N. Wheatley: The Life and Death of States

Cover
Titel
The Life and Death of States. Central Europe and the Transformation of Modern Sovereignty


Autor(en)
Wheatley, Natasha
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S., 2 Karten
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Homann, Institute for International Peace and Security Law, Universität zu Köln

Fragen nach der Rechtsnachfolge von Staaten und ihren Verhältnissen zu untergegangenen Kolonialreichen oder Imperien stellten sich nach 1918 und 1945 als intrikate, kaum lösbare Fragen. Es überrascht weder, dass zu ihrer juristischen Bearbeitung auf das Völkerrecht zurückgegriffen wurde, noch, dass dabei Ideen von Juristen aus der (zerfallenden) Habsburger Monarchie aufgegriffen wurden. Allerdings hatten diese Juristen bereits vor dem Ende der Monarchie Probleme, deren Staatlichkeit genau zu definieren. Schon in einer Zeit, in der an seiner faktischen Existenz keinerlei Zweifel bestand, war die juristische Einordnung von Österreich-Ungarn als Staat intensiv diskutiert worden, wollte jedoch nicht recht gelingen. Dies ist die These der in Princeton lehrenden Historikerin Natasha Wheatley. Mit ihrem Buch liefert sie mehr als einen substanziellen Beitrag zur Rechtsgeschichte des Habsburger Reiches. Es gelingt ihr, die politische Entwicklung der Doppelmonarchie mit parallelen Entwicklungen innerhalb der Rechtswissenschaft zu verbinden und aufzuzeigen, wie sich beide Bereiche gegenseitig bedingten und weit über die Staatsgrenzen hinaus Bedeutung erlangten.

Die ersten beiden Kapitel widmen sich der verfassungsrechtlichen Bestimmung der doppelten Souveränität, welche die Kronen Österreichs und Ungarns vereinte. 1848 hatte der Reichstag von Kremsier (Kroměříž) den Entwurf einer ersten österreichischen Verfassung (Pillersdorfsche Verfassung) vorgelegt, 1849 erließ Kaiser Franz Joseph ohne Mitwirkung des Reichstags eine Folgeverfassung. Wie Wheatley zeigt, wurde diese Situation zum Ausgangspunkt einer intensiven Debatte, die zeitgenössische Juristen in den folgenden Jahrzehnten führten. Insbesondere diskutierten sie, welches staatsrechtliche Verhältnis österreichische, ungarische, tschechische, rumänische, italienische und weitere Gebiete zum Gesamtstaat hatten und welche Folgen sich daraus jeweils für das rechtsphilosophische Konstrukt Staat ergaben.

Wheatley erschließt keine bisher unbekannten Archivquellen, sondern liefert vor allem eine Neuinterpretation bekannter Dokumente, darunter die Protokolle des Verfassungsausschusses von 1848. Damit setzt sie gerade nicht bei der Konstruktion von Nation im Vielvölkerstaat mit seinen Minderheiten(-rechten) und den daraus resultierenden Konflikten an, die bereits Gegenstand umfassender Forschung waren.1 Sie verortet das Problem vielmehr auf der Ebene des Staatsrechts und der Rechtsphilosophie, deren Begrifflichkeit sich die K. u. k.-Monarchie zunächst entzogen habe. Wurde bis 1848 kein Verfassungsrecht gelehrt, habe die nun einsetzende vertiefte juristische Beschäftigung mit der eigenen Staatlichkeit die Universitäten in „hothouses of research in public law“ (S. 10) verwandelt.

Anders als das britische Empire, das von den Habsburger Juristen als Prototyp eines Kolonialreichs betrachtet wurde, bestand das „Austrian-Hungarian Empire“, wie Wheatley es immer wieder nennt, nicht aus einem Mutterland und zahlreichen Kolonien. Als zusammengesetztes Reich wurde es von einem König (von Ungarn) sowie einem Kaiser (von Österreich) in Personalunion beherrscht, was die juristische Kategorisierung ungleich komplizierter machte. Wheatley fächert die rechtliche Diskussion chronologisch auf, wobei sie auf den Jahrhundertwechsel und damit den Wirkungszeitraum ihrer Hauptakteure zusteuert. Sie zeigt divergierende juristische Versuche auf, den Staat zu erklären, denn es galt in der Rechtswissenschaft als ausgemacht, diesen als absolute Quelle des Rechts zu interpretieren. Doch wie konnte es überhaupt sein, dass ein Staat ein Rechtssystem hervorbrachte, das ihn nicht erklärte?

Im ideenhistorisch ausgerichteten Teil ihrer Studie folgt Wheatley den rechtstheoretischen und -philosophischen Anstrengungen, die Idee des „Staates“ im Habsburger Reich und in der jungen österreichischen Republik (weiter) zu entwickeln. Wie sie danach in den Kapiteln 4 und 5 anhand persönlicher und akademischer Netzwerke der beteiligten Juristen aufzeigt, spiegelten sich in den dabei verhandelten rechtlichen Schwierigkeiten auch die politischen Probleme der Doppelmonarchie. Sie rekonstruiert dafür die Beziehungen zwischen den Professoren und praktisch wirkenden Juristen Friedrich Tezner, Georg Jellinek und Hans Kelsen, die bis heute zu den einflussreichsten Denkern im juristischen Bereich gehören. Ihre Wege kreuzten sich zwischen 1890 und 1920 unter anderem in Wien und Heidelberg.

Gemäß Wheatleys Ansatz changiert ihre Analyse zwischen Ausführungen zu den rechtstheoretischen Überlegungen ihrer Protagonisten und biografischen Elementen. Insbesondere der Beitrag Tezners zur Rechtstheorie werde bis heute in der juristischen Rezeption unterschätzt, weil er aufgrund antisemitischer Anfeindungen immer wieder am Lernen, Lehren und Forschen gehindert und daher erst mit fast 60 Jahren zum Ordentlichen Professor in Wien berufen worden sei. Im Hinblick auf die Staatlichkeit des Habsburger Reiches stellte Tezner dessen Status als Völkerrechtssubjekt heraus. Ihm zufolge galt demnach als Staat, wer im internationalen Rechtsverkehr als ein Rechtssubjekt auftritt – unabhängig von inneren Unklarheiten des Gebildes.

Im Gegensatz dazu dürfte die „Drei-Elemente-Lehre“, die Jellinek entwickelte, den meisten deutschsprachigen Jurist:innen bekannt sein. Demnach ist einem Gebilde dann Staatsqualität zuzusprechen, wenn es über ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und effektive Staatsgewalt nach innen und außen verfügt. Außerdem zeige sich die Souveränität des Staates darin, dass dieser sich Prozessen des „self-binding“ und der „autolimitation“ (S. 171) unterwerfe, also wirksam Souveränität und Kompetenzen abgeben könne. Wenn die Rechtswissenschaft als Wissenschaft ernst genommen werden wolle, so folgerte Jellinek außerdem, sei sie auf logische Kohärenz angewiesen, da ihr die empirische Falsifizierbarkeit fehle.

Sein Schüler Hans Kelsen griff den Faden an dieser Stelle auf und entwickelte eine abgeschlossene „Reine Rechtslehre“, die bis heute untrennbar mit seinem Namen verbunden ist. Die strikte neukantianische Trennung von „Sein“ und „Sollen“ – Kelsen verortet das Recht vollständig auf der „Sollen-Seite“ – verlangt dem Recht ab, von allen Belangen der realen Welt – besonders der Moral – zu abstrahieren und allein logische Kohärenz zu erzeugen. Neu ist bei Kelsen, dass Staat und Recht nicht mehr kategorisch getrennt werden und ersterer nicht mehr konstitutiv für das Recht ist. Wheatley resümiert: „Perhaps we should not be surprised that making sense of the state from this corner of the world required nothing less paradoxical than a stateless state theory.“ (S. 172) Und weiter: „The ‘constructions’ of jurists were literally constructive: they not only made sense of the law – in so doing, they made the state itself.“ (S. 176). Kelsens Abkehr vom Staat als einziger Quelle des Rechts und die Fokussierung auf logische Kohärenz innerhalb des Rechtssystems eröffnete neue Möglichkeiten, den österreichisch-ungarischen Staat zu greifen – nämlich als Teil eines Gesamtsystems juristischer Begriffe, nicht jedoch als dessen Ausgangspunkt.

Mit dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches 1918 waren die Juristen mit neuen grundlegenden Fragen von Souveränität und Legitimität konfrontiert: Können Staaten sterben? Und wie können neue Staaten entstehen? Wenn der Staat nicht die Quelle allen Rechts ist, kann Recht auch vor und nach dem Staat existieren. Doch existiert das Recht damit in einem undefinierten Raum? Wheatley zeigt, wie Kelsen, der ab 1917 in Wien lehrte, und seine Schüler in der Zwischenkriegszeit einen eigenständigen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisteten, indem sie zu Jellineks Elementen ein viertes – nämlich die zeitliche Dimension – hinzufügten und damit die Sterblichkeit zum wesenseigenen Merkmal von Staaten erklärten. Die Gründung eines neuen Staates könne somit ihre Legitimität nicht aus dem alten (oder gar dessen Verfassung) ziehen. Aus Figuren des Internationalen Rechts – beispielsweise dem Selbstbestimmungsrecht der Völker – könne sich Souveränität ergeben. Die Regeln, nach denen Staaten enden und neue Staaten gegründet werden können, müssten demnach über-staatlich, also international festgelegt werden. Damit, so Wheatley, sei in der Entwicklung von Tezner über Jellinek bis zu Kelsen das Primat des Staates zugunsten des Völkerrechts geopfert worden.

In der Ersten Österreichischen Republik, in der Kelsen 1919 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs wurde, erlangte der bahnbrechende rechtstheoretische Wandel nun auch praktische Relevanz. Das Zerbrechen der Habsburger Monarchie ebenso wie der Untergang des Osmanischen Reiches und die Entstehung ihrer Nachfolgestaaten konnten mit dem neuen zeitlichen Element gefasst werden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Phase der Dekolonisierung – und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeigte sich, wie wichtig die zeitliche Dimension von Staatlichkeit ist. Wheatley zufolge stellt sie bis heute ein wichtiges Argument dar, um neue Staaten zu fordern und zu gründen.

Wheatleys Arbeit macht sichtbar, dass Fragen der Rechtskontinuität eminent politisch und historisch bedingt sind. Juristische Kategorien und logische Systeme, in denen sie verhandelt werden, sind Ausdruck konkreter divergierender Erfahrungen und Interessen. Sie zeigt, dass die Zugänge der von ihr ausgewählten Juristen – entstanden im Kontext des habsburgischen Mitteleuropas – bis in die Gegenwart hinein in der Lage sind, Fragen der nationalen Souveränität, der imperialen Staatennachfolge und des Selbstbestimmungsrechts der Völker aufzuschließen. Auch wenn es wenig leserfreundlich ist, dass auf ein separates Literaturverzeichnis verzichtet wird, ist das Buch uneingeschränkt zu empfehlen. Es handelt sich um eine ausgesprochen anregende und innovativ gearbeitete Studie, in der die Bereiche des Rechts, der Politik und der Geschichte plausibel miteinander verbunden und neue Perspektiven für die weitere Beschäftigung mit dem Habsburger Reich und seinen (juristischen) Hinterlassenschaften erschlossen werden.

Anmerkung:
1 Vgl. insbesondere: Jana Osterkamp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2020; Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München 2017. Vgl. die dazugehörige Rezension von Klemens Kaps / Oliver Kühschelm, in: H-Soz-Kult, 17.04.2018, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25848 (27.06.2024). Einen guten Überblick über die aktuelle Forschung gibt auch der Bericht über die Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsschreibung der Universität Wien „Re-Reading the Habsburg Monarchy. New Approaches between Empire, State and the Global“ (Dezember 2022) von Daniel Gunz, in: H-Soz-Kult, 21.03.2023, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-134565 (27.06.2024).

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