Andreas Renner hat endlich eine deutschsprachige Geschichte der Suche nach der Nordostpassage vorgelegt. Bislang gab es dazu nur großformatige Bildbände, die bestenfalls Aspekte der jahrhundertelangen Suche nach der legendären Passage dargelegt haben.1 Allerdings erhebt auch Renners Monographie keinen Anspruch darauf, wissenschaftlich ausgerichtet zu sein. Vielmehr ist sein Werk, das im Mareverlag erschienen ist, eher essayistisch und populärwissenschaftlich angelegt. Dementsprechend werden nur Zitate mit Literaturverweisen belegt. Dafür gibt es für jedes Kapitel ausgewählte weiterführende Literaturangaben.
In der Einleitung nimmt Renner die Leserschaft mit auf eine Kreuzfahrt entlang der skandinavisch-sibirischen Küste bis in den Pazifik, wobei die Faszination dieser legendären Schiffspassage immer wieder anklingt. In einer lockeren Chronologie folgen dann Kapitel zu den bekanntesten Entdeckungsfahrten und Entdeckern des arktischen Seewegs wie Hugh Willoughby und Richard Chancellor, die sich im Auftrag der englischen „Muscovy Company“ in der Mitte des 16. Jahrhunderts erstmals auf die Suche nach einem Schiffsweg entlang der russischen Küste machten. Natürlich dürfen auch Willem Barents Expeditionen in den 1590er-Jahren nicht fehlen. Deutlich herausgestellt wird dabei die Schwierigkeit in die Karasee hineinzugelangen, die sich den Ruf als „Eiskeller der Arktis“ (S. 18) erwarb und lange Zeit eine weitere Erkundung der Nordostpassage verhinderte.
Geschickt verknüpft der Autor die weitere Eroberung Sibiriens im 17. Jahrhundert im Landesinneren mit dem vorübergehenden Stopp der weiteren Erkundung des Seewegs. Zar Michail Fedorovič ließ sogar den vielversprechenden Hafen von Mangaseja im Mündungsgebiet des Ob schließen, um das weitere Vordringen englischer und niederländischer Händler entlang der Küste zu unterbinden. Vorgeblich wollte der Zar verhindern, dass die Ausländer Steuerabgaben an Moskau umschifften; de facto sollte so die territoriale russische Oberherrschaft an der entlegenen Küstenlinie nicht gefährdet werden.
Erst im 18. Jahrhundert begann eine neue Phase der intensiven Erforschung der sibirischen Küstenlinie und einer potentiellen Schiffsroute unter Zar Peter I. Zunächst wollte der Zar durch die Erste Kamtschatkaexpedition klären, ob eine Passage von der Arktis in den Pazifik überhaupt möglich war oder eine asiatisch-amerikanische Landverbindung diese verhindern könnte. Anschließend geht Renner auf diese zweite große Kamtschatkaexpedition und deren Erforschung der sibirischen Küsten ein. Er beschreibt eindringlich die jahrelangen Strapazen der einzelnen Expeditionsgruppen, welche die großen Flüsse hinabgeschickt wurden, um von deren Mündungen aus die Küste in beide Richtungen zu kartographieren. In diesem Kapitel ist ausführlich die Rede von Vitus Bering, dem aus Dänemark stammenden Leiter der beiden Expeditionen. Sehr wenig erfährt man dagegen über Berings Stellvertreter Aleksej Čirikov. Der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller, der Bering auf seiner Überfahrt nach Alaska begleitete, wird überhaupt nicht erwähnt. Hier wird Renners Konzept sehr deutlich, sich stark auf die Suche nach der Passage entlang der sibirischen Küste zu konzentrieren, die Entdeckung Alaskas und die Erkundung des Nordpazifiks, die für die Frage nach einem nördlichen Schiffsweg ebenfalls relevant sind, werden dagegen zurückgestellt. So wird auch die Billings-Saryčev Expedition am Ende des 18. Jahrhunderts, die Katharina II. initiiert hatte, nur kurz erwähnt.2
Dafür werden die ersten russischen Expeditionen, die 1765/66 unter Kapitän Vasilij Čičagov direkt in arktische Gewässer führten, intensiver dargestellt. Der russische Universalgelehrte Michail Lomonosov hatte Katharina II. von dem politischen und ökonomischen Potential eines nördlichen Seewegs überzeugen können, wobei er von einer eisfreien Passage in Höhe des 80. Breitengrades träumte. Čičagovs Entdeckungsfahrten zeigten allerdings, wie gefährlich der arktische Ozean war. Er musste unverrichteter Dinge nach Archangelsk zurückkehren, ohne nennenswerte Entdeckungen gemacht zu haben. Danach unterblieben für lange Zeit russische Expeditionen in die Arktis.
Im 19. Jahrhundert erfolgten dann stärker ökonomisch motivierte Vorstöße, um die Schiffsroute für den Abtransport von Rohstoffen aus Sibirien nutzbar zu machen. Allen voran träumte der aus Hamburg stammende Wilhelm Brandt davon, den Schifffahrtsweg für eine Besiedlung der sibirischen Küste zu nutzen. Er finanzierte 1832 eine Expedition unter der Leitung von Petr Pachtusov, der zum ersten Mal die Matotschkin-Straße, welche die Doppelinsel Nowaja Semlja trennt, durchfuhr. Doch nach Brandts Tod im gleichen Jahr verebbte das Interesse an seinen weitläufigen Plänen.
Neue Bewegung kam in die Suche nach der Passage durch die neue Technologie der Dampfschifffahrt, die sich der finnisch-schwedische Entdecker Adolf Erik Nordenskiöld auf seiner legendären ersten Durchfahrt der Nordostpassage mit seiner „Vega“ 1878 zunutze machte. Kurz vor der Einfahrt in den Nordpazifik fror sein Schiff ein, aber Nordenskiöld war so gut ausgerüstet, dass die Überwinterung für ihn und seine Mannschaft kein Problem darstellte. Anschaulich schildert Renner, wie die indigenen Tschuktschen immer häufiger zum Schiff kamen und Nordenskiöld erstaunt feststellen musste, dass sie besser Englisch als Russisch sprachen, weil sie häufiger Kontakt zu amerikanischen Walfängern als zu Russen hatten.
Doch auch nachdem die Passage nun erstmals geglückt war, sei die russische Regierung zu dem Schluss gekommen, dass die Route aus ökonomischer Sicht nicht profitabel genug und zu unsicher war. So dauerte es bis in die Sowjetzeit hinein, bis durch den Bau von Eisbrechern die Erforschung der Arktis plötzlich wieder in den Fokus der Regierung und vor allem Stalins rückte. In dem Kapitel über die sowjetischen Expeditionen unter der Leitung des zum „Helden der Arktis“ aufgestiegenen Wissenschaftlers Otto Schmidt in den 1930er-Jahren zeigt Renner meisterhaft, wie das Interesse an der Arktisforschung am Ende der 1930er-Jahre erlosch und in Stalins Terror unterging. Am Ende musste Schmidt um sein Leben fürchten: Er trat als Leiter des berühmten Arktisinstituts in Leningrad zurück und überlebte Stalins Terrorjahre als eine der wenigen populären Persönlichkeiten der damaligen Zeit. Zuvor hatte der Diktator die technologischen Fortschritte und die erste Durchfahrt der Passage ohne Überwinterung durch den Eisbrecher Sibirjakov 1932 noch als Zeichen für die Überlegenheit des Sozialismus feiern lassen. Noch mehr öffentliches Interesse hatte die dramatische Rettung von Schmidt und seiner Mannschaft per Flugzeugen 1934 erregt, nachdem sie bei einer missglückten Fahrt auf dem Frachter Čeljuskin im Eis eingefroren waren und monatelang auf einer Eisscholle ausgeharrt hatten.
Der nächste Meilenstein in der weiteren Nutzung der Schiffsroute erfolgte dann durch den Bau der ersten atomar betriebenen Eisbrecher in den 1950er-Jahren. Das neue Statussymbol der Sowjetunion, die „Lenin“, befuhr die Route bis 1989, hatte aber oft mit technischen Problemen zu kämpfen. Ihre verbrauchten Brennstäbe wurden vor Nowaja Semlja im Meer versenkt. Hier zeigt sich symbolträchtig die enge Verknüpfung der ökonomischen Entwicklung und den ansteigenden ökologischen Problemen. Wilhelm Brandts Traum wird wahr, zunehmend werden Frachtschiffe und Tanker eingesetzt, um Rohstoffe aus Sibirien abzutransportieren. Dank des Klimawandels wird der sogenannte „Nördliche Seeweg“ zudem immer einfacher zu befahren sein. Diese Zusammenhänge zeigt Renner am Ende seines Buches deutlich auf und auch die juristischen Auseinandersetzungen über die Nutzung der arktischen Rohstoffe werden ausführlich erwähnt. Er schließt sein Werk mit Hinweisen zur aktuellen Politik Putins, der mehrfach die Ausbeutung der Rohstoffe am Boden des Nordpols für Russland beansprucht hat. Gleichzeitig wird auch auf Chinas Investitionen in der Region – etwa durch den Bau des LNG (Liquefied Natural Gas) -Terminals in Sabetta in der Ob-Mündung – hingewiesen.
Insgesamt gesehen legt Andreas Renner eine anregende, aber sehr stark komprimierte Übersicht über die Suche und die Entwicklung der Nordostpassage vor, die deutlich zeigt, wie schwankend das Interesse an dieser Schiffsroute war und wie stark dabei ökonomische sowie imperiale Interessen zusammenspielten, während die ökologischen Probleme von der russischen Regierung weitestgehend ausgeblendet werden. Illustriert wird das Buch mit zahlreichen Karten, die allerdings nicht extra aufgeführt werden.
Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Helfried Weyer, Nordwest- und Nordost-Passage. Der Traum vom nördlichen Seeweg, Hamburg 2006.
2 Vgl. hierzu Diana Ordubadi, Die Billings-Saryčev-Expedition 1785–1795. Eine Forschungsreise im Kontext der wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens, Köln 2016.