Die Diskussion um die Anwendung von Losverfahren in der Politik ist seit einigen Jahren voll im Gange. Entscheidungen durch Zufall werden insbesondere als Mittel zur Bekämpfung von Legitimitätskrisen in modernen Demokratien erwogen. Dabei dient oft das klassische Athen als historisches Beispiel, um die Wirksamkeit und Bedeutung der Verfahrensweise zu unterstreichen.1 Allerdings ist in der Antike weder ausschließlich in Athen noch auf den politischen Kontext beschränkt gelost worden, sondern auch in der Kultpraxis, im Sport, in der Kriegsführung oder bei Eigentumsfragen. Nun sind gleich zwei Bücher erschienen, die sich systematisch mit dem Losverfahren in der griechischen Antike auseinandersetzen. Die bisherige Forschung ergänzen sie dadurch, dass sie erstmals mit einer polisübergreifenden Perspektive das gesamte Spektrum an Losverfahren in Gesellschaft und Politik berücksichtigen.2 Eines davon ist das hier zu besprechende Werk von Aaron Gebler, eine leicht überarbeitete Fassung seiner Dissertation, mit der er an der Universität Leipzig im Dezember 2022 promoviert wurde.
Gebler möchte in seiner Untersuchung klären, wann, wie und warum in der griechischen Welt des 7.–5. Jh. v. Chr. gelost wurde und wie die Beteiligten den Entscheidungsmodus deuteten (S. 26f.). Die Einleitung (Kapitel I, S. 13–28) enthält neben der Diskussion von Forschungsgeschichte, Quellenlage und Methodik eine hilfreiche Einführung zu den Begrifflichkeiten, die das Losen in den antiken Quellen bezeichnen. Die weitere Struktur der Arbeit orientiert sich an den einzelnen Bereichen, in denen die Praxis des Losens genutzt wurde. Dies betrifft Militär und Kriegsführung, wobei Gebler auch Übereinkünfte wie Spondai, Symmachien und Koina in diese Kategorie aufnimmt (Kapitel II, S. 29–81), Religion (Kapitel III, S. 82–131), Verteilung von Land und Erbe (Kapitel IV, S. 132–150), Agonistik (Kapitel V, S. 151–166) und Politik (Kapitel VI, S. 167–260). In diesen Kapiteln analysiert Gebler die institutionellen Erscheinungsformen des Losens und die Entwicklung in den einzelnen Bereichen, darüber hinaus auch Schicksalsvorstellungen, bei denen das Losverfahren eine Rolle spielte. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und übergeordnete Fragestellungen diskutiert (S. 261–278). Es folgen die üblichen Verzeichnisse (S. 279–302) und ein knappes Quellenregister (S. 303–310); ein Sachregister fehlt.
In seiner Studie identifiziert Gebler eine Vielzahl an Situationen, in denen gelost wurde. Diese reichen von der Vergabe politischer Ämter über die Befragung von Losorakeln bis zur Verteilung von Aufgaben zwischen gleichrangigen Befehlshabern, um nur wenige Beispiele zu nennen. Allerdings gelangt Gebler in seiner Untersuchung auch zu einigen Negativbefunden: So ist zum Beispiel die Anwendung des Losverfahrens bei der Organisation von kriegerischen Zweikämpfen jenseits der homerischen Epen nicht belegt, die Distribution von Kriegsbeute per Los lässt sich ebenfalls nur für die archaische Zeit feststellen. Die Nutzung des Verfahrens im Kontext des Delisch-Attischen Seebundes, den Gebler neben dem Boiotischen Bund betrachtet, um die Bedeutung des Losens im Rahmen von Symmachien und Koina zu erörtern, lässt sich überhaupt nicht bezeugen. Die Gründe für die Anwendung des Losverfahrens variierten je nach Kontext, wie Gebler verdeutlicht. Beispielsweise konnte das Ziehen des Loses vor einem Publikum während der musischen Agone einen dramatischen Effekt erzeugen, im militärischen Bereich die fehlenden Hierarchien innerhalb des auf Gleichheit basierenden athenischen Strategenkollegiums ersetzen, geradezu eine praktische Notwendigkeit in der Kriegsführung. In der Kultpraxis konnte das Los als Ausdruck göttlichen Willens religiöse Legitimität verleihen, im Sport bei der Vergabe von Startpositionen allgemeine Nachvollziehbarkeit und damit Akzeptanz erzeugen. Im politischen Bereich sorgte das Los für Gleichheit und bewirkte die Streuung politischer Verantwortung. Dies gilt im Übrigen, wie Gebler zeigen kann, auch für oligarchische Regime, die zumindest innerhalb der herrschenden Gruppe die Möglichkeit des Losens vorsahen. Gebler arbeitet jedoch auch übergeordnete Gründe heraus, die letztlich in allen Bereichen eine Rolle spielten: Das Losverfahren diente vor allem der Minimierung von Konfliktrisiken durch die Auslagerung von Entscheidungen auf eine neutrale, unpersönliche Ebene. Überdies bot das Losen die Möglichkeit, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, da Ergebnisse ohne potenziell aufwendige Deliberation erzielt werden konnten. Eine weitere wichtige Erkenntnis Geblers, mit der er sich von einem Teil der Forschung abhebt, ist, dass Entscheidungen per Los vor allem im politischen Bereich nicht grundsätzlich als Ausdruck eines göttlichen Willens verstanden wurden, wie etwa die intellektuelle Kritik an der Anwendung des Verfahrens nahelegt (zum Beispiel in den Dissoi Logoi). Vielmehr scheint hier – als Beispiel dient die athenische Demokratie – die möglichst breite Partizipation des Demos das ausschlaggebende Motiv gewesen zu sein. Klug bemerkt Gebler (S. 269), dass die religiöse Deutung des Losverfahrens eine göttliche Legitimation des einzelnen Amtsträgers impliziert hätte, die sich jedoch nicht mit den vorherrschenden Gleichheitsvorstellungen vertrug. Dem ist zuzustimmen, zumal sich der athenische Demos die Überprüfung und Kontrolle des einzelnen Amtsträgers durch Dokimasie und Euthynie dezidiert als Hoheitsrecht vorbehielt. Folgerichtig lehnt Gebler den in Teilen der Forschung vertretenen Standpunkt ab, wonach das Losverfahren aus der religiösen Praxis in die Politik übertragen wurde. Dies ist auch deshalb überzeugend, weil, wie Gebler in seiner Untersuchung feststellt, die Vergabe von Priesterschaften per Los erst in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. belegt ist, als das Verfahren bereits zur Auswahl von Amtsträgern und Ratsmitgliedern genutzt wurde. Viel eher ist also eine umgekehrte Dynamik zu vermuten, wonach bestimmte Priesterschaften mit voranschreitender Egalisierung aus politischen Gründen per Los vergeben wurden.3 Gebler schlägt schließlich vor, den Ursprung des politischen Losens im militärischen Bereich zu suchen, da dort strukturell ähnliche Entscheidungsfindungen stattfanden (S. 271f.).
Gebler hat eine handwerklich solide Studie zu einem Thema von großer historischer und aktueller Relevanz vorgelegt. Die Arbeit ist klar strukturiert und gut lesbar, die Forschung ist breit und fair rezipiert. Es findet eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den Quellen statt, und zwar über die gängigen Gattungsgrenzen hinweg (Literatur, Epigraphik, Archäologie). Den starken Fokus auf Athen kann man Gebler trotz des formulierten Anspruchs einer gesamtgriechischen Betrachtung nicht zum Vorwurf machen, schließlich ist der athenische Fall exzeptionell gut dokumentiert. Dort, wo Quellenarmut vorherrscht, versucht Gebler, mit hypothetischen Szenarien und Experimenten Abhilfe zu leisten: So wird zum Beispiel die Funktionsweise (einer archäologisch nicht überlieferten) Losmaschine aus Holz, wie sie im 5. Jh. v. Chr. zum Einsatz gekommen sein könnte, anhand eines selbstgebauten Modells getestet (S. 226–228; 231f., Abb. 1–5). Dieser Umgang mit der zum Teil unbefriedigenden Quellenlage wäre an sich lobenswert, wenn Gebler davon absehen würde, auf dieser unsicheren Basis allgemeingültige Schlüsse für den griechischen Raum zu ziehen. So beruht Geblers Ergebnis, dass Losverfahren im antiken Griechenland bei der Aushandlung von Spondai eine Rolle spielen konnten (S. 262), vorwiegend auf Hypothesen, jedoch nur auf einem einzigen belegten Fall im gesamten Untersuchungszeitraum, nämlich den bei Thukydides (5,21,1) überlieferten Modalitäten des Nikiasfriedens, wonach Athener und Spartaner losten, wer zuerst die Kriegsgefangenen und die besetzten Poleis zurückzugeben habe (S. 71–73). Dem anspruchsvollen Ziel, sich dem Losverfahren in seiner ganzen Anwendungsbreite zu widmen (S. 15), wird Gebler so zwar gerecht. Doch hätte die Untersuchung, die sich über lediglich 266 Textseiten erstreckt, durchaus weiteren Raum vertragen, um einige Aspekte tiefergehender zu untersuchen. Beispielsweise bleiben Geblers Überlegungen zur Frage, wie sich der Wandel in der Finanzierung von Kriegen im 5. Jh. v. Chr. auf die Anwendung des Losverfahrens bei der Beuteverteilung auswirkte, oberflächlich (auf einer Seite abgehandelt: S. 34). Hier hätte sich Gebler eingehender mit den Bemühungen des athenischen Demos auseinandersetzen müssen, die Modalitäten der Kriegsführung der vorherrschenden politischen Ideologie zu unterwerfen und den militärischen Sieg, ja sogar den Tod auf dem Schlachtfeld symbolisch zu vereinnahmen. Auch eine Ausweitung des nach unten recht willkürlich begrenzten Untersuchungszeitraums hätte sich angeboten. Gebler betont zwar in der Einleitung, dass die Quellen „den Rahmen und zugleich die Grenze der Untersuchung definieren“ (S. 20). Gleichzeitig verwendet er aber an vielen Stellen Schriften aus dem 4. Jh. v. Chr., zuvorderst die pseudo-aristotelische Athenaion Politeia, die neben der archaischen und hochklassischen Zeit vor allem für das 4. Jh. v. Chr. Informationen zur Anwendung des Losverfahrens in Athen bereithält (im systematischen Teil: Ath. pol. 42–69). Die Berücksichtigung des 4. Jh. v. Chr. wäre also durchaus möglich gewesen – und sinnvoll:4 Erstens hätte der dokumentarische Reichtum dieser Zeit dort unterstützende Vergleiche ermöglicht, wo Gebler auf Hypothesen angewiesen und mit Unsicherheiten konfrontiert ist. Ein Beispiel wäre etwa die Debatte um die Anwendung des Losverfahrens im Kontext der athenischen Trierarchie in der ersten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. (S. 49–52). Gebler hätte hier der Diskussion des für die historische Analyse in vielerlei Hinsicht problematischen Themistokles-Dekretes (SEG 22,274 = ML 23) durch die Hinzunahme von zuverlässigen Dokumenten spätklassischer Zeit mehr Substanz verleihen können (zum Beispiel [Demosth.] or. 47 oder IG II² 1604–1610). Zweitens sind die Entwicklungen in der athenischen Politik im 4. Jh. v. Chr. für die Beurteilung des Losverfahrens selbst von großer Bedeutung. Dort lässt sich nämlich beobachten, dass Wahlen bei der Bestellung von Amtsträgern gegenüber dem Losverfahren an Bedeutung gewannen. Dies deutet auf einen Wandel der politischen Kultur hin, zu der auch eine veränderte Disposition der Athener zur Anwendung dieses Entscheidungsmodus gehörte. Die zeitgleich noch im philosophischen Diskurs (zum Beispiel bei Aristot. pol. 1294b 7–9) vertretene Zuordnung von Wahlen an oligarchische, von Losungen an demokratische Ordnungen entsprach offenbar immer weniger der vorherrschenden politischen Mentalität innerhalb des athenischen Demos.5 Die hier genannten Einschränkungen sollten jedoch nicht davon abhalten, Geblers Buch zu Rate zu ziehen. Im Gegenteil: Wer sich mit dem in der Antike so wichtigen Losverfahren auseinandersetzen möchte, findet in der Studie einen geeigneten Ansatzpunkt.
Anmerkungen:
1 Vgl. z. B. Hubertus Buchstein, Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Theorie und Gesellschaft 70, Frankfurt am Main 2009; Yves Sintomer, Petite histoire de l’expérimentation démocratique. Tirage au sort et politique d’Athènes à nos jours, Paris 2011; Sebastian Scheffel, Mit dem Losverfahren die Demokratie retten?, in: FAZ.NET, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/buergerbeteiligung-mit-dem-losverfahren-die-demokratie-retten-16268760.html (04.09.2024).
2 Neben dem zu rezensierenden Buch: Irad Malkin / Josine Blok, Drawing Lots. From Egalitarianism to Democracy in Ancient Greece, New York 2024.
3 Dazu: Stephen D. Lambert, A Polis and its Priests. Athenian Priesthoods before and after Pericles’ Citizenship Law, in: Historische Zeitschrift 59/2 (2010), S. 143–175.
4 Dieses Versäumnis betrifft im Übrigen auch die Untersuchung von Malkin / Blok, Drawing Lots.
5 Zu dieser Entwicklung siehe Nicolai Futás, Von der Liturgie zur Euergesie. Die Transformation der athenischen Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr., Vestigia 79, München 2024, S. 339–351; S. 356–360.