Dorf.
Methodisch orientiert sich Maria Anna Willer an der soziologischen Grounded Theory Method (gegenstandsverankerte Theorie), die Erhebung und Analyse empirischer Daten als Grundlage für die Entwicklung neuer Theorien nutzt (S. 15). Zum ethnologisch-anthropologischen Ansatz Willers gehört, die Selbstreflexion der Forschenden samt „Forschungstagebuch“ immer wieder ins Zentrum zu rücken (S. 13, S. 45, S. 47, S. 48), inklusive penetrant vorgetragener Selbstbeobachtung beziehungsweise des Umfeldes der Forschung (S. 52). Für Historiker, die dem Credo des „De nobis ipsis silemus“ folgen, ist es irritierend, auch da Willer den Zweck dieser Vorgehensweise nicht deutlich macht. Der Mehrwert der Grounded Theory Method erschließt sich der Rezensentin nicht, da die Analyse von Quellen vor der Formulierung weitreichender Thesen der klassischen Vorgehensweise von Historikern entspricht.
Die Selbststilisierung kristallisiert sich vor allem bei der Diskussion des sogenannten Schubarchivs der Gemeinde Aschau heraus, das laut Willer „unentdeckt“ und „geheim gehalten“ (S. 35, S. 47), ja „verschwiegen“ (S. 61) war, bis sie sich mit der Thematik der Dissertation beschäftigte (S. 61). Wer länger in Archiven gearbeitet hat, weiß, dass angesichts personeller und räumlicher Engpässe die Erschließung der Akten nicht immer optimal sein kann – die „Entdeckung“ des Archivs schreibt sich Willer mit großem Selbstbewusstsein auf ihre Fahnen, verwendet aber gleichwohl wenig Mühe auf dessen Auswertung. Ebenso wird die relevante Chiemgau-Zeitung nur in der Presseausschnittssammlung genutzt. Dass die Überlieferung defizitär ist (S. 35), dürfte kein Spezifikum für das Untersuchungsobjekt sein, ebenso die vom Archiv geforderte Anonymisierung von Personendaten. Generell stellt sich die Frage, inwiefern der primär historische Untersuchungsgegenstand als ethnologische Feldforschung zu qualifizieren ist, da sich Willer bewusst gegen die Methoden der historischen Anthropologie entschieden hat.
„Das Dorf“ (Hohen- und Niederaschau und Sachrang im Priental, wo 1933 rund 2.250 Menschen lebten) war keineswegs die klassische Ansammlung von Bauernhöfen, Kirche und Gasthaus, sondern ebenso pittoreske Kulisse des Fremdenverkehrs wie hochkomplexer Mikrokosmos mit adeligen Anwohnern wie der Familie Cramer-Klett, mit einem Schloss, das 1942 an das Deutsche Reich verkauft wurde, einem Marine-Erholungsheim und einem NS-Jugendlager, dem „Übungslager Hohenaschau“. Diese Entwicklung war unter anderem Resultat eines seit Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Tourismus, der traditionelle Ortschaften im südlichen Oberbayern dauerhaft transformierte. Nicht zuletzt wegen dieser touristischen Infrastruktur lebte hier eine durchaus prominente Mischung von Personen, beispielsweise der Generalstabschef des Heeres Franz Halder (S. 297), außerdem nicht wenige glühende Unterstützer Hitlers wie die Journalistin Ray Beveridge (S. 53) oder Hitlers Mitputschist von 1923, Hermann Kriebel, der 1941 in Niederaschau ein Staatsbegräbnis erhielt. Während des Kriegs vermehrte sich die Bevölkerungszahl durch Evakuierte sowie Zwangsarbeiter, die in verschiedenen kleineren Lagern oder auf Bauernhöfen untergebracht waren.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erfordert umfangreiches Vorwissen. Leider sind die Defizite von Maria Anna Willer hier offensichtlich. Zunächst insistiert sie auf einem, um es vorsichtig zu sagen, unglücklichen Referenzrahmen. Willer bezieht sich vor allem auf die Holocaust-Forschung, unter anderem auf Raul Hilberg und Zygmunt Bauman, wobei ihr selbst klar ist, dass dies wenig sinnvoll ist (S. 30), da in den von ihr untersuchten Ortschaften weder Massenmorde stattfanden noch Konzentrationslager oder Rüstungsprojekte existierten. Auch, dass nicht alle NS-Verbrechen unter das Thema Holocaust zu subsumieren sind und dass die steten Vergleiche mit Ghettos (S. 20) und Völkermord in den besetzten Gebieten (S. 21, S. 59) für die drei Orte im bis Kriegsende unzerstörten Chiemgau weder passend noch zielführend sind, fällt negativ auf. Bedenklich ist, dass die Gutachter – vielleicht selbst in Unkenntnis des Forschungsfeldes – hier nicht moderierend eingegriffen haben.
Hinzu kommt, dass „der Nationalsozialismus“ gerade für das südliche Oberbayern nicht auf die zwölf Jahre zu begrenzen ist, sondern einen oft bereits 1920 beginnenden Vorlauf mit lokalen Ortsgruppen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) oder Einheiten der Sturmabteilung (SA) hatte. Hinzu kamen Einwohnerwehren, völkische Organisationen oder Unterstützer wie der Bund Oberland (S. 111–113). Damit konnte der Nationalsozialismus eine deutlich längere Wirkungsmacht entfalten als andernorts, wo erst die Weltwirtschaftskrise der NSDAP zu größerer Reichweite verhalf. Die Forschung zur NSDAP-Wähler- und Mitgliedschaft – beispielsweise von Jürgen Falter – findet keine Berücksichtigung, sonst wäre Willer aufgefallen, dass die Mitgliederzahl der NSDAP vor Ort dem reichsweiten Schnitt weitgehend entsprach (S. 75). Im „Übungslager Hohenaschau“ auf dem Cramer-Klett’schen Grundstück gaben sich NS-Täter ein Stelldichein, ohne dass dies von Willer kommentiert oder eingeordnet wird. Zwar weiß sie mit dem später in Landsberg hingerichteten SS-Gruppenführer Dr. Karl Gebhardt (S. 110) etwas anzufangen, doch der weniger bekannte Ministerialdirektor Dr. Walter Schultze1 (S. 107) bleibt unkommentiert. Ebenso tummelten sich hier – von Willer unerkannt – die späteren Deportationsspezialisten – der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes in den Niederlanden, Dr. Wilhelm Harster, der ab den späten 1950er-Jahren eine Karriere beim Bayerischen Innenministerium machte, und sein Freund, der „Judenreferent“ Wilhelm Zoepf2 (S. 107).
Nicht immer glücklich ist die Sprache: So wird das Dorf als eine „Face-to-Face“-Gesellschaft bezeichnet, wobei unklar ist, inwiefern dieser Sprachgebrauch treffender als die deutsche Entsprechung ist. Beklagenswert ist, dass die Bibliographie lückenhaft wirkt; zahlreiche neuere, absolut einschlägige Publikationen werden ebenso ignoriert wie grundlegende Handbücher.3 Maria Anna Willer hat sich mit einem anthropologisch-ethnologischen Ansatz auf ein von der historischen Forschung gerade in den letzten Jahren intensiv beackertes Feld gewagt. Ihre Arbeit zeigt, dass interdisziplinäre Forschung nur gelingen kann, wenn die Erkenntnisse und Methoden der unterschiedlichen Disziplinen rezipiert und gewinnbringend miteinander verbunden werden.
Anmerkungen:
1 Dr. Walter Schultze war Ministerialdirektor der Gesundheitsabteilung im Bayerischen Innenministerium. Wegen seiner Beteiligung am Krankenmord wurde er 1948 zu drei Jahren Gefängnis wegen Beihilfe zum Totschlag verurteilt. Das Urteil wurde nicht rechtskräftig, 1971 wurde das Verfahren gegen ihn wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Vgl. hierzu Staatsarchiv München, Staatsanwaltschaften 19051/1–11.
2 Vgl. Christian Ritz, Schreibtischtäter vor Gericht. Das Verfahren vor dem Münchner Landgericht wegen der Deportation der niederländischen Juden (1959–1967), Paderborn 2012.
3 Beispielsweise bleiben ohne Erwähnung: Julia Boyd / Angelika Patel, A village in the third Reich. How ordinary lives were transformed by the rise of fascism, London 2022; Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV, Das Neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Erster Teilband. Staat und Politik, 2. Aufl., München 2003; ders. (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV, Das Neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart. Zweiter Teilband. Innere Entwicklung und kulturelles Leben, 2. Aufl., München 2007.