„So ist die neue Frau?“, fragen Sabine Kienitz und Angelika Schaser im Titel ihres Buches über Hamburgerinnen in den 1920er Jahren. Damit weisen sie direkt auf die programmatische Ausrichtung des Werkes hin. Die Autorinnen kritisieren, dass die historische Forschung zu Frauen in der Weimarer Republik häufig noch auf dem Klischee der Neuen Frau beruhe.1 Während junge, gut gebildete Frauen aus höheren Schichten (und meist in Berlin lebend) den Typus der sogenannten Neuen Frau repräsentieren, möchten sie dieses Bild jedoch erweitern und differenzieren, indem sie den Blick auch auf die „durchschnittlichen“ Frauen richten (S. 13). Darum verfolgen Kienitz und Schaser zusätzlich etwa die Spuren älterer und weniger gut ausgebildeter Frauen. Zudem verlagern sie den regionalen Fokus von Berlin nach Hamburg, der zweitgrößten Stadt des Deutschen Reiches. Diese zentrale Handels- und Kolonialmetropole bot Frauen einerseits „neue Handlungs- und Experimentierfelder“ sowohl im Berufs- als auch im Kulturleben (S. 21). Ausschlaggebend dafür waren die stabile Regierung sowie die demokratisch eingestellte und reformwillige Führung der Bürgerschaft und des Senats der Hansestadt. Andererseits waren trotz dieser Voraussetzungen auch in Hamburg misogyne Einstellungen präsent, die die Handlungsspielräume von Frauen weiterhin einschränkten.
Der Anspruch des Buches ist es, die Perspektiven und Erfahrungen von Frauen in Hamburg in den 1920er Jahren zu rekonstruieren und dabei ihr Leben facettenreicher darzustellen. So sollen „neben den bekannten Sonnenseiten ebenso die Schatten- und Halbschattenseiten im Alltag der Weimarer Republik in den Vordergrund rücken“ (S. 7). Neben dem Vorhaben, das Frauenbild zu differenzieren, untersuchen Kienitz und Schaser mit ihrer lokalgeschichtlichen Perspektive „erstmals für Hamburg […], wie in den 1920er Jahren die Vorstellungen von gleichberechtigter Teilhabe und rechtlicher Eigenständigkeit im politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Alltag eingefordert, konkret umgesetzt und gelebt wurden“ (S. 14).
Den Kern der Publikation bilden sieben voneinander unabhängige und eigenständige Kapitel. Kienitz und Schaser stellen Frauen vor, die in den Bereichen Sozialpädagogik, Lehramt, Justiz, Gesundheitswesen, Schankwirtschaft und Varieté tätig waren. Überraschend ist, dass der traditionelle Frauenberuf der Weimarer Republik schlechthin, die Angestellte – sei es als Bürokraft oder Verkäuferin – nicht in diesem Buch repräsentiert wird. Dies könnte daran liegen, dass das Werk keine altbekannten Klischees reproduzieren möchte. Auch wenn die Figur der weiblichen Angestellten kein Klischee ist, liegt zu dieser Berufsgruppe bereits viel Forschung vor, und gerade sie prägte das Bild der Neuen Frau in der Öffentlichkeit.2 Jedoch wäre für diesen Beruf die Gegenfolie Hamburg besonders interessant gewesen, da häufig Berlin der Untersuchungsort ist. Allerdings weisen die Autorinnen auf die kritische Quellenlage hin. Die Auswahl der Arbeitsbereiche beruht vor allem darauf, welches Quellenmaterial in den Hamburger Archiven zu finden war – etwa Akten des Oberverwaltungsgerichts in Hamburg, Personal- und Entnazifizierungsakten, Unterlagen der Gewerbepolizei oder der Gesundheitsbehörde. Deshalb kritisieren die Autorinnen, dass sich die Marginalisierung von Frauen bereits in den Aktenbeständen zeige.
Da häufig das Material für einen systematischen Zugriff fehlt, basieren die Darstellungen meist auf der exemplarischen Analyse von Einzelfällen, erläutern Kienitz und Schaser. Nach einführenden Texten bilden biografische Skizzen den Schwerpunkt der Kapitel. Anhand dieser sollen unter Rückgriff auf die vorliegende Literatur allgemeinere Rückschlüsse gezogen werden. Dieses Vorhaben funktioniert in manchen Kapiteln sehr gut, in anderen weniger. Stets lebt das Buch jedoch von der akribischen und detailreichen Archivrecherche. Die Biografien sind dicht an den Quellen und geben so lebhafte Eindrücke in den Alltag der Frauen.
Im ersten Kapitel etwa, das sich mit dem Meldeschein als Ausdruck weiblicher Emanzipation beschäftigt, gelingt das Wechselspiel aus nahen Quellenbeschreibungen und verallgemeinerten Analysen exzellent. Anhand des Meldescheins als behördlichem Identifikationsnachweis geht Kienitz – die einzelnen Kapitel sind jeweils von einer der beiden Autorinnen verfasst – der „praktisch-historischen Frage [nach], wie Sprache in den Alltag von Frauen in den 1920er Jahren eingriff und dabei politische Handlungsspielräume öffnete oder begrenzte“ (S. 25). Sie schildert die Kämpfe um Anerkennung lediger Frauen und Mütter, die den Titel „Frau“ und nicht länger „Fräulein“ tragen wollten. Trotz der schwierigen Recherchelage kann die Autorin hier quellengesättigt die verschiedenen Beweggründe darlegen, warum diese Hamburgerinnen die privilegierte Anrede Frau für sich beanspruchten. Beispielsweise gaben ledige Mütter an, dass ihre unehelichen Kinder unter der Anrede leiden würden oder sie Probleme bei der Stellen- und Wohnungssuche hätten. Ledige Frauen ohne Kinder wollten auch ihre Vorstellung einer vollwertigen Staatsbürgerin durch den Titel ausdrücken; insbesondere ältere ledige Frauen erhofften sich mehr Respekt durch die Anrede „Frau“. Verheiratete Frauen hingegen besaßen bis Mitte der 1920er Jahre keinen eigenen Meldeschein, sondern wurden als Angehörige auf dem ihres Mannes geführt. Dadurch wurden Frauen in vielen ihrer Rechte – zum Beispiel dem Wahlrecht – beschnitten, wenn sie den Meldeschein des Ehemanns nicht vorweisen konnten. Kienitz zeichnet zudem das Handeln der Hamburgischen Bürgerschaft nach, bis es Mitte der 1920er Jahre verheirateten Frauen möglich wurde, einen eigenen Meldeschein zu beantragen. So schafft sie es auf Grundlage der vorgestellten Biografien, essenzielle Aussagen über Repräsentation und Handlungsfähigkeiten von Frauen in der Weimarer Republik zu treffen.
Weniger Abstraktion bietet beispielsweise das Kapitel über Schankwirtinnen. Hier bleiben die Darstellungen eng an die Lebensläufe der einzelnen Protagonistinnen gebunden, ohne übergeordnete Schlussfolgerungen zu ziehen. Trotzdem sind die Lebensgeschichten reich an Erkenntnissen über den Alltag in Hamburg, nicht nur von Frauen, sondern der gesamten Bevölkerung. Einen informativen Einblick in die Entwicklung des Feldes der Sozialen Arbeit anhand des lokalen Beispiels zeigt das Kapitel über die Soziale Frauenschule und das Sozialpädagogische Institut in Hamburg. 1916 nur für Frauen gegründet, musste sich das Institut ab 1923 auch für Männer öffnen. Schaser gelingt es, auf dieser Quellengrundlage den Segregationsprozess des Berufsfeldes nachzuzeichnen und deutlich zu machen, wie der ursprüngliche Frauenberuf der sozialen Arbeit zu einem weiblichen Beruf unter männlicher Führung wurde.
Ein abschließendes Kapitel wäre gewinnbringend gewesen, um den in der Einleitung aufgeworfenen Fragen noch einmal systematischer nachzugehen. Besonders im Hinblick auf die eingangs geäußerte Kritik am Klischee der Neuen Frau wäre es hilfreich gewesen, aufzuzeigen, wie die Ergebnisse für das lokale Beispiel Hamburg das Verständnis dieser Figur konkret erweitern und verändern können. Damit diversifiziert das Buch das Wissen über Frauenleben und weibliche Erwerbsarbeit in der Weimarer Republik, gibt aber keine Hinweise für konzeptionelle Neuausrichtungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Ohne eine theoretische oder methodische Rahmung und bewusst auf üppige Literaturangaben in den Kapiteln verzichtend, hat das Werk den Charakter eines wissenschaftlichen Lesebuches. Damit ist es ansprechend auch für ein Publikum ohne fachwissenschaftlichen Hintergrund, da weiterführende Hinweise zum vertieften Lesen einladen und viele farbige Quellenabbildungen den Rechercheprozess eindrucksvoll illustrieren. Damit stellt das Buch sowohl optisch als auch sprachlich eine gelungene und detailreiche Erweiterung der Frauengeschichte der Weimarer Republik dar, indem es weibliche Lebensrealitäten nachzeichnet, die in der Forschung bisher weniger repräsentiert waren.
Anmerkungen:
1 In der Forschung wird bereits seit den 1990er-Jahren diskutiert, inwieweit der Typus der Neuen Frau der Realität oder doch eher einem Wunsch- oder Zerrbild entsprach. Petra Bock etwa spricht von einem „soziale[n] Habitus“ der Neuen Frau, der als Image sowohl Identifikations- als auch Abgrenzungsmöglichkeiten schuf, vgl. Petra Bock, Zwischen den Zeiten. Neue Frauen und die Weimarer Republik, in: dies. / Katja Koblitz (Hrsg.), Neue Frauen zwischen den Zeiten. Ein studentisches Projekt an der FU Berlin in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1995, S. 14–37, hier S. 15. Vertreterinnen dieses neuen Frauenbildes waren vor allem im Bildungsbürgertum zu finden, aber auch junge Angestellte versuchten ihm nachzueifern. Der Großteil der Bevölkerung berief sich jedoch weiterhin auf das tradierte bürgerliche Geschlechtermodell des Kaiserreichs. Vgl. etwa Kirsten Heinsohn, „Grundsätzlich“ gleichberechtigt. Die Weimarer Republik in frauenhistorischer Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018), S. 39–45; Kerstin Wolff, Frauenrechte in der Weimarer Republik. Endlich gleichberechtigt?, in: Perspektiven ds 2 (2019), S. 47–56.
2 Vgl. etwa Ute Frevert, Vom Klavier zur Schreibmaschine. Weiblicher Arbeitsmarkt und Rollenzuweisung am Beispiel der weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik, in: Annette Kuhn / Gerhard Schneider (Hrsg.), Frauenrechte und die gesellschaftliche Arbeit der Frauen im Wandel. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studien zur Geschichte der Frauen, Düsseldorf 1979, S. 82–112; Ellen Lorentz, Aufbruch oder Rückschritt? Arbeit, Alltag und Organisation weiblicher Angestellter in der Kaiserzeit und Weimarer Republik, Bielefeld 1988.